Einleitung
Für die Versorgung der unteren Extremität bei neurologischen Erkrankungen ist ein grundlegendes Verständnis des jeweiligen Krankheitsbildes, einhergehend mit der Kenntnis und der Fähigkeit zur Analyse typischer pathologischer Gangabweichungen und deren Ursachen essenziell. Insbesondere bei zentralnervösen Störungen wie Schlaganfall, Multipler Sklerose, (Infantiler) Zerebralparese oder Schädel-Hirn-Trauma liegt ein zusätzlicher Fokus auf der Tonusregulation und dem Spastikmanagement. Neben klassischen Hilfsmitteln zur Mobilisierungsunterstützung wie Gehwagen oder Gehstöcken können orthopädische Hilfsmittel – von Einlagen über Schuhe bis hin zu komplexen Schienensystemen – zur Stabilisierung und Führung der unteren Extremität und somit zur Verbesserung der biomechanischen Belastungssituation in Stand und Gang eingesetzt werden. Etabliert haben sich darüber hinaus elektrische Fußhebersysteme, die per Ansteuerung der Äste des N. fibularis communis die Extensoren des Unterschenkels stimulieren und somit aktivieren.
Vor allem in den vergangenen zehn Jahren haben sich viele Medizinproduktehersteller und Wissenschaftler mit der Frage beschäftigt, ob die Funktionelle Elektrostimulation (FES) als neue Methode der Orthetik ebenbürtig ist oder sogar eine Verbesserung der Versorgung von Patienten mit isolierter Fußheberschwäche bedeutet 1 2 3 4 5. Die meisten Studien gelangen zu dem Ergebnis, dass eine FES gegenüber einer orthetischen Versorgung bezüglich des Patientennutzens zumindest gleichwertig ist. Zudem wird in vielen Studien von einer erhöhten Compliance und einer Verbesserung der sekundären Attribute wie Verhinderung von Atrophien, Verbesserung der Durchblutung, Erweiterung von Gehstrecke und Beweglichkeit, Reduktion der Sturzgefahr und Tonusregulation gesprochen.
Ein umfassender Vergleich sowie eine klare Abgrenzung dieser beiden unterschiedlichen Versorgungsansätze waren in der Vergangenheit für jede potenzielle Versorgung stets nötig. Doch innerhalb der letzten Jahre wurden immer mehr Versuche unternommen, die beiden Versorgungsmöglichkeiten gezielt zu kombinieren und die Vorteile beider Verfahren – Stabilisation von extern einerseits und Aktivierung körpereigener Ressourcen andererseits – zu nutzen. In diesem Artikel wird ein neues Versorgungskonzept vorgestellt, das die Kombination einer Orthese mit einer FES unabhängig von der klassischen Fußhebung ermöglicht und eine problemlose Integration in orthetische Versorgungen sicherstellt. Dabei werden die Vor- und Nachteile erörtert sowie die neuen Versorgungsmöglichkeiten anhand dreier Fallbeispiele diskutiert.
Grundsätze
Angesichts individueller Krankheitsbilder existieren sowohl in der Orthetik als auch in der Anwendung des neuen FES-Systems viele potenzielle Versorgungsmöglichkeiten. Daher gelten folgende Grundsätze 6 7 8 für die weitere Betrachtung:
- „So viel Unterstützung wie nötig – und nicht: so viel Unterstützung wie möglich.“ Das Ausmaß individueller Patientenversorgungen bzw. der damit verbundene Einsatz von Hilfsmitteln sollte sich stets auf das Wesentliche beschränken. Die Frage nach dem Wesentlichen hängt jedoch häufig vom jeweiligen Betrachtungsstandpunkt ab. Therapieziele und die daraus resultierenden Versorgungen sollten patientennah und gemeinsam im interdisziplinären Team definiert werden. Ergänzend dazu sollte der Patient auch motiviert und aktiv gefordert werden. Dabei sollte der Fokus primär auf die Steigerung seiner Lebensqualität und die Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit gelegt werden.
- „Ursache versus (Aus-)Wirkung.“ Für die fachgerechte Beurteilung und die anschließende Versorgung eines pathologischen, mit Defiziten belasteten Ganges ist die exakte Unterscheidung zwischen der (Haupt-) Ursache und den daraus resultierenden Auswirkungen essenziell. Zur Identifikation der primären Störung („Ursache“) sollte weniger das Offensichtliche oder Auffällige, sondern das jeweilige pathologische Gangbild als Gesamtsystem analysiert werden.
- „Use it or lose it.“ Diese Aussage gilt sowohl zeitlich als auch qualitativ und quantitativ. Die gezielte Aktivierung körpereigener Strukturen durch Elektrostimulation sollte schnellstmöglich erfolgen und eine adäquate orthetische Versorgung die nötige Möglichkeit zur physiologischen Wiederholung bieten. Durch zu geringe bzw. zu späte Unterstützung können pathologische Bewegungsmuster entstehen und sich etablieren; außerdem kann das Erlernen neuer bzw. das Wiedererlernen alter Bewegungen erschwert oder sogar unmöglich werden.
Orthesen
Unter Orthesen versteht man Schienen bzw. Apparate, die von extern an Gliedmaßen oder dem Rumpf angebracht werden. Charakteristische Hauptaufgaben sind Stabilisation, Entlastung, Führung, Korrektur, Mobilisation und Immobilisation sowie funktionale Unterstützung und Sicherheit. Neben dem Gewicht und den Abmaßen einer Orthese ist vor allem die Tatsache von Nachteil, dass die körpereigenen Strukturen damit nur passiv geführt bzw. gedehnt und nicht aktiv angesprochen werden.
Versorgungen können entweder aus vorkonfektionierten Orthesen oder aus der Gestaltung von Fußbett und/oder ‑schale, kombiniert mit dynamischen Elementen oder einstellbaren Systemgelenken, bestehen. Die dynamischen Elemente sorgen für eine externe Stabilisierung des Beines, lassen aber gleichzeitig auch notwendige mehrdimensionale Bewegungen zu.
Andere Systeme definieren einen fixen Drehpunkt in einem dem anatomischen Sprung- und/oder Kniegelenk angenäherten Gelenk. Durch anpassbare Federpakete kann die natürliche Stoßdämpfung unterstützt, ein plantarer/dorsaler Anschlag eingestellt und durch Komprimierung gespeicherte Energie zum Ende der Standphase in die Bewegung eingebracht werden.
Elektrostimulation
Allgemein wird unter Elektrostimulation die Reizung bzw. Anregung des menschlichen Körpers, insbesondere der Nerven, durch elektrische oder magnetische Felder verstanden. Im Folgenden wird auf die Aspekte „Funktion“, „Wirkung“ sowie „Indikationen und Voraussetzungen“ für den Einsatz von FES eingegangen.
Funktion
Aufgabe der FES ist die gezielte und kontrollierte Reizung der motorischen Nerven und Endplatten, um Muskelaktivität zu induzieren und somit Bewegungen auszuführen oder zu unterstützen. Über Oberflächen-Elektroden werden durch elektrische Pulse Aktionspotenziale ausgelöst, die anschließend – ähnlich den natürlichen Reizen – nerval weitergeleitet werden. Neben den Stimulationsparametern (Frequenz, Intensität und Pulsbreite) hat auch die Positionierung der Elektroden großen Einfluss auf die Art und Anzahl der aktivierten Muskelfasern bzw. auf die Stärke der Muskelkontraktion.
Wirkung
FES-Systeme nutzen im Gegensatz zur Orthetik körpereigene Strukturen (man spricht von „interner Ressourcennutzung“). Die externe Ansteuerung wirkt sich günstig auf die biomechanische Belastungskette, den Muskelzuwachs und somit direkt auf das damit verbundene Spastikmanagement aus. Die FES unterliegt im Gegensatz zu einem gelenkbezogenen Orthesensystem keinem festen Aufbau. Durch die Positionierung der Elektroden kann die FES individuell und patientenspezifisch eingesetzt werden und schnell und ohne Aufwand an ihrem Wirkungsort verändert bzw. angepasst werden.
Deutliche Nachteile sind eine mangelnde Selektivität und Effektivität der Reize mit Oberflächen-Elektroden und die Fokussierung auf lediglich eine Muskelgruppe. Zudem kann die isometrische Kontraktion (wie beim Stehen) nur zeitlich eingeschränkt unterstützt und spontane hohe Belastungen bzw. Kräfte nur begrenzt kompensiert bzw. abgefangen werden.
Indikationen und Voraussetzungen für die FES
Die FES kann prinzipiell überall dort eingesetzt werden, wo beim Patienten eine möglichst physiologische Bewegung erzielt werden soll, die ihm selbst jedoch nicht oder nur noch eingeschränkt möglich ist. Aus dem Funktionsprinzip der Elektrostimulation ergeben sich zwei wesentliche Voraussetzungen: Zum einen muss das untere Motoneuron des zu stimulierenden Muskels intakt sein (Stimulation über Elektroden). Eine direkte Stimulation der Muskelzellen kann meist nur als Unterstützung noch vorhandener Beweglichkeit genutzt werden, da sie weniger gezielt arbeitet und dafür hohe Energie aufgebracht werden muss (diese Variante wird daher im Folgenden nicht weiter betrachtet). Zum anderen muss der Patient eine ausreichend hohe Toleranz gegenüber der Stimulation zeigen, da vor allem durch transkutane Stimulation auch die Schmerzrezeptoren der Haut aktiviert werden, was als unangenehm bis schmerzhaft empfunden werden kann 9 10. Somit ergeben sich Einsatzmöglichkeiten für die FES vor allem bei vielen neurologischen Erkrankungen, bei denen zwar die Generierung und/oder die Weiterleitung von Reizen im zentralen Nervensystem gestört sind, Muskeln und Nerven des peripheren Nervensystems aber noch intakt sind. Aus diesem Grund ist die Behandlung von Patienten mit peripheren Lähmungen aufgrund der mangelnden Reizbarkeit der Nerven nur selten erfolgreich.
Versorgungskonzept „FES plus Orthetik“
Das Grundkonzept besteht aus der Kombination von FES an geeigneten Muskeln des Unterschenkels mit einer dynamischen Orthese; somit geht es dabei um die Nutzung interner Ressourcen bei gleichzeitiger externer Stabilisation. Dabei soll die FES ausdrücklich nicht zur reinen Fußhebung („kein klassisches Fußhebersystem“) eingesetzt werden. Beide Versorgungsmöglichkeiten erlauben separiert voneinander jeweils eine Versorgung der unteren Extremität bei spezifischen Pathologien. Ein natürlicheres Gangbild entwickelt sich, das Sturzrisiko wird reduziert, und Gangsicherheit und Gehstrecke werden erhöht. Jedoch stoßen beide Ansätze gemäß ihren jeweiligen Möglichkeiten an unterschiedliche Grenzen, wie im Folgenden aufgezeigt wird.
Nachteile einer Orthese: — lediglich bedingte Nutzung bzw. Aktivierung körpereigener Strukturen — kein Einfluss auf Spastizität, teilweise sogar verschlechterte Bedingungen — Anstieg von Komplexität und Gewicht sowie Abnahme der Gebrauchstauglichkeit mit jedem umschlossenen Gelenk
Nachteile der FES: — keine externe Stabilisation und Führung — keine bzw. eingeschränkte Sicherheit im Stand oder auf unebenen Flächen
Gemäß dem Versorgungskonzept sollte die Orthese somit mindestens ein Systemgelenk umfassen und kann demnach von einer Fußschale oder Knieorthese bis hin zu einer dynamischen Knöchelorthese oder Knöchel-Knie-Orthese reichen. Die Funktion der Orthese ist die Herstellung einer optimalen biomechanischen Belastungssituation im Referenzbein bzw. in der unteren Extremität inklusive der beiden folgenden Kernaufgaben:
- Stabilisation und Führung des Beins, sodass ein möglichst physiologisches sowie effektives Gehen ermöglicht wird;
- Herstellung einer Gelenkbelastungssituation, in der die Muskeln physiologisch zusammenarbeiten können und in der der Bandapparat gegen plötzlich auftretende äußere Kräfte schützen kann. Zusätzlich sollte in Betracht gezogen werden, dass, um kompensatorische Bewegungen zu beeinflussen, auch die zeitliche Progression mit einberechnet und dem Patienten zügig eine sicherere (physiologischere) Alternative angeboten werden sollte.
Die FES wird am Unterschenkel appliziert; die Plantarflexoren sowie die prätibiale Muskulatur werden unabhängig voneinander angesteuert. Ziel ist die gezielte Muskelstimulation während des Gehens, um über die körpereigenen Strukturen eine natürliche Stabilisierung – beispielsweise durch den Knöchelgelenkschluss – zu bewirken und Bewegungen anzubahnen, zu unterstützen oder sogar zu kontrollieren, beispielsweise eine kontrollierte Tibia-Vorwärtsbewegung nach Lastübernahme zur Reduktion eines Genu recurvatum. Zusätzlich sorgt die FES für eine verstärkte Wahrnehmung bzw. für ein erhöhtes Feedback aus den stimulierten Körperregionen (Propriozeption). Außerdem kann ein erhöhter Tonus bzw. eine Spastik durch den Effekt der Antagonistenhemmung reguliert werden. Physiologische Effekte durch die reine Aktivierung der Muskulatur, beispielsweise eine Verbesserung der Durchblutung oder eine Verhinderung von Atrophien, treten zusätzlich ein.
Fallstudien
Methodik
Für die nachfolgenden drei Fallbeispiele wurden Probanden ausgewählt, die entweder bereits Orthesenträger waren oder mit einer Orthese (neu) versorgt werden sollten. Die Versorgung der Probanden erfolgt durch eine individuell angefertigte Orthese mit oder ohne Gelenk, kombiniert mit einem zweikanaligen FES-System. Wenn auf ein mechanisches Gelenk (Knöchel bzw. Knie) verzichtet wurde, wurde mittels geeigneter Materialauswahl und Formgebung auf eine gerichtete Führung bzw. Stabilisierung der unteren Extremität sowie auf eine ausreichende Dynamik im Sprunggelenk geachtet. Mit dem neuen FES-System können zwei Muskeln oder Muskelgruppen unabhängig voneinander stimuliert werden. Im Normalfall sind dies der M. triceps surae (M. gastrocnemius und M. soleus zur Kniestabilisierung und/oder zur kontrollierten und beschleunigten Schwungbein-Vorwärtsbewegung) und der M. tibialis anterior zusammen mit der Fibularisloge (Alignment durch Gelenkschluss und/oder Fußhebung).
Vor der Erstellung einer Kombinationsversorgung wurde jeweils die Compliance der Patienten bezüglich FES geprüft. Im sogenannten Screening-Kit des FES-Systems sind alle Komponenten enthalten, um Patienten testweise zu versorgen. Den Probanden werden Elektroden auf die Wade zur Stimulation des M. triceps surae (hintere Elektrodenanlage) und/oder über dem Nervus tibialis im Bereich des Fibulaköpfchens zur Stimulation des M. tibialis anterior und/ oder der Fibularisloge (vordere Elektrodenanlage) geklebt.
Durch die Platzierung bzw. die Verschiebung der Elektroden (und der Stimulationsparameter, s. u.) kann der Fokus der zu rekrutierenden Muskeln beeinflusst werden. Bei der hinteren Anlage kann dem M. soleus gegenüber dem M. gastrocnemius mehr oder weniger Fokus bzw. Aktivität zugewiesen werden, bei der vorderen Anlage ist es die Fibularisloge gegenüber dem M. tibialis anterior. Die Elektroden werden anschließend über ein Kabel mit der Stimulationseinheit verbunden. Über eine sogenannte Medical-App können dann Testpulse an die Elektroden geleitet werden (Stimulation). Im Sitzen werden zunächst die Stimulationsparameter (Intensität, Frequenz und Pulsbreite) eingestellt und somit die adäquaten Elektrodenpositionen ermittelt. Ausschlusskriterien beim Screening sind eine zu geringe Schmerztoleranz- bzw. eine zu hohe erforderliche Reizschwelle sowie unzureichend bzw. ungerichtet ausgelöste Kontraktionen.
Anschließend wird die Parametereinstellung auf den Gang übertragen. Die Phasen für die Stimulationszeiträume können dabei frei definiert werden (in % vom Gangzyklus; 1 und 100 % = initialer Bodenkontakt).
Getestete Versorgungsstrategien
Als Grundlage für eine Versorgung mit FES wurden drei einander nicht ausschließende Strategien angewendet:
- Strategie S1: Stimulation des M. triceps surae mit Fokus auf den M. gastrocnemius in der anfänglichen Standphase (Initial Contact – frühe Mid Stance) mit dem Ziel der kontrollierten Knieflexion über die Fasern des M. gastrocnemius;
- Strategie S2: Stimulation des M. gastrocnemius beim Einleiten der Schwungphase (Terminal Stance – Initial Swing) zur Knieflexion und somit zur Generierung der Schwungbeinvorwärtsbewegung;
- Strategie S3: Stimulation des M. tibialis anterior und der Fibularisloge (Peroneen) zur Tonusregulation in der Schwungphase und für den Gelenkschluss des Sprunggelenks vor dem initialen Bodenkontakt und während der Stoßdämpfungsphase.
Ist die Konfiguration abgeschlossen, wird sie dokumentiert (Parametereinstellungen und Timing); die Elektrodenpositionen werden samt Wadenform in einem 3D-Scan festgehalten und anschließend in eine individuell gefertigte Manschette übertragen. Durch das schlanke Manschettendesign kann diese problemlos unter Orthesen getragen werden (Abb. 1). Die Steckverbindungen an den Elektroden, sprich potenzielle Druckstellen, können im Gipsabdruck berücksichtigt oder durch eine zusätzliche Polsterung ausgeglichen werden. Die Stimulationseinheit selbst wird ebenfalls bei der Fertigung mitberücksichtigt und direkt in die Orthese integriert oder nachträglich fest auf der Schale bzw. in die Anlage montiert (s. Abb. 1).
Analyse-Tools
Der Gang wird jeweils mit und ohne Orthese und mit aktiver oder inaktiver Stimulation aufgezeichnet. Die Aufzeichnung erfolgt über Hochgeschwindigkeitskameras (iPhones mit 240 Hz, fixiert auf Stativen) aus der Sagittal- und der Frontalebene. Teilweise werden optische Marker (Kennzeichnung anatomischer Fixpunkte) zur Berechnung des Kniewinkels verwendet. Die Ganganalyse erfolgt mittels Dartfish (Tool zur Videobetrachtung und Einzeichnung relevanter Zeitpunkte und Winkel), die Auswertung per Matlab (mathematisches Tool zur teilautomatisierten Auswertung großer Datenmengen).
Um Rückschlüsse auf eine Verbesserung der Aktivitäten des täglichen Lebens bzw. des funktionalen Gesundheitszustandes nach ICF (International Classification of Disability and Health) ziehen zu können, werden zusätzlich bis zu fünf Assessments durchgeführt:
- 10-Meter-Gehtest („Kurze Entfernungen gehen“, ICF b4500)
- Functional Gait Assessment („Hindernisse umgehen“, ICF b4503; „Auf unterschiedlichen Oberflächen gehen“, ICF b4502)
- 6‑Minuten-Gehtest („Lange Entfernungen gehen“, ICF b4501; „Ausdauer von Muskelgruppen“, ICF b7401)
- Objektive Ganganalyse – Kniewinkel in Standphasen (Abb. 2) und Symmetrie des Ganges („Stabilität eines Gelenkes“, ICF b7150; „Funktion der Bewegungsmuster“, ICF b770)
- Subjektive Ganganalyse – Gangsicherheit, Bewegungökonomie und Reduktion von Kompensationsmustern („Stabilität eines Gelenkes“, ICF b7150; „Funktion der Bewegungsmuster“, ICF b770). Zudem füllt der Proband einen Compliance-Bogen mit Fragen zum Gang mit dem System aus.
Ergebnisse
Ergebnisse zu Probandin 1
Die Probandin ist 34 Jahre alt; sie hat im Jahr 2012 ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten; es besteht eine Hemiparese rechts. Die willentliche Ansteuerung der Unterschenkelmuskulatur ist schwach bis sehr schwach. Die Ansteuerung der Oberschenkelmuskulatur und der Hüfte ist schwach bis gut. Die Gelenke sind weitestgehend frei beweglich, lediglich leichte Einschränkungen in Sprunggelenk und Hüfte sind vorhanden. Ohne Orthese ist das Gehen stark eingeschränkt und nur mit einem Gehstock möglich. Der initiale Bodenkontakt wird mit den Zehen hergestellt (schlaffer Spitzfuß); die Standphase des betroffenen Beines wird über ein Genu recurvatum gesichert, der Oberkörper ist nach vorn geneigt, und in der Schwungphase wird die fehlende Muskelaktivität durch eine Zirkumduktion in der Hüfte kompensiert. Die Gehgeschwindigkeit ist deutlich verlangsamt (0,25 m/s) und die Doppelschrittweite reduziert (0,7 m).
Zum Zeitpunkt des Screenings ist die Probandin bereits mit einer Unterschenkelorthese (AFO) mit „NeuroSwing“-Gelenk und zusätzlich einem Gehstock versorgt. Mit der AFO ist ihr Gangbild deutlich flüssiger. Der nitiale Kontakt findet mit der Ferse statt, die Gehgeschwindigkeit beträgt etwa 0,9 m/s bei einer Doppelschrittweite von 1,13 m. Die Gehstrecke der Patientin beträgt etwa 5 Kilometer. Die Hauptenergie der Vorwärtsbewegung wird jedoch nach wie vor aus der Hüfte generiert; die Sicherung der unteren Extremität in der Belastungsphase erfolgt über eine deutliche Knieextension.
Die Probandin zeigt eine gute Compliance gegenüber der FES und wird mit einer vorderen und hinteren Elektrodenanlage versorgt (Strategien S1, S2, S3). Die Schrittgeschwindigkeit (0,8 m/s) reduziert sich ebenso wie die Doppelschrittweite leicht (1,05 m). Das Genu recurvatum reduziert sich in TST von ‑3,3° auf ‑0,9°; der Kniewinkel im PSW erhöht sich von 21,7° auf 38° (Tab. 1). Die seitliche Schwungweite (Zirkumduktion) reduziert sich sichtbar; die Probandin ist von der Kombinationsversorgung positiv angetan und fühlt sich vor allem bei aktivierter Stimulation sicherer und kontrollierter im Knie.
Ergebnisse zu Proband 2
Der Patient ist 7 Jahre alt; seit seiner Geburt besteht eine Infantile Zerebralparese mit Hemiparese rechts. Die willentliche Ansteuerung der Muskulatur ist gut möglich. Die Beweglichkeit der Gelenke ist weitestgehend normal, es gibt nur leichte Einschränkungen im Fußgelenk. Ohne Orthese läuft der Proband mit schlaffem Spitzfuß, sodass die Stolper- bzw. Sturzgefahr sehr hoch ist. Abb. 3 Proband 3 in TST mit Angabe des Kniewinkels: links mit Orthese und ohne Stimulation; rechts mit Orthese und aktiver Stimulation. Der Proband ist zum Zeitpunkt des Screenings mit einer AFO mit „NeuroSwing“-Gelenk versorgt, die wachstumsbedingt ausgetauscht werden muss. Seine aktuelle Gehstrecke beträgt mehr als 3 Kilometer. Mit Orthese ist sein Gangbild deutlich flüssiger, der initiale Kontakt erfolgt mit der Ferse.
Der Proband zeigt eine hohe Compliance bei Stimulation über die vordere Elektrodenlage. Die Anwendung an der Wade ist ihm jedoch unangenehm, sodass nur die vordere Elektrodenanlage gewählt wird (Strategie S3).
Mit aktiver Stimulation zeigt der Proband ein deutlich runderes Gangbild. Der initiale Kontakt erfolgt flüssiger und gerichteter, und die Kniekontrolle bzw. die Vorwärtsbewegung ist kontrollierter. Der 10-Meter-Gehtest ergibt eine leicht reduzierte Schrittweite und ‑geschwindigkeit: mit Stimulation 10,21 s anstatt 9,81 s sowie 9 anstatt 8,5 Schritte. Die Bewertung per Functional Gait Assessment steigt deutlich von 16 auf 24 Punkte, und der 6‑Minuten-Gehtest zeigt eine deutlich erhöhte Gehstrecke an (405 m statt 330 m) – dies entspricht einer durchschnittlich höheren Gehgeschwindigkeit (auf längerer Strecke, im Unterschied zum 10-Meter-Gehtest) als ohne Stimulation. Die objektive Ganganalyse ergibt keine signifikante Änderung des Kniewinkels. Der Proband gibt im Compliance-Bogen an, ein flüssigeres Gangbild zu haben und sich sowohl auf kurzen als auch auf langen Strecken schneller und sicherer fortbewegen zu können. Eine erhöhte Sicherheit im Knie- bzw. Knöchelgelenk wird jedoch nicht wahrgenommen.
Ergebnisse zu Proband 3
Der Proband ist 59 Jahre alt; er leidet an Multipler Sklerose mit Hemiparese links. Die willentliche Ansteuerung der Muskulatur ist bedingt möglich; hintere Oberschenkelmuskulatur, Wade und Fußheber sind schwach. Die Beweglichkeit der Gelenke ist vollends gegeben. Das Gehen ohne Orthese ist nicht (sicher) möglich (1–2 Schritte).
Der Proband ist beim Screening mit einer Knie-Knöchel-Orthese (KAFO) und einem Gehstock versorgt. Seine aktuelle Gehstrecke beträgt 20 m. Aufgrund des Gewichtes, der Ausmaße und des hohen Aufwands beim Anziehen der KAFO wird diese nicht bzw. nur selten getragen und stattdessen eine „Toe-Off“-Orthese aus einer Vorversorgung verwendet. Der Gang ist langsam (0,35 m/s); bei Lastübertragung auf das betroffene Bein schlägt das Knie stark in die Hyperextension (-10°).
Der Proband wird mit einer vorderen Elektrodenanlage für den Gelenkschluss (Strategie S3) versorgt, wodurch eine ausreichende Stabilität und die Möglichkeit der Kontrolle gegeben ist, sodass die Hyperextension deutlich reduziert wird (Abb. 3). Die hintere Elektrodenanlage (Strategie S1) bringt nicht den gewünschten Erfolg, da der Proband sich damit unsicherer fühlt. Bei der objektiven Ganganalyse zeigt sich ein im Knie leicht flektierter Gang (Tab. 2), wodurch die Hyperextension komplett vermieden wird; die Gehstrecke erhöht sich auf über 100 m. Die Ganggeschwindigkeit erhöht sich ebenfalls auf 0,45 m/s. Im Compliance-Bogen wird ein hoher positiver Effekt bei Stabilität, Symmetrie, Geschwindigkeit und Sicherheit angegeben.
Diskussion der Ergebnisse
Die Fallbeispiele beschreiben die exemplarische Versorgung dreier Probanden, die zusätzlich zu einer Orthese mit einem speziell dafür vorgesehenen FES-Passteil versorgt wurden. Die Patienten wurden durch experimentelles Ausprobieren (Screening) mit einer vorderen und/oder hinteren Elektrodenanlage versorgt; dabei wurden verschiedene Strategien (S1, S2 und S3) verfolgt. Die Begutachtung fand mindestens bei der Übergabe bzw. Auslieferung und teilweise nach 6 Wochen und nach 12 Wochen statt.
Das Gesamtkonzept „Orthese plus FES“ wurde in allen drei Fällen von den Probanden als sehr positiv wahrgenommen. Alle Probanden beschrieben eine deutliche Verbesserung der Propriozeption. Die Verbesserungen der Gangbilder hin zu einem natürlicheren Gangbild sind mit der zusätzlichen Elektrostimulation teilweise deutlich (s. die Probanden 1 und 3- ).
Im Vergleich zwischen solitärer Orthese und Kombinationsversorgung konnte in den relevanten Fällen das Genu recurvatum eingeschränkt und teilweise sogar verhindert werden. Die Probanden fühlten sich insbesondere durch die Strategie S2 deutlich beschleunigt; die Knieflexion wurde erhöht und die Gangsymmetrie verbessert. Durch Strategie S3 kann ein kontrollierter initialer Bodenkontakt und eine Tonusregulation wahrgenommen werden. Diese Auswirkungen lassen sich teilweise in der Sagittalebene beobachten (Proband 3), in anderen Fällen wird dies in den Assessments für Ausdauer und Funktion deutlich (Proband 2). Im Fall von Proband 3 wird durch die Stimulation und das damit verbundene Feedback die Kontrolle bei Lastübernahme wieder selbstständig übernommen.
Fazit und Ausblick
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Konzept „FES in Kombination mit Orthesen“ den Probanden einen deutlichen Mehrwert beim Gehen und somit im Alltag bietet. Die Stimulation der Wade (M. triceps surae) und die Möglichkeit der Kombination waren bisher technisch nicht möglich. Durch die zweikanalige Stimulation kommen weitere Varianten der Versorgung hinzu; somit sollte insbesondere hier eine individuelle Versorgung der Patienten erfolgen. Wenn über die FES Einfluss auf das Knie genommen wird, sollte eine ausreichende Stabilität – zum Beispiel durch eine ventrale Schale – gewährleistet sein. Wie gezeigt wurde, lässt sich die Erprobung der FES experimentell einfach gestalten; die Effekte lassen sich mit Hilfe einfacher Methoden (Videoanalyse, Assessments) darstellen und dokumentieren.
Die vorgestellten Strategien lassen sich nach Ansicht der Autoren durchaus auf weitere Patienten der Indikationsgruppen mit zentralnervöser Störung übertragen. Für Orthesen gilt wie für FES-Systeme und somit auch für deren Kombination, dass eine Therapie bzw. eine Gangschule die ersten Wochen der Versorgung begleiten sollte, um den Erfolg der Hilfsmittel zu maximieren und von vornherein gegen kompensatorische Muster vorzugehen.
Die getesteten Versorgungen machten deutlich, dass ein orthetischer Effekt zum Ausgleich der Behinderung sich sofort einstellt; zudem ist zu erwarten, dass sich durch die wiederholte und gezielte Ansteuerung der Muskulatur zusätzlich ein therapeutischer Effekt einstellt. Die therapeutischen Auswirkungen durch das repetitive, gerichtete und kontrollierte Ansteuern müssen jedoch in größeren und kontrollierten Studien bestätigt werden.
Für die Autoren
Aljoscha Diercks, M. Sc.
Geschäftsführender Gesellschafter
Evomotion GmbH
Lessingstraße 1
21335 Lüneburg
diercks@evomotion.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Diercks A, Bade N. Funktionelle Elektrostimulation (FES) in Kombination mit Orthesen. Orthopädie Technik, 2020; 71 (2): 22–29
Kniewinkel (°) | IC | LR | MST | TST | PSW |
---|---|---|---|---|---|
physiologisch | 5 | 15 | 5 | 40 | 60 |
Orthese | 3,2 | -3,8 | -3,3 | -3,1 | 21,7 |
Orthese + FES | 6 | -1,4 | -0,9 | 4,3 | 38 |
Kniewinkel (°) | IC | LR | MST | TST | PSW |
---|---|---|---|---|---|
physiologisch | 5 | 15 | 5 | 40 | 60 |
Orthese | 12,5 | 1 | -9,1 | -9,9 | 23,6 |
Orthese + FES | 15,9 | 24,4 | 23,1 | 18,5 | 31,5 |
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- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
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