Früh­zei­ti­ges Night-Time-Bra­cing bei idio­pa­thi­scher Sko­lio­se Ear­ly Night-Time Bra­cing for Idio­pa­thic Scoliosis

A. Selle
Die konservative Therapie der idiopathischen Skoliose besteht traditionell je nach Schweregrad aus Physiotherapie und Korsettversorgung. Im Gegensatz zur Physiotherapie stellt eine Ganztags-Korsettbehandlung jedoch eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensqualität dar. Sie wird daher von der Medizin entsprechend zögerlich verordnet und von Patienten oft incompliant durchgeführt. Ein einmal verzögerter Therapiebeginn verursacht allerdings irreparable Schäden, die später selbst bei bester Compliance nicht mehr korrigiert werden können. Einen Ausweg kann die frühzeitige nächtliche Korsettbehandlung (Night-Time-Bracing) bieten. Sie beeinträchtigt die Lebensqualität am Tage nicht und wird von den jungen Patienten deutlich besser angenommen. Die nachfolgende Auswertung zeigt anhand einer Patientengruppe von 150 mittlerweile erwachsenen Patienten, dass die Notwendigkeit einer Korsettbehandlung am Tage durch frühzeitiges Night-Time-Bracing deutlich reduziert werden kann. Sie grenzt zudem verschiedene Randgruppen ab und steckt anhand von Alter und Ausgangswinkel einen Empfehlungsrahmen für eine erfolgreiche nächtliche Korsetttherapie ab.

Ein­lei­tung

Fort­ge­schrit­te­ne idio­pa­thi­sche Sko­lio­sen ent­ste­hen oft aus zunächst nahe­zu gera­den Wir­bel­säu­len. Zwi­schen den bei­den Rönt­gen­auf­nah­men (Abb. 1a und b) lie­gen nur fünf Jah­re. Es ist die Kunst des Behand­lungs­teams aus Arzt, Phy­sio­the­ra­peut und Ortho­pä­die­tech­ni­ker, im rich­ti­gen Augen­blick die rich­ti­gen The­ra­pien anzu­wen­den, um Pro­gre­di­en­zen scho­nend und den­noch wirk­sam ein­zu­däm­men. Dabei ist das Team auf die Zuar­beit von Kin­der­ärz­ten und die Mit­ar­beit der Pati­en­ten ange­wie­sen. Es wird (trotz aller Bemü­hun­gen) immer Fäl­le geben, die mit ein­zel­nen The­ra­pie­for­men nicht beherrsch­bar sind, aber das ist kein Grund, am geeig­ne­ten Punkt auf mög­li­che Behand­lungs­schrit­te zu ver­zich­ten bzw. ein­zel­ne The­ra­pie­schrit­te aus­zu­las­sen oder zu überspringen.

Anzei­ge

Der­zei­ti­ger Goldstandard

Der „Gold­stan­dard“ der Sko­lio­se-The­ra­pie besteht seit Jahr­zehn­ten aus Beob­ach­tung, Phy­sio­the­ra­pie, Ganz­tags­kor­sett und Ope­ra­ti­on. Meist wird die ers­te Dia­gno­se im prä­pu­ber­tä­ren Alter erho­ben und in der Fol­ge fach­ärzt­lich abge­si­chert. Fort­ge­schrit­te­ne Befun­de wer­den einer Behand­lung zuge­führt, mode­ra­te Sko­lio­sen ver­blei­ben wäh­rend des Wachs­tums in ortho­pä­di­scher Beob­ach­tung (halb­jähr­li­che kli­ni­sche Kon­trol­le, ggf. jähr­li­che Röntgen-Diagnostik).

Inter­na­tio­nal wird bei Win­keln über 10° Cobb Phy­sio­the­ra­pie emp­foh­len, bei Pro­gre­di­en­zen auf 25° Cobb erfolgt der Wech­sel zur Kor­sett­the­ra­pie in Ganz­tags­or­the­se (Full-Time-Bra­cing) mit ergän­zen­der Phy­sio­the­ra­pie. Bei Win­kel­wer­ten über 40° Cobb wird (abhän­gig von Alter, Loka­li­sa­ti­on und Ver­stei­fungs­stre­cke) ein ope­ra­ti­ves Vor­ge­hen erwo­gen (Abb. 2).

Der halb­jähr­li­chen fach­ärzt­li­chen Ver­laufs­kon­trol­le unter­wer­fen sich die jun­gen Pati­en­ten pro­blem­los. Auch die phy­sio­the­ra­peu­ti­sche Behand­lung wird in aller Regel nie­der­schwel­lig akzep­tiert (wobei offen bleibt, wie com­pli­ant sie durch­ge­führt wird). Die tat­säch­li­che täg­li­che Übungs­dau­er und die damit ver­bun­de­ne rea­le Beein­träch­ti­gung der Lebens­qua­li­tät ist ver­gleichs­wei­se gering. Die emp­foh­le­ne Übungs­zeit beträgt etwa 20 Minu­ten am Tag.

Der Nut­zen einer wachs­tums­len­ken­den Kor­sett­the­ra­pie gilt in der Medi­zin im Bereich ober­halb von 25° Cobb all­ge­mein als nach­ge­wie­sen 1 2 3. Die The­ra­pie selbst stellt jedoch eine gra­vie­ren­de psy­cho­lo­gi­sche Hür­de und erheb­li­che Ein­schrän­kung der Lebens­qua­li­tät dar 4 5. Stan­dard­mä­ßig erfolgt eine Kor­sett­the­ra­pie 23 Stun­den im Ganz­tags­kor­sett und wird daher ent­spre­chend zurück­hal­tend und meist nur bei Pro­gre­di­enz­nach­weis auf über 25° Cobb ver­ord­net. Kin­der und Teen­ager lei­den unter die­sem gra­vie­ren­den Ein­schnitt und so wird die Kor­sett­the­ra­pie ver­gleichs­wei­se oft abge­lehnt bzw. offen oder ver­deckt incom­pli­ant durch­ge­führt 6 7 8. Das abwar­ten­de Ver­ord­nungs­ver­hal­ten und der zöger­li­che Wech­sel hin zur Kor­sett­the­ra­pie sind durch die damit ein­her­ge­hen­de gra­vie­ren­de Ein­schrän­kung der Lebens­qua­li­tät hin­rei­chend gut begrün­det. Unter Behandlungs­aspekten hat die­ses Zögern jedoch Nach­tei­le: Man ver­spielt den Zeit­raum der „ein­fa­chen Kor­set­ter­fol­ge“ und ver­gibt zudem die Chan­ce der Part-Time-Behand­lung. Und man setzt sich mit fort­ge­schrit­te­nen Krüm­mungs­gra­den von Beginn der Kor­sett­be­hand­lung an unter ech­ten Erfolgs­druck, den die jun­gen Pati­en­ten im Nach­hin­ein mit ganz­tä­gi­ger Tra­ge­zeit und star­ken Kor­rek­tur­drü­cken ertra­gen müssen.

Erfolgs­sek­to­ren der Skoliose-Korsettbehandlung

Der Erfolg einer Kor­sett­the­ra­pie ist abhän­gig vom Aus­maß der Defor­mi­tät zu Behand­lungs­be­ginn und der Zeit­span­ne des noch bevor­ste­hen­den Wachs­tums (Abb. 3). Es gäbe durch­aus einen Bereich früh­zei­tig Kor­sett-behan­del­ter Sko­lio­sen, in dem man eine Win­kel-Regre­di­enz erwar­ten könn­te (Sek­tor a), aber genau die­ser Bereich wird meist gar nicht genutzt. Bei mitt­le­ren Aus­gangs­win­keln (Sek­tor b) redu­zie­ren sich die Erfolgs­aus­sich­ten in den meis­ten Fäl­len auf das Erhal­ten des Win­kel­wer­tes nach Kor­sett­ab­la­ge. Defi­niert man die Erhal­tung des Win­kels als „Behand­lungs­er­folg“, erzielt eine Kor­sett­be­hand­lung in den Sek­to­ren a und b grund­sätz­lich erfolg­ver­spre­chen­de Ergeb­nis­se. Bei höhe­ren Aus­gangs­win­keln (Sek­tor c) muss man im End­ergeb­nis nach Kor­sett­ab­la­ge oft eine mode­ra­te Ver­schlech­te­rung hin­neh­men und bei hohen Win­kel­wer­ten (Sek­tor d) ist die Kor­sett­the­ra­pie oft­mals über­for­dert. In den Sek­to­ren c und d ist nach­hal­ti­ger „Erfolg“ müh­sam oder gar nicht erreich­bar 9. Grund­sätz­lich deckt sich der emp­foh­le­ne Indi­ka­ti­ons­be­reich nicht unmit­tel­bar mit dem erfolg­rei­chen Bereich und man arbei­tet mit Kor­setts zum erheb­li­chen Teil in den schwie­ri­ge­ren Berei­chen. Natio­nal ist die Lage etwas güns­ti­ger, da man in Deutsch­land Kor­sett­ver­sor­gun­gen vie­ler­orts schon bei 20° Cobb beginnt und damit den erfolg­rei­chen Bereich bes­ser aus­nutzt 10.

Fünf­glied­ri­ges Behandlungskonzept

Das tra­di­tio­nell vier­stu­fi­ge Behand­lungs­mus­ter aus Beob­ach­tung, Phy­sio­the­ra­pie, Ganz­tags­or­the­se und Ope­ra­ti­on ist seit Jahr­zehn­ten fest ver­an­kert, aber es ist ver­bes­se­rungs­fä­hig und wür­de durch den Zwi­schen­schritt des früh­zei­ti­gen Night-Time-Bra­cin­gs sowohl in punc­to Com­pli­ance als auch in punc­to früh­zei­ti­ge Pro­gre­di­enz­ver­mei­dung und Lebens­qua­li­tät am Tage erheb­lich pro­fi­tie­ren 11 12.

Unter dem Aspekt der Lebens­qua­li­tät und mit Blick auf die Viel­zahl der psy­cho­lo­gi­schen Pro­ble­me, mit denen Ganz­tags-Kor­sett­be­hand­lun­gen behaf­tet sind 13, wäre ein fünf­glied­ri­ges Behand­lungs­sys­tem aus Beob­ach­tung, Phy­sio­the­ra­pie, Night-Time-Brace, Full-Time-Brace und Ope­ra­ti­on ein ech­ter Fort­schritt, um einer mög­lichst gro­ßen Anzahl von Pati­en­ten die Full-Time-Kor­sett­the­ra­pie zu erspa­ren (Abb. 4) 14.

Ein der­ar­ti­ger Stra­te­gie­wech­sel wäre aller­dings von einer erfolg­rei­chen Früh­erken­nung abhän­gig, bei der man mit Unter­stüt­zung von Kin­der- und Schul­ärz­ten die jun­gen Pati­en­ten im mode­ra­ten Win­kel­in­ter­vall fin­det und ggf. einer nächt­li­chen Behand­lung zuführt. Das ist bis­her oft­mals nicht der Fall. Von 1561 mitt­ler­wei­le erwach­se­nen Kor­sett-Pati­en­ten, die in der Ortho­pä­die- und Reha­tech­nik Dres­den GmbH in den letz­ten 20 Jah­ren eine Sko­lio­se-Kor­sett­be­hand­lung durch­lau­fen haben, wur­den 1166 Pati­en­ten sofort „ganz­tags“ Kor­sett-ver­sorgt und nur bei 395 Pati­en­ten wur­de die Kor­sett­the­ra­pie nachts begon­nen (Abb. 5).

Pati­en­ten­kli­en­tel für früh­zei­ti­ges Night-Time-Bracing

Um zu ermit­teln, ob früh­zei­ti­ges Night-Time-Bra­cing als Alter­na­ti­ve zur Pro­gre­di­enz­ver­mei­dung und zum Aus­schluss des spä­te­ren Wech­sels auf ein Ganz­tags­kor­sett geeig­net ist, wur­den aus der Gesamt­kli­en­tel zunächst die 395 initi­al Nacht-ver­sorg­ten Pati­en­ten selektiert.

Behan­delt wur­den die­se Pati­en­ten von uns bei der Ortho­pä­die- und Reha­tech­nik Dres­den GmbH jeweils mit indi­vi­du­ell nach Gips­ab­druck gefer­tig­ten „Dresd­ner Night-Time-Braces“ (Abb. 6). Dabei han­delt es sich nicht um tra­di­tio­nel­le Ben­ding Braces. Die typi­schen Ben­ding Braces der 1970er Jah­re kor­ri­gie­ren nur die Pri­mär­krüm­mung und ver­schlech­tern sekun­dä­re Krüm­mun­gen indi­rekt. Sie beinhal­ten zudem kei­ne dero­tie­ren­den Elemente.

Das „Dresd­ner Night-Time-Brace“ ist im Gegen­satz dazu eine moder­ne dero­tie­ren­de Sko­lio­se­or­the­se mit allen Kom­po­nen­ten, die von moder­nen Chê­neau-Orthe­sen her bekannt sind; es wird ledig­lich auf den lie­gen­den Kör­per maß­ge­nom­men und unter Berück­sich­ti­gung der geän­der­ten Wir­kungs­rich­tung der Schwer­kraft ange­passt 15.

Aus den initi­al Nacht-ver­sorg­ten Pati­en­ten wur­den 72 nicht-idio­pa­thi­sche Sko­lio­sen aus­ge­schlos­sen (Abb. 5). Des Wei­te­ren wur­den 42 Pati­en­ten wegen spe­zi­fi­scher Aus­nah­men aus­ge­schlos­sen (z. T. zu hohe Loka­li­sa­ti­on der Schei­tel­wir­bel in der obe­ren BWS, z. T. wegen extre­mer Dis­kre­panz zwi­schen Cobb-Win­kel und Rota­ti­on bei Erst­dia­gno­se, z. T. auf­grund von The­ra­pie­un­ter­bre­chun­gen vor­bild­li­cher Ver­läu­fe, eini­ge vor­ei­li­ge Umstel­lun­gen auf Ganz­tags­or­the­sen unter­halb von 25° Cobb, zwei hyper­ak­ti­ve Kin­der, eine sei­ten­ver­kehrt getra­ge­ne Orthe­se und meh­re­re Eltern/Patienten, die für eine emp­foh­le­ne Ganz­tags­the­ra­pie nicht com­pli­ant waren und nur aus die­sem Grund iso­liert nachts ver­sorgt wur­den). Die ver­blie­be­ne Grup­pe von 281 Pati­en­ten konn­te in die Aus­wer­tung ein­be­zo­gen werden.

34 Pati­en­ten die­ser Grup­pe waren in der Lang­zeit­ana­ly­se nicht com­pli­ant. Die „ad-hoc-Com­pli­ance“ für iso­lier­tes Night-Time-Bra­cing ist in allen Alters­klas­sen ver­gleichs­wei­se hoch und liegt in der Regel bei über 90 %. Die Lang­zeit-Com­pli­ance ado­les­zen­ter Pati­en­ten liegt eben­falls bei 90 %. Nach unse­rem Kennt­nis­stand haben nur 25 von 251 Pati­en­ten die Nacht-Behand­lung vor­fris­tig abge­bro­chen. Bei infan­ti­len Sko­lio­sen, bei denen Kin­der Nacht­kor­setts über vie­le Jah­re tra­gen müs­sen, bra­chen aller­dings ca. 30 % der Pati­en­ten (9 von 30) die Behand­lung über den lan­gen Zeit­raum hin­weg eher ab. Abge­bro­che­ne Behand­lun­gen bedeu­ten letzt­lich „Phy­sio­the­ra­pie + Spon­tan­ver­lauf“. Die­se Pati­en­ten die­nen als wich­ti­ge Ver­gleichs­grup­pe und wer­den getrennt betrach­tet. Im Fol­gen­den wird zunächst die Aus­wer­tung der com­pli­an­ten Ver­läu­fe präsentiert.

Ein­gren­zung des Indikationsbereichs

Um einen all­ge­mein­gül­ti­gen, ver­läss­li­chen Emp­feh­lungs­be­reich für früh­zei­ti­ges Night-Time-Bra­cing zu erar­bei­ten, wur­den die Rand­be­rei­che der Indi­ka­ti­on abge­grenzt und aus der direk­ten Emp­feh­lung aus­ge­schlos­sen. Auf die­se Wei­se kann man für den Kern­be­reich belast­ba­re Ergeb­nis­se errech­nen und sau­be­re Schluss­fol­ge­run­gen zie­hen. Fol­gen­de Berei­che wur­den dem­nach aus­ge­schlos­sen (Abb. 7): Pati­en­ten mit mehr als 25° Cobb wer­den tra­di­tio­nell ohne­hin ganz­tags ver­sorgt. Wir haben in Aus­nah­me­fäl­len eini­ge sehr jun­ge Kin­der und eine Rei­he beson­ders Kor­sett-skep­ti­scher Teen­ager auch mit Win­keln knapp über 25° Cobb (26 – 29°) nachts ver­sorgt. Aber fast die Hälf­te der Krüm­mun­gen (16 von 34) waren pro­gre­di­ent und die­se Pati­en­ten muss­ten spä­ter doch tags­über ver­sorgt wer­den. Somit kön­nen wir für Sko­lio­sen mit mehr als 25° Aus­gangs­win­kel kei­ne Emp­feh­lung für das iso­lier­te Night-Time-Bra­cing aus­spre­chen. Die­se Pati­en­ten soll­ten auch zukünf­tig von Beginn an ganz­tags ver­sorgt wer­den und wur­den für die wei­te­re Aus­wer­tung nicht berücksichtigt.

An der unte­ren Gren­ze der Indi­ka­ti­on gab es ein­zel­ne Ver­sor­gun­gen mit weni­ger als 18° Cobb. Nor­ma­ler­wei­se wer­den Pati­en­ten unter­halb von 18° Cobb nicht Kor­sett-ver­sorgt, da sie ein ver­gleichs­wei­se gerin­ges Pro­gre­di­enz­ri­si­ko haben 16. Aus­nah­men sind bis­wei­len bei fami­liä­rer Dis­po­si­ti­on gerecht­fer­tigt. Wenn ein fami­li­är vor­be­las­te­tes Kind eine Sko­lio­se ent­wi­ckelt, war­tet man u. U. nicht lan­ge, son­dern beginnt früh­zei­tig mit einer nächt­li­chen Kor­sett­the­ra­pie. Die­se Pati­en­ten konn­ten in unse­ren Fäl­len im früh­zei­ti­gen Nacht­kor­sett sta­bil gehal­ten wer­den. Kei­ner der Pati­en­ten brauch­te spä­ter eine Tag­or­the­se. Aber die­se Fäl­le strei­fen die „Über­the­ra­pie“ und sind nicht Bestand­teil einer Regel­emp­feh­lung. Der­ar­ti­ge Ver­sor­gun­gen blei­ben Ein­zel­fall­ent­schei­dun­gen. Sie wur­den nicht mit in das gene­rel­le Emp­feh­lungs­fens­ter ein­be­zo­gen und sind somit hier von der wei­te­ren Betrach­tung ausgeschlossen.

Über die Jah­re wur­de auch eine gan­ze Rei­he jun­ger Pati­en­ten, die das 15. Lebens­jahr voll­endet hat­ten, wegen unvoll­stän­di­ger Risser-Zei­chen im grund­sätz­lich emp­foh­le­nen Win­kel­be­reich nachts ver­sorgt. Die­se Ver­sor­gun­gen waren aus­nahms­los erfolg­reich. Kei­ner der Pati­en­ten brauch­te spä­ter ein Tag­kor­sett. Man kann der­ar­ti­ge Ver­sor­gun­gen guten Gewis­sens durch­füh­ren, um die letz­te Pha­se der Ske­lett­rei­fung abzu­si­chern. Aber Ver­sor­gun­gen nach Voll­endung des 15. Lebens­jah­res sind kei­ne ech­ten Refe­renz-Fäl­le, an denen man den gene­rel­len Emp­feh­lungs­be­reich fest­ma­chen kann. Sie wur­den daher im Wei­te­ren ausgeschlossen.

Es ver­bleibt zur letzt­li­chen Aus­wer­tung eine Grup­pe von 150 com­pli­an­ten Pati­en­ten (gelb mar­kier­ter Bereich, Abb. 7), bei denen eine Night-Time-Behand­lung genau im fol­gen­den Emp­feh­lungs­fens­ter begon­nen wurde:

– im Wachstumsalter

– mit Win­keln der Pri­mär­krüm­mung zwi­schen 18° und 25° Cobb

Das Durch­schnitts­al­ter lag bei 13,0 Jah­ren und der durch­schnitt­li­che Anfangs­win­kel bei 20,5° Cobb.

Ergeb­nis­se

Die Aus­wer­tung kon­zen­triert sich auf das „ent­schei­den­de Kri­te­ri­um“ der Ver­mei­dung eines Tag­kor­setts und somit auf die Fra­gen: Wie vie­le der 150 im Emp­feh­lungs­be­reich gestar­te­ten Pati­en­ten konn­ten per iso­lier­tem Nacht­kor­sett im gesam­ten Wachs­tum sta­bil gehal­ten wer­den bzw. bei wie vie­len Pati­en­ten hat sich der Win­kel­wert wäh­rend des Wachs­tums über die 25-Grad-Mar­ke hin­aus ver­schlech­tert, so dass noch eine regu­lä­re Tag­or­the­se nötig wur­de? Die zen­tra­le Fra­ge lau­tet: Brauch­te das Kind spä­ter im Wachs­tum noch ein zusätz­li­ches Tag­kor­sett oder nicht?

Das ist auch die Kenn­zif­fer, die zuerst für die gesam­te Grup­pe zur Ver­fü­gung steht und die man bereits bei Voll­endung des 15. Lebens­jah­res ver­füg­bar hat (denn spä­ter wer­den Tag­kor­sett­be­hand­lun­gen nicht mehr begonnen).

Dabei sind die Ergeb­nis­se einer even­tu­ell nöti­gen nach­fol­gen­den Tag-The­ra­pie nicht Gegen­stand der Unter­su­chung. Der­ar­ti­ge Ergeb­nis­se sind in der Fol­ge abhän­gig von Qua­li­tät und Tra­ge­ver­hal­ten der Ganz­tags­or­the­se. Die­se Pati­en­ten wech­seln in eine ande­re Kate­go­rie der Behand­lung (Full-Time-Bra­cing). Ergeb­nis­se der Ganz­tags-Kor­sett­the­ra­pie sind hin­läng­lich bekannt und viel­fäl­tig ver­öf­fent­licht 17 18.

Für uns ist inter­es­sant: Wie viel Pro­zent der Pati­en­ten konn­ten im iso­lier­ten Night-Time-Brace erfolg­reich behan­delt und sta­bil gehal­ten wer­den und kamen ohne Tag­or­the­se aus? Das waren 140 der 150 Pati­en­ten und somit 93,3 %. Bei zehn Pati­en­ten (6,7 %) muss­te eine Tag­or­the­se nach­ver­ord­net wer­den (Abb. 8a).

Will man die Grup­pe der erfolg­rei­chen Behand­lun­gen selbst noch genau­er dif­fe­ren­zie­ren und her­aus­fin­den, wie hoch der Anteil ech­ter Ver­bes­se­run­gen, kon­stan­ter Ver­läu­fe oder gering­fü­gi­ger Pro­gre­di­en­zen ist, muss man etwas län­ger war­ten und die Win­kel nach Kor­sett­ab­la­ge bzw. die Nach­un­ter­su­chung im Erwach­se­nen­al­ter aus­wer­ten. Ein fina­les Rönt­gen als Erwach­se­ner liegt jedoch im Ermes­sen der Pati­en­ten, so dass uns in eini­gen Fäl­len nur der Stand bei Kor­sett­ab­la­ge vorliegt.

Unter den erfolg­rei­chen Behand­lun­gen im 16. Lebens­jahr und älter1 fan­den wir 21,9 % mit Win­kel-Regre­di­enz (Ver­bes­se­rung > 5°), 74,2 % mit kon­stan­ten Win­kel­wer­ten (+/– 5°) und 3,9 % mit mini­ma­ler Pro­gre­di­enz auf Abschluss­win­kel von max. 29° Cobb nach Behand­lungs­ab­schluss (Abb. 8b). Grenzt man die Aus­wer­tung auf Pati­en­ten im 17. Lebens­jahr und älter ein2, dann ändert sich das Ergeb­nis nur gering­fü­gig auf 18,2 % Ver­bes­se­run­gen, 76,1 % Kon­stanz und 5,7 % mini­ma­le Progredienz.

Fazit

Betrach­tet man die Gesamt­heit der idio­pa­thi­schen Sko­lio­se-Pati­en­ten im Wachs­tums­al­ter, wer­den der­zeit 75­ ­% von ihnen mit Win­keln über 25° Cobb zur Erst­vor­stel­lung in Sko­lio­se-Spe­zi­al­am­bu­lan­zen vor­stel­lig und kom­men damit zu spät für ein iso­lier­tes Night-Time-Bra­cing. Die­se Pati­en­ten soll­ten auch in Zukunft mit dem tra­di­tio­nel­len Kon­zept ganz­tags Kor­sett-ver­sorgt wer­den, wobei es per­spek­ti­visch wün­schens­wert wäre, die Rate durch geziel­te Früh­erken­nung spür­bar zu verringern.

Für Pati­en­ten, die unter­halb von 25° Cobb erfasst wer­den und auf die man früh­zei­tig Ein­fluss neh­men kann, hät­te man per­spek­ti­visch die Wahl zwischen

– der klas­si­schen Vari­an­te von Phy­sio­the­ra­pie und Beob­ach­tung oder

– früh­zei­ti­gem Night-Time-Bracing

Aus der Grup­pe non­com­pli­an­ter Pati­en­ten kön­nen wir schluss­fol­gern, dass etwa 50 % der mode­ra­ten Sko­lio­sen (18–25° Cobb) unter rein phy­sio­the­ra­peu­ti­scher Behand­lung sta­bil blei­ben. Aller­dings bedeu­tet das auch, dass in etwa jeder zwei­te Pati­ent zum spä­te­ren Zeit­punkt ein Tag­kor­sett braucht. Die­se Pati­en­ten müs­sen für rela­tiv lan­ge Zeit eine erheb­li­che Ein­schrän­kung der Lebens­qua­li­tät mit all den bekann­ten psy­chi­schen Beein­träch­ti­gun­gen und Ein­schrän­kung der Bewe­gungs­frei­heit hinnehmen.

Wür­de man mode­ra­te Sko­lio­sen früh­zei­tig im Nacht­kor­sett behan­deln, könn­te man die Ver­schlech­te­rungs­ra­te pro­gnos­tisch unter 10 % sen­ken. Mehr als 90 % der Pati­en­ten wür­den unse­rer Aus­wer­tung zufol­ge allein mit dem Nacht­kor­sett sta­bil blei­ben und ein „nor­ma­les Leben“ am Tage leben kön­nen. Das wäre ein erheb­lich gesenk­tes Pro­gre­di­enz­ri­si­ko und eine beträcht­li­che Erhö­hung der Lebens­qua­li­tät für die ent­spre­chen­den Pati­en­ten. Früh­zei­ti­ges Night-Time-Bra­cing soll­te daher drin­gend als Bestand­teil moder­ner Sko­lio­se­be­hand­lung in das Behand­lungs­kon­zept inte­griert werden.

1Abschluss-Rönt­gen im 16. Lebens­jahr und älter liegt bei 128 Pati­en­ten vor

2Abschluss-Rönt­gen im 17. Lebens­jahr und älter liegt bei 88 Pati­en­ten vor

 

Dank­sa­gung

Ich möch­te mich bei allen Ärz­ten bedan­ken, die über zwei Jahr­zehn­te die Umset­zung des Ver­sor­gungs­kon­zepts und die umfas­sen­de Aus­wer­tung ermög­licht haben, selbst wenn ich sie hier nicht alle nament­lich nen­nen kann. Ein beson­de­rer Dank gilt Herrn CA Dr. med. Jens Sei­fert, Askle­pi­os Ortho­pä­di­sche Kli­nik Hoh­wald, der die­sen Ver­sor­gungs­an­satz von Beginn an beglei­tet und maß­geb­lich mit auf den Weg gebracht hat. Die meis­ten der Ver­sor­gun­gen wur­den in Zusam­men­ar­beit mit ihm durchgeführt.

Wei­ter­hin bedan­ke ich mich bei Herrn PD Dr. med. Peter Bern­stein, der eben­falls vie­le die­ser kon­ser­va­ti­ven The­ra­pien betreut und mich zudem bei der Lite­ra­tur­re­cher­che unter­stützt hat.

Ich möch­te nicht ver­säu­men, mich bei mei­nen bei­den Lehr­meis­tern der Ortho­pä­die- und Reha­tech­nik Dres­den GmbH zu bedan­ken. Herr Wer­ner Nau­man hat mir über Jah­re die Grund­la­gen der Sko­lio­sen­or­the­tik ver­mit­telt und Herr Klaus Oschatz hat mich als Seni­or­chef moti­viert, mir ent­spre­chen­de Wei­ter­bil­dung ermög­licht und die Arbeit stets wohl­wol­lend begleitet.

Der Autor:
Andre­as Selle
Ortho­pä­die­tech­nik-Meis­ter
Ortho­pä­die & Reha­tech­nik Dres­den GmbH
Fet­scher­stra­ße 70
01307 Dres­den
aselle@ord.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on

Sel­le, A. Früh­zei­ti­ges Night-Time-Bra­cing bei idio­pa­thi­scher Sko­lio­se. Ortho­pä­die Tech­nik, 2023; 74 (3): 44–47

 

 

 

  1. Nachem­son A et al. Effec­ti­ve­ness of tre­at­ment with a brace in girls who have ado­le­s­cent idio­pa­thic sco­lio­sis. A pro­s­pec­ti­ve, con­trol­led stu­dy based on data from the Brace Stu­dy of the Sco­lio­sis Rese­arch Socie­ty. Jour­nal of Bone and Joint Sur­gery, 1995; 77 (6): 815–822
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