Exo­ske­lett macht (nicht nur) Lau­fen wie­der möglich

Ein Gespräch auf Augenhöhe – für viele eine Metapher für respektvolle und gleichberechtigte Kommunikation. Anne Hofer versteht diese Aussage hingegen wortwörtlich, und zwar als ein Gespräch, das auf nahezu gleicher Körperhöhe stattfindet.

Seit die 30-Jäh­ri­ge quer­schnitt­ge­lähmt ist, ver­schiebt sich die­se Ebe­ne oft­mals und der Blick ihres Gegen­übers wan­dert her­un­ter – auf ihre Sitz­hö­he im Roll­stuhl. Eine neue und zugleich alte Per­spek­ti­ve stell­te sich 2019 ein, als sie zum ers­ten Mal in der Reha wie­der stand und ging – im Exo­ske­lett. Die Bewe­gung mit dem Hilfs­mit­tel för­dert und for­dert nicht nur ihren Kör­per, son­dern gibt ihr auch auf sozia­ler Ebe­ne viel zurück, z. B. eine Umar­mung auf „hohem Niveau“.

Schon immer woll­te Anne Hofer Mut­ter wer­den. Doch mit der Geburt ihrer Toch­ter und der damit ver­bun­de­nen Quer­schnitt­läh­mung änder­ten sich schlag­ar­tig ihre Wün­sche und Vor­stel­lun­gen der erträum­ten Rol­le. „Iro­ni­scher­wei­se lagen wir bei­de in Win­deln da“, erin­nert sie sich an die Zeit im Kran­ken­haus zurück. Ihr Kind her­um­tra­gen, spa­zie­ren gehen – all das war nicht mög­lich. Gleich­zei­tig moti­vier­te die Geburt ihrer Toch­ter sie dazu, sich her­aus­zu­for­dern, wei­ter­zu­ma­chen und zu kämp­fen. „Ich woll­te mich selbst um sie küm­mern kön­nen“, betont die 30-Jäh­ri­ge. Sich anzie­hen, nicht umkip­pen, frei sit­zen – Schritt für Schritt erreich­te sie einen Mei­len­stein nach dem ande­ren. Mit stei­gen­der Stim­mung nahm sie auch eini­ge Vor­tei­le ihres Roll­stuhls wahr. „Wir haben eine sehr inten­si­ve Bin­dung“, berich­tet Hofer, die ihre Toch­ter drei Jah­re lang auf ihrem Schoß stets nah bei sich hat­te. Die Toch­ter nimmt nicht nur die Stim­mun­gen ihrer Mut­ter sehr genau wahr, die stän­di­ge Kom­mu­ni­ka­ti­on hat sie auch für Spra­che emp­fäng­li­cher wer­den las­sen. „Sie ist viel wei­ter als ande­re Kin­der in ihrem Alter.“

Per­spek­tiv­wech­sel

„Hast du Lust, etwas Neu­es aus­zu­pro­bie­ren?“, frag­te die Chef­ärz­tin, als Hofer fünf Mona­te in der Vamed Kli­nik ­Hohen­stü­cken in Reha war. Nicht wis­send, was genau auf sie zukom­men wür­de, ließ sie sich auf das Expe­ri­ment ein. Sowohl für Hofer als auch für das Per­so­nal bedeu­te­te dies ein High­light, denn die Ber­li­ne­rin war die ers­te Pati­en­tin der Ein­rich­tung, die mit dem Exo­ske­lett von Rewalk lau­fen durf­te. „Das Gefühl, wie­der ste­hen zu kön­nen, war unglaub­lich“, erin­nert sie sich an die ers­ten Schrit­te zurück. Sie war beein­druckt, wie groß sie ist, grö­ßer als die meis­ten ihrer Physiotherapeut:innen. Und: Die Perspek­tive ver­än­dert sich. „Ste­hend sieht man den Raum ganz anders, als wenn man sitzt, nimmt ande­re Din­ge wahr“, stellt sie im All­tag immer wie­der fest und nennt fol­gen­des Bei­spiel: Blickt sie vom Roll­stuhl von der Zim­mer­tür Rich­tung Schlaf­zim­mer, kann sie nicht sehen, was sich hin­ter dem Bett befin­det. Im Stand wer­den Kis­ten und Co. sicht­bar. Fühlt sie sich inner­halb einer Men­schen­men­ge im Roll­stuhl eher wie ein Exot, wie die, die anders ist, ver­hilft ihr das Exo­ske­lett zur Inter­ak­ti­on auf Augen­hö­he. „Ich fal­le nicht mehr auf, auch wenn es kein unauf­fäl­li­ges Gerät ist“, sagt sie. Denn wäh­rend der Blick ihres Gegen­übers bis­lang abwärts wan­der­te und auto­ma­tisch das Hilfs­mit­tel mit erfass­te, blei­ben die Augen nun oben hän­gen. Auch bei einer Umar­mung ist ein Her­un­ter­beu­gen nicht mehr not­wen­dig. „Men­schen, die ich lieb habe, auf glei­cher Höhe in den Arm neh­men zu kön­nen, ist unbe­schreib­lich schön.“

Beson­ders gern nutzt die 30-Jäh­ri­ge das Exo­ske­lett (Modell Rewalk Per­so­nal 6.0) bei regel­mä­ßi­gen Spa­zier­gän­gen mit ihren Eltern. Zu Hau­se legt sie es bei Renovierungs­arbeiten oder zum Kochen an, kann so auch wie­der in die gro­ßen Töp­fe schau­en. Das Hilfs­mit­tel gibt ihr die Mög­lich­keit, Räum­lich­kei­ten und Gebäu­de zu errei­chen, wie zum Bei­spiel die Woh­nung ihres Groß­va­ters. Die zehn Stu­fen bis zum Auf­zug stel­len so kein Pro­blem mehr dar. „Ich habe nur die Posi­tio­nen Sit­zen und Lie­gen. Durch das Exo­ske­lett kann ich auch ste­hen und gehen. Das gibt mir ein deut­lich bes­se­res Kör­per­ge­fühl“, betont sie. Ihr Kör­per wird durch die unter­schied­li­chen Bewe­gun­gen auch anders gefor­dert. Legt sie sich abends ins Bett, fühlt sie sich deut­lich aus­ge­gli­che­ner. „So, wie sich mein Kör­per danach anfühlt – das hat bis­her kein ande­res Gerät geschafft.“

Ping-Pong-Spiel mit der Krankenkasse

Nach den Trai­nings­ein­hei­ten war die Mut­ter schnell ­sicher im Exo­ske­lett. Der Pro­zess sei aber sehr indi­vi­du­ell, gibt Hofer zu beden­ken und spricht damit ins­be­son­de­re die Läsi­ons­hö­he an – bei ihr ist die­se recht nied­rig. Drei bis fünf Minu­ten braucht sie, um das Hilfs­mit­tel anzu­zie­hen. Das Aus­zie­hen funk­tio­niert dank der Schnal­len noch­mal schnel­ler. Einen deut­lich län­ge­ren Atem brauch­te Hofer auf dem Weg bis zur Geneh­mi­gung des Exo­ske­letts. Von der Antrag­stel­lung bis zur ers­ten Nut­zung ver­gin­gen mehr als zwei Jah­re. Die Kran­ken­kas­se woll­te die Kos­ten nicht über­neh­men, bot statt­des­sen ande­re Hilfs­mit­tel wie ­einen Steh­tisch oder ein motor­be­trie­be­nes Bewe­gungs­the­ra­pie­ge­rät als Alter­na­ti­ve an. „Kei­nes der Gerä­te gibt mir die Funk­tionen, die mir das Exo­ske­lett bie­tet“, sagt die 30-Jäh­ri­ge. Der Tisch macht das Ste­hen mög­lich, der Moto­med bewegt die Bei­ne durch, aber von A nach B kommt sie so nicht. „Das Exo­ske­lett soll den Roll­stuhl nicht erset­zen. Das ist nicht das Ver­sor­gungs­ziel. Es soll einen Behin­de­rungs­aus­gleich schaf­fen, mir die Funk­tio­nen zurück­ge­ben, die ich ver­lo­ren habe.“

Als Ping-Pong-Spiel bezeich­net Hofer den stän­di­gen Wech­sel zwi­schen Anträ­gen und Wider­spruch. Letzt­end­lich ging der Fall vor das Sozi­al­ge­richt – und das ent­schied zu ihren Guns­ten. Kurz danach konn­te sie mit der vor­ge­schrie­be­nen Schu­lung star­ten. Bereits geübt durch die Trai­nings­ein­hei­ten wäh­rend der Reha, fühl­te sie sich nach weni­gen Mona­ten sicher im Exo­ske­lett. Seit Novem­ber 2022 nutzt sie das Hilfs­mit­tel nun zu Hau­se. Auf der Stra­ße zieht sie damit eini­ge Bli­cke auf sich, inklu­si­ve – wie Hofer sagt – lus­ti­ger Fra­gen wie „Ist das Ding zum Flie­gen?“ oder „Bist du Robo­Cop?“. „Man wird viel ange­starrt. Aber das wird man auch im Roll­stuhl“, kom­men­tiert sie sol­che Bemer­kun­gen rela­tiv gelas­sen. Kein Ver­ständ­nis dage­gen hat sie für über­grif­fi­ges Ver­hal­ten, beson­ders gegen­über ihrem Kind. „Ich kann mich selbst um mei­ne Toch­ter küm­mern“, betont sie. Ein Hilfs­mit­tel spre­che ihr die­se Kom­pe­ten­zen nicht auto­ma­tisch ab.

Der Traum vom Tanzen

Trotz aller Vor­tei­le, die ihr das Exo­ske­lett bie­tet: Ihre Bei­ne kom­plett erset­zen kann es nicht. Durch die Arm­stüt­zen hat sie ihre Hän­de nicht frei, kann zwar eine Hand lösen und Gegen­stän­de grei­fen, nicht aber z. B. mit einem Glas in der Hand lau­fen. Sie will nicht kla­gen, sagt sie. „All das ist ­Meckern auf hohem Niveau.“ Den­noch gibt es zum ­Abschluss die Fra­ge nach ihren Wün­schen. „Mein größ­ter Traum ist es, wie­der so tan­zen zu kön­nen wie frü­her“, sagt Hofer. Roll­stuhl­tanz, ja, den gibt es, ist für sie aber nicht ver­gleich­bar. Vor eini­gen Mona­ten hat sie wie­der mit Pole-Dance begon­nen. Sich an die Stan­ge zu hän­gen und ihre Freun­din ihre Bei­ne ver­kno­ten zu las­sen, sei aber „mei­len­weit von dem ent­fernt“, was sie vor Jah­ren machen konn­te. Hofer bleibt wei­ter auf der Suche nach der für sie pas­sen­den Sport­art. Zum Yoga geht sie ab und zu, Bogen­schie­ßen und Ska­ten möch­te sie noch aus­pro­bie­ren. Tan­zen ist und bleibt für sie aber ein schwie­ri­ges, emo­tio­na­les The­ma. „Ich sehe in die­sen Momen­ten, was ich ver­lo­ren habe.“ Sie ver­gleicht den Ver­lust mit dem Tod eines gelieb­ten Men­schen. „Du wirst trau­rig sein, aber nicht dau­er­haft unglück­lich. Und du wirst immer wie­der Momen­te haben, in denen du dich erin­nerst und dir der Ver­lust bewusst wird.“ Beim Anblick ihrer Toch­ter aber wird ihr auch stets bewusst, was sie gewon­nen hat. Und die Mut­ter­rol­le, die sie anfangs nicht so aus­fül­len konn­te wie lang erwünscht, lebt sie heu­te – mal ­sit­zend, mal ste­hend – jeden Tag.

Pia Engel­brecht

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