Einleitung
Förderprogramme sind ein probates Mittel zur nachhaltigen Unterstützung der Innovationskraft und der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen. Die Forschungsgruppe Biomechatronik der Hochschule Ulm betreibt wirtschaftsnahe Forschung in Kooperation mit mittelständischen Industrieunternehmen, gefördert durch das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand (ZIM) des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Dieses Förderprogramm wurde nun erstmalig auch in Zusammenarbeit mit dem lokalen Handwerksunternehmen Häussler Technische Orthopädie GmbH aus Ulm für die Entwicklung einer patientenindividuellen Vorfußprothese genutzt 1. Das Kooperationsprojekt wurde nach positiver Begutachtung durch den Projektträger mit einer Laufzeit von zwei Jahren bewilligt. Herausfordernd an dieser Konstellation war die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Ingenieuren, Wissenschaftlern, Orthopädie-Technikern und Orthopädie-Techniker-Meistern.
Problemstellung und Motivation
Partielle Vorfußamputationen (Abb. 1) werden in erster Linie durch Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen verursacht, während nur eine kleine Anzahl traumatischen Ereignissen zuzuordnen ist: Nach einer beim Statistischen Bundesamt in Auftrag gegebenen Auswertung wurden im Jahr 2015 in Deutschland lediglich 51 traumabedingte Amputationen am Fuß registriert 2. Die im Rahmen des Kooperationsprojekts durchgeführte Patientenbefragung zeigte, dass verfügbare Hilfsmittel (Silikonprothese aus Vollmaterial, siehe Abb. 1) primär kosmetische Aspekte abdecken 3. Die für ein physiologisches Gangbild und insbesondere für eine sportliche Aktivität notwendige Biomechanik wird mit den genannten Silikonprothesen jedoch nur unzureichend erfüllt 4 5. Industriell entwickelte Hilfsmittel mit entsprechender Funktionsmechanik stehen aufgrund der geringen Fallzahlen nicht zur Verfügung. Eine adäquate Versorgung setzt jedoch voraus, dass sie die gewünschte Aktivität des Anwenders unter Berücksichtigung der von Dillon et al. beschriebenen Faktoren (steifer Vorfuß, Einschränkung der Dorsalextension) berücksichtigt 6.
Bauformen und mechanische Auslegung der entwickelten Versorgung
Das funktionelle Federelement der Prothese besteht aus Prepreg-Carbonschichten in unterschiedlicher Faserorientierung und Lagenzahl, wodurch es auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten abgestimmt werden kann. Je nach Amputationshöhe stehen zwei Bauformen zur Verfügung: die Bauform „Chopart“ (Abb. 2) mit einem Federverlauf frontal entlang der Tibia sowie die Bauform „Lisfranc“ (Abb. 3) mit einem von frontal nach medial zur Sohle übergehenden Federverlauf.
Für die konstruktive Auslegung der Prothese wurden Lastkollektive im Rahmen der im Literaturverzeichnis unter 7 angegebenen Studie ermittelt und in ein hierfür entwickeltes Finite-Elemente-Modell überführt. Für die Erstellung des Simulationsmodells wurden folgende Eingabeparameter einbezogen:
- das Gewicht des Patienten,
- die Fußlänge des Patienten,
- die Tibialänge des Patienten,
- die Amputationslinie sowie
- der Anwendungswunsch des Patienten.
Der aufgebaute Simulationsprozess (Abb. 4) ist in folgende Teilprozesse untergliedert:
CAD-Modellierung der Prothese
Für die konstruktive Anpassung der Prothese an den amputierten Fuß ist eine exakte Erfassung der anthropometrischen Patientendaten (Fußlänge, Fußbreite, Tibialänge etc.) erforderlich. Die Grundlage hierfür bildet ein Gipspositiv des kontralateralen Fußes, das mit Hilfe eines 3D-Scans (Eva, Artec Europe, Luxemburg) erfasst wird. Darauf basierend erfolgt die CAD-Modellierung der Vorfußprothese. Das entstandene CAD-Schalenmodell bildet dann die Grundlage für die Finite-Elemente-Analyse.
Carbon-Modellierung
Eine realitätsnahe Simulation des Prothesenmodells setzt die Kenntnis konstruktionsrelevanter physikalischer Eigenschaften voraus. Da Carbon-Verbundwerkstoffe richtungsabhängige Materialeigenschaften aufweisen, wurde hierfür ein orthotropes Materialmodell für den verwendeten Verbundwerkstoff aufgebaut. Die zur Verfügung stehenden Materialspezifikationen (SGL Carbon, Wiesbaden, Deutschland) wurden in eigenen Testreihen nach DIN EN ISO 14125 ergänzend verifiziert. Die Anzahl der Carbonlagen, die Carbonfaserrichtung sowie die Finite-Elemente-Berechnung erfolgten mit Hilfe der Software ANSYS (ANSYS Inc., USA). Die durchgeführten Berechnungen umfassten Steifigkeitsuntersuchungen sowie eine Versagensanalyse während der Gangsequenzen „toe off“ und „heel strike“. Basierend auf den an der Prothese resultierend anliegenden Spannungen und auftretenden Verformungen kann das Hilfsmittel optimiert und auf die gewünschte Patientenaktivität abgestimmt werden 8.
Überprüfung des Finite-Elemente-Modells mittels Prüfstand
Da für die Ermittlung von Zeitfestigkeit und Verschleiß des entwickelten Hilfsmittels kein standardisiertes mechanisches Testverfahren (Norm) existiert, wurde ein auf die Anforderungen abgestimmter Prüfstand (Abb. 5) konzipiert. Dieser berücksichtigt weitgehend physiologische Belastungsbedingungen für die mechanische Charakterisierung der vorgestellten Vorfußprothese. Der Prüfablauf orientiert sich an den Anforderungen der DIN EN ISO 22675 (Prüfung von Knöchel-Fuß-Passteilen und Fußeinheiten) unter Einbeziehung alltäglicher anwenderspezifischer Belastungssituationen, der Belastungsintensität sowie der Belastungsfrequenz. Ergänzend zur vertikalen Bodenreaktionskraft unter der Sohle, die während eines Gangzyklus in der Standphase auftritt und durch die „Doppelhöckerkurve“ charakterisiert ist, soll der Prüfstand zusätzlich die Einstellung des Hüft- und Kniewinkels erlauben. Entsprechende statische und zyklische Untersuchungen stehen allerdings noch aus.
Lagenplangenerator und Herstellung der Prothese
Das Ergebnis der Simulation stellt die Grundlage des Lagenplangenerators dar. Der Orthopädie-Techniker gibt die während der Profilerhebung ermittelten Individualdaten des Patienten in die Benutzeroberfläche der Software ein und erhält eine detaillierte Bauanleitung sowie ein Schnittmuster des Hilfsmittels (Abb. 6). Für die standardisierte Herstellung der jeweiligen Prothesenbauform (Chopart oder Lisfranc) werden im Anschluss grundlegend folgende Fertigungsschritte (Abb. 7) durchgeführt:
- Patientenerhebung und Gipsabnahme
- Anfertigen eines Softsockets mit Federanlagebereichen
- Abformen des Softsockets (Gips) und Scannen des Gipspositivs
- Hilfsmittelauslegung und Simulation, Erstellung von Lagenplan und Schnittmuster mit Hilfe des Lagenplangenerators
- Armieren und Autoklavieren der Carbonfeder
Nach Aushärten der Prothese im Autoklav und erfolgreicher Anprobe am Patienten erfolgt die Anfertigung der Kosmetik (Abb. 8). Im Anschluss wird das Hilfsmittel dem Patienten übergeben.
Einfluss der Amputation auf die biomechanischen Gangparameter
Die Untersuchung der Studienpopulation mit Silikonprothese (siehe Abb. 1) zeigt aufgrund der reduzierten Standfläche des teilamputierten Fußes ein pathologisches Gangbild, woraus eine Ganginstabilität resultiert. Diese äußert sich unter anderem in einer ungleichen Druckverteilung (Abb. 9) sowie in einer Verlagerung des Körperschwerpunkts (CoP, Abb. 10) und erlaubt aufgrund des fehlenden Vorfußhebels keine bzw. nur eine deutlich reduzierte Abstoßung (Punkt C, „toe off“, Abb. 11) 9 10. Infolgedessen können die Betroffenen sich meist nur bedingt am Alltagssport beteiligen.
Bewertung der Prothese im Rahmen der Gangstudie
Die biomechanische Beurteilung der Prothese fand im Rahmen einer klinischen Studie 11 statt. Dazu wurden mittels des instrumentierten Laufbands „Rehawalk®“ (zebris Medical GmbH, Isny) und des kamerabasierten 3D-Bewegungsanalysesystems „Simi Motion 3D“ (Simi Reality Motion Systems GmbH, Unterschleißheim) kinematische und kinetische Gangparameter von Patienten mit Silikonprothese und individuell angefertigter Carbonprothese ermittelt. Für den Vergleich stand eine Studienpopulation von fünf Patienten (Durchschnittsalter: 44,25 ± 6,75 Jahre, ‑größe: 1,72 ± 0,08 m, ‑gewicht: 74,0 ± 9,22 kg) zur Verfügung. In vorliegendem Praxisbeispiel konnten die von Dillon et al. 12 beschriebenen notwendigen mechanischen Eigenschaften einer erfolgreichen Versorgung umgesetzt werden. Die Gangbiomechanik der Studienteilnehmer konnte unter Verwendung der individuell angefertigten Carbonprothese deutlich verbessert werden. Neben dem wiederhergestellten Vorfußhebel wurden eine gesteigerte Ganggeschwindigkeit sowie eine bessere Symmetrie in Bezug auf die Schrittlänge, die Stand- und Schwungphasendauer sowie die Gelenkwinkel zwischen der betroffenen und der gesunden Extremität gemessen 13.
Fazit
Die in der durchgeführten Studie erlangten Erkenntnisse zeigen eine deutliche Verbesserung der Gangqualität der Patienten mit Carbonprothese. Für eine allgemeingültige Aussage sind jedoch Untersuchungen mit einer größeren Patientenfallzahl sowie eine Langzeitbeobachtung erforderlich. Entsprechende Untersuchungen wurden bereits begonnen. Die Beurteilung einer erfolgreichen Wiedereingliederung in den Alltagssport erfordert – zusätzlich zur durchgeführten Ganganalyse – sportphysiologische Untersuchungen. Diese befinden sich derzeit in Planung in Kooperation mit der Abteilung Sport- und Rehabilitationsmedizin der Universität Ulm.
Das entwickelte Simulationsmodell erlaubt die theoretische Auslegung der Prothese unter Beachtung patientenspezifischer Parameter (Anatomie und Anwendungswunsch des Patienten), dessen Validität noch im Rahmen einer mechanischen Testreihe nachgewiesen werden muss. Ebenso steht eine Bewertung der Gebrauchstauglichkeit des daraus abgeleiteten Lagenplangenerators aus.
Ergänzend zu den Erfahrungen des Orthopädie-Technikers mussten ingenieurspezifische Fragestellungen bearbeitet werden, die unter anderem fundierte Kenntnisse in den Fachgebieten Konstruktion, Technische Mechanik und Simulation erforderten. Dies stellt das Orthopädie-Handwerk vor die Aufgabe, etablierte Prozesse und Arbeitsweisen zu überdenken und sinnvoll um aktuelle, für sie jedoch teilweise neue digitale Arbeitstechniken zu ergänzen.
Der Einsatz des beschriebenen Simulationswerkzeugs führte zwar zu einer individuellen mechanischen Auslegung der Prothese und stellt für das Unternehmen sicherlich eine Prozessinnovation dar, jedoch wurde der handwerkliche Prozess zur Erstellung des Hilfsmittels kaum verändert. Die Simulation ist nur als möglicher Baustein innerhalb einer digitalen Prozesskette zu betrachten. Der Einsatz digitaler Werkzeuge ist in der Industrie bereits in vollem Gange und wird auch dem Orthopädie-Handwerk neue Möglichkeiten eröffnen. Neben der dreidimensionalen Erfassung von Gliedmaßen und Körperstrukturen, deren virtueller Nachbearbeitung, der Adaption eines geeigneten Hilfsmittels und seiner mechanischen Auslegung eröffnet auch der anschließende Fertigungsprozess neue Möglichkeiten.
Ergänzend zu bereits bestehenden subtraktiven und formativen Fertigungsverfahren bietet die additive Fertigung („3D-Druck“) ein enormes Entwicklungspotenzial. Per 3D-Druck können individuelle Hilfsmittel konstruiert werden, deren Formgebung, Funktionalität und Erscheinungsbild nicht länger durch die Art der Fertigung limitiert sind. Die Auslegung dieser Hilfsmittel, also die Betrachtung der Belastungsmerkmale bei unterschiedlichen Bedingungen (Körpergewicht, Aktivität etc.), könnte in die individuelle Orthopädie-Technik miteinbezogen werden. Hierdurch können individuelle Hilfsmittel nach industriellem Standard entstehen. Allerdings stößt der digitale Prozess hier an seine Grenzen – die Erfassung individueller Weichteile oder knöcherner Strukturen ist derzeit noch nicht möglich.
Ausblick: Digitalisierung im Orthopädie-Handwerk
In einer ersten Pilotarbeit erstellten die Kooperationspartner eine mögliche digitale Prozesskette. Als Grundlage diente ein 3D-Stumpfmodell (Scanner Artec Eva , Artec3D, Luxemburg), mit dem eine individuell ausgelegte Prothese mit Hilfe der Software Freeform (Geomagic Freeform Plus, Antonius Köster GmbH & Co. KG, Meschede) konstruiert, anwendungsspezifisch mechanisch ausgelegt und anschließend additiv im 3D-Druckverfahren hergestellt wurde (Abb. 12). Die Arbeit wurde dazu in folgende Schritte untergliedert:
- Scannen des Stumpfes (in diesem Fall eines bereits vorhandenen Gipsmodells)
- Modellieren des Stumpfes mit der Software Freeform
- Entwicklung und Konstruktion eines Schaft-Liner-Systems für die direkte Stumpfanbindung mit der Software Freeform
- Entwicklung und Konstruktion einer auf die Belange des Anwenders zugeschnittenen Prothesenstruktur mit der Software Freeform
- Untersuchung der lastaufnehmenden Elemente hinsichtlich Belastungsfähigkeit und Verformung mit der Software ANSYS
- Herstellung des Hilfsmittels mittels additiven Fertigungsverfahrens
Sobald die Grundstruktur der Prothese konstruiert wurde, lässt sich diese mit überschaubarem Zeitaufwand sowohl geometrisch als auch funktionell anpassen. Damit entsteht auf lange Sicht eine Art Baukastensystem für individuelle, skalierbare Hilfsmittel, die mit Hilfe des 3D-Druckverfahrens gefertigt werden können.
Der Autor:
Prof. Dr. Felix Capanni
Hochschule Ulm
Fakultät Mechatronik und Medizintechnik
Forschungsgruppe Biomechatronik
Albert-Einstein-Allee 55, 89081 Ulm
capanni@hs-ulm.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Capanni F, Matyssek S, Gaashan M, Dötzel E. Entwicklung einer individuellen Vorfußprothese für die Wiedereingliederung in den Alltagssport — Eine Forschungs- und Entwicklungskooperation zwischen Hochschule und Handwerksbetrieb. Orthopädie Technik, 2018; 69 (5): 68–72
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- Entwicklung eines lastadaptierten Vorfußprothesensystems zur Individualversorgung von vorfußamputierten Patienten mit hohem Mobilitätsanspruch. ZIM-Kooperationsprojekt, Förderkennzeichen KF2186207AK4
- Fallzahl für traumabedingte Amputationen am Fuß. Individualauswertung für das Jahr 2015 des Statistischen Bundesamts vom 22.09.2017
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