Einleitung
Die Versorgung starker Knickfußfehlstellungen bringt immer dann eine besondere Herausforderung mit sich, wenn die problemverursachenden Faktoren neurologisch oder genetisch bedingt sind. In diesen Fällen verursacht die beeinträchtigte Muskelsteuerung eine Abflachung des medialen Längsgewölbes durch eine Absenkung und Medialisierung des Taluskopfes, was perspektivisch nicht über die „normale“ Wachstumsentwicklung der Kinder ausreguliert werden kann.
Gleichzeitig ist eine Valgisierung des Fersenbeines in Kombination mit einer Pronation und Abduktion des Vorfußes zu beobachten. Im Extremfall kommt es zu einem totalen Einbruch des medialen und lateralen Gewölbes bis hin zum Schaukel- oder auch Tintenlöscherfuß. Die Abrollung erfolgt nun nicht mehr durch die Fußlängsachse, sondern bricht im Bereich der Lisfranc’schen oder Chopart’schen Gelenklinie nach medial aus (Articulatio tarsometatarsalis bzw. Articulatio tarsi transversa) (Abb. 1).
Beim unkorrigierten Fuß führt jeder Schritt zu einer Verstärkung dieser Problematik. Der dabei entstehende Druck auf die Kontaktfläche des Großzehengrundgelenkes kann sogar zu einer valgischen Veränderung des Digitus I führen. Die medialen Bandstrukturen werden dauerhaft überdehnt und erschweren die physiologische Aufrichtung des Fußes durch die Muskulatur. Fehlstellungen des unteren Sprunggelenkes können sich auch auf die Achsenstellung der darüber liegenden Gelenke auswirken und die gesamte Gangdynamik in Form einer Außenrotation negativ beeinflussen (Abb. 2).
Die starke Knickfußstellung, wie sie z. B. bei hypotonen und auch leicht hypertonen Muskelspannungszuständen vorkommt, ist zwar häufig passiv gut korrigierbar, eine Aufrichtung des medialen Fußgewölbes gegen die Schwerkraft ist aber selbst im Zehenstand nicht immer zu beobachten. In solchen Fällen ist eine Versorgung durchaus indiziert. Dabei ist darauf zu achten, dass die Fußlängsachse anatomisch korrekt ausgerichtet wird, um seitliche Scherkräfte in der Gangdynamik zu vermeiden. Gerade im jungen Lebensalter ist daher eine Führung der Fußachsen sinnvoll, sofern nicht mit einer spontanen Selbstkorrektur zu rechnen ist. Die Aufrichtung der Füße in Kombination mit einer orthetisch vorgegebenen frontalen Abrollrichtung kann eine sichtbare Verbesserung erreichen.
Historie
Bisher haben die Verfasser die Versorgung hypotoner Knickfüße nach folgenden Kriterien durchgeführt: Zuerst wird versucht, eine Aufrichtung durch die Versorgung mit sensomotorischen bzw. propriozeptiven Einlagen zu erreichen 1. Der komplette Korrekturdruck wird dabei von plantar ausgeübt und erfolgt ausschließlich über die Bodenreaktionskräfte. Ziel ist es, die Muskelarbeit durch gezielte Reizpunkte verstärkt zu aktivieren. Um den Fuß dabei korrekt auf der Einlage zu positionieren, ist ein gut passender Konfektionsschuh unerlässlich.
Gelingt es dem Patienten nicht, über diese Maßnahme die Fußmuskulatur ausreichend zu aktivieren, schaukelt sich der Fuß auf der medialen Längsgewölbeabstützung auf, sodass sich bei der Abrollung („mid stance“ zu „terminal stance“) das Fersenbein aus der Fersenmulde heraushebt. Erkennbar ist das an den fehlenden Belastungsspuren auf getragenen Einlagen (Abb. 3a u. b). Benötigt die Fußkorrektur zusätzlich zum plantaren Korrekturdruck noch eine seitliche Führung, wird ergänzend zu den Einlagen ein Therapiestabilschuh angewendet.
Bei unzureichender Passform dieser Maßkonfektionsware wird ein orthopädischer Maßschuh angefertigt 2. Der notwendige Halt wird hierbei unter anderem durch eine enge Schaftführung bis über die Malleolen sichergestellt. In der Anwendungspraxis führt dies allerdings zu einer Bewegungseinschränkung im oberen Sprunggelenk, sodass Dorsalextension und Plantarflexion nur noch bedingt möglich sind. Ein halbwegs flüssiges Gangbild wird dann über die Sohlengestaltung in Form von Arthrodesenrollen erreicht.
Alternativ bietet sich die Versorgung mit DAFOs in Polypropylen-Technik an 3. Auch hier erfolgt die Korrektur in der Frontalebene zu einem Großteil über die Bodenreaktionskräfte. Kombiniert wird dies mit einer supramalleolaren medialen und lateralen Unterschenkelanlage. Um die knöchelübergreifende Stabilität des Materials zu gewährleisten, bleibt der dorsale Schaftanteil relativ hoch geschlossen, was wiederum Einbußen in der Plantarflexion zur Folge hat. Die Freigabe in Dorsalextension führt im Gangzyklus zu einem seitlichen Führungsverlust in „terminal stance“, da sich die Unterschenkelachse aus der Orthese herausbewegt (Abb. 4).
Bei unzureichender Materialstabilität der PP-DAFOs kann alternativ in Faserverbundtechnik angefertigt werden (AFO, Ringorthese 4, Steigbügelorthese). Auch hier ist es durch die fehlende Gelenkführung in der Sagittalebene nicht möglich, die Fersenabweichung gegenüber der Unterschenkelachse in jeder Gangphase zu sichern. Zudem kann die supramalleolare Unterschenkelanlage nicht eng genug geführt werden, da dies sonst in der Bewegung zu Hautabschürfungen führt.
All diese Versorgungsmöglichkeiten haben also eines gemeinsam: Entweder sie fixieren alle Fußgelenke und bewirken somit auch Bewegungseinschränkungen im oberen Sprunggelenk, oder sie geben bei korrigiertem unterem Sprunggelenk die Flexion und Extension des oberen Sprunggelenkes frei, mit dem Kompromiss, in „initial contact“ und „terminal stance“ eine Achsen sicherung zum Unterschenkel zu vernachlässigen. Die korrekte Führung des unteren Sprunggelenkes ist also nur in der Mid-Stance-Phase möglich.
Bisherige gelenkführende Orthesen können dieses Problem zwar egalisieren, das untere Sprunggelenk wird aber sowohl in Pronation als auch in Supination blockiert. Dadurch wird wiederum die Mitarbeit der fußaufrichtenden Muskulatur deutlich eingeschränkt. Ebenso führt dies, vor allem beim Spielen auf dem Boden und beim Bewegungsübergang vom Krabbeln in die Aufrichtung, zu ungewollten Torsionsverlagerungen in die darüber liegenden Gelenkachsen.
Zielsetzung
Die therapeutischen Anforderungen an eine funktionelle Orthesenversorgung sind seit Jahren bekannt: Eine fußkorrigierende Versorgung soll den Patienten in seinen positiven Bewegungen nicht einschränken und somit eine ungehinderte Entwicklung der Muskulatur ermöglichen. Gerade bei Kindern, die sich im Bewegungsübergang aus dem Krabbeln in die Vertikalisierung befinden, darf eine Fußversorgung nicht zu sehr fixieren. Sitzen und Krabbeln bedürfen hier einer starken Plantarflexion. Bei der Aufrichtung aus der tiefen Hocke wird hingegen eine deutliche Dorsalextension benötigt. Hier ist also ein großes Maß an Bewegungsfreiheit nötig.
Bei der vertikalen Lastaufnahme muss eine Versorgung aber die korrekte Fußstellung gewährleisten, damit es nicht zu Gelenkfehlbelastungen kommen kann. Beim Gang soll der Fuß nicht erst über die Bodenreaktionskräfte korrigiert werden, sondern bereits beim initialen Kontakt eine korrekte Stellung aufweisen. Eine solche Versorgung soll dabei wenig wiegen, kaum auftragen und den Fuß in seiner Abrollung nicht einschränken. Im Sinne der Selbstständigkeit soll das An- und Ausziehen des Hilfsmittels „kinderleicht“ sein.
All diese Anforderungen in einem Hilfsmittel zu kombinieren war mit den bisherigen Versorgungstechniken nicht möglich. Vielmehr waren die technischen Lösungen immer ein Kompromiss zwischen Bewegungsfreigabe und korrigierender Einschränkung.
Die Idee
Benötigt wird also eine Orthese, die ausschließlich die pathologische Fehlstellung korrigiert und alle anderen Bewegungsachsen frei lässt, ein funktionsunterstützendes Hilfsmittel, bei dem alle Elemente, die nicht zwingend zur Fußkorrektur notwendig sind, weggelassen werden, eine Fußversorgung, die eine korrekte Fersenaufrichtung gewährleistet und die in allen Bewegungsphasen eine korrekte Achsenstellung zum Unterschenkel gewährleistet, bei Bedarf mit Unterstützung des medialen Längsgewölbes und Führung des lateralen Fußrandes. Wenn die Malleolenführung zu Druck- oder Scheuerstellen führt, warum wird sie nicht weggelassen und das Ganze überbrückt? Erforderlich ist demnach eine „geführte Freiheit“ in einer Orthese, die schlank, leicht und gleichzeitig stabil ist.
Das Ergebnis
Diese Anforderungen wurden zusammengefasst und in einem Hilfsmittel realisiert. Die Aufgabenstellung an die Kombination von Korrektur und Bewegung folgt hierbei nicht mehr dem Prinzip eines „Entweder-oder“, sondern eines „Sowohl-als-auch“.
Das Produkt wurde „Camafo®“ getauft. Die Namensgebung der Orthese richtet sich dabei nach den funktionellen Eigenschaften und der internationalen Bezeichnung der Versorgungshöhe. Dabei handelt es sich um ein Akronym aus den folgenden englischen Begriffen: Das Fersenbein („calcaneus“) wird aufgerichtet („adjustive“). Außer der pathologischen Abweichung bleiben alle anderen Bewegungsachsen frei („multidirectional“). Die Versorgungshöhe schließt das Knöchelgelenk („ankle“) und die Fußgelenke („foot“) in die Orthese („orthosis“) ein (Abb. 5).
Es handelt sich um eine Orthese in Faserverbund-Technik, bei der die Fehlstellung der Fußlängsachse über eine Kombination aus plantarer flexibler Abstützung und seitlicher Fußführung nach dem 3‑Punkt-Prinzip korrigiert wird. Die physiologische Stellung des Fersenbeines in der Horizontalebene soll allerdings lediglich gegen die Pronationsfehlstellung des USG gesichert werden, die Supinationsmöglichkeit des USG bleibt erhalten.
Die Verbindung der Fußorthese zur Unterschenkelführung erfolgt durch ein unilaterales Gelenk, das im Bewegungsausmaß individuell begrenzbar ist (Abb. 6). Die Dimensionierung der dabei verwendeten Gelenke richtet sich nach der Körpergröße und dem Gewicht des Patienten sowie nach seinem Aktivitätsgrad und der Schuhgröße. Dabei muss das zu erwartende Wahstum des Kindes brücksichtigt werden. Flexible Verschlüsse ermöglichen eine gute Anpassung bei gleichzeitig gutem Halt. Ein Sohlenaufbau von plantar ist nicht notwendig, sodass die Orthese bei normalen Fußproportionen auch im Konfektionsschuh getragen werden kann.
Die Orthese ist einfach anzuziehen: Der Fuß wird in vorkorrigiert zuemstand in der Orthese platziert und mittels flexibler Klettverschlüsse in der gewünschten Position gehalten. Der Verschluss der Unterschenkelführung hat dabei keine Haltearbeit zu leisten. Er sorgt lediglich dafür, dass die supramalleolare Führung in jeder Bewegungsphase am Unterschenkel anliegt. Plantarflexion und Dorsalextension sind ungehindert möglich (Abb. 7).
Die Pronationsfehlstellung des unteren Sprunggelenkes wird zuverlässig verhindert. Die Supination ist hingegen als gewollte Bewegung uneingeschränkt durchführbar. Über die Konstruktion der Camafo® wird also lediglich die pathologische Achsabweichung verhindert. Die überdehnten Strukturen können sich erholen und durch das Wachstum des Kindes normalisieren. Die Muskulatur kann durch die korrekte Positionierung des Fersenbeines normal arbeiten. Die Orthese hat trotz hoher Stabilität ein geringes Gewicht (ca. 130 g bei Schuhgröße 25 bzw. 230g bei Schuhgröße 37).
Die Camafo®-Technik wird von den Verfassern seit Mitte 2013 bei inzwischen über 400 Fällen eingesetzt. Eine Anfang 2016 retrospektiv durchgeführte Kundenbefragung bei 71 Teilnehmern ergab eine durchweg positive Bewertung bezüglich Anwenderfreundlichkeit und Compliance: 96,3 % der 28 Beantworter würden sich bei einer Nachversorgung erneut für eine Camafo® entscheiden. Die steigende Verordnungszahl belegt die Zufriedenheit der Verordner. Bei den Versorgungskontrollen drei Monate nach der Auslieferung zeigte sich, dass die Bewegungsfreude durch die Orthese in keiner Weise eingeschränkt wird.
Bei konsequenter Anwendung konnte bei einigen Patienten bereits nach sechsmonatiger Tragedauer auch außerhalb der Orthesentragezeit eine sichtbare Verbesserung der Fußaufrichtung festgestellt werden. Alle durchgeführten Bewegungen können unter Beibehaltung der Fußkorrektur durchgeführt werden. Sowohl das Krabbeln auf dem Boden als auch die Aufrichtung aus der tiefen Hocke sind uneingeschränkt möglich und finden immer in Verbindung mit einer korrekten Fersenstellung statt.
Besonders geeignet ist die Orthese für Kinder, bei denen eine passive Korrektur der Füße möglich ist, die aber aus eigener Kraft keine Aufrichtung der Fehlstellung erreichen. Typische Krankheitsbilder in diesem Zusammenhang sind z. B. Trisomie 21, spinale Muskelatrophien und verschiedene Stoffwechselerkrankungen, die eine Hypotonie zur Folge haben, ebenso tieflumbale MMC sowie Rett- und Angelman-Syndrom. Dabei können nicht nur hypotone Kinder versorgt werden.
Bei Zerebralparetikern, die eine moderate Spastik aufweisen und bei achsengerechter Einstellung des Fersenbeines keine Spitzfußproblematik haben, ist die Versorgung ebenfalls möglich. Bei korrigiertem Fersenbein sollte eine Dorsalextension von mindestens 10° möglich sein. Bei allen Kindern wurde im Vorfeld versucht, über Sondereinlagen eine Fußaufrichtung zu erreichen.
Schlechte Erfolgsaussichten ergeben sich dagegen bei Kindern mit teilkontrakten Fehlstellungen in der Sagittaloder Horizontalebene. Varusfehlstellungen gehen zumeist mit einer Spitzfußproblematik einher, sodass diese Fehlstellungen mit der vorgestellten Technik nicht gut versorgbar sind. Patienten mit ausgeprägter Spastik sollten ebenfalls nicht mit einer Camafo® versorgt werden.
Die Verfasser haben diese neuartige Orthesentechnik und die Bezeichnung als Gebrauchsmuster und Marke beim Deutschen Patent- und Markenamt schützen lassen. Der zusätzlich angemeldete Patentschutz soll sicherstellen, dass die Camafo®-Orthese nur von speziell darin ausgebildeten Technikern angewendet wird. Ein unkontrollierter Nachbau ist unbedingt zu vermeiden, damit nicht ein ganzes Orthesenkonzept durch falsche Indikation oder Ausführung in Verruf gerät.
Für die Autoren:
Gunnar Kandel
Vertriebsleitung Pädiatrie
Rahm Zentrum für Gesundheit GmbH
Iltisweg 1–3
53842 Troisdorf
gunnar.kandel@rahm.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Kandel G, Behrens K, Fröhlingsdorf P. Eine neue Orthese für die Fußversorgung von Kindern — Ein Erfahrungsbericht. Orthopädie Technik, 2017; 68 (2): 36–39
- Der Verlag OT wünscht frohe Weihnachten! — 23. Dezember 2024
- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
- Bernius P. Sensomotorische Einlagenversorgung – was ist daran neu, was ist alt bekannt? Fuß & Sprunggelenk, 2010; 8 (1): 16–27
- Möller M. Orthopädische Maßschuhe. In: Baumgartner R, Möller M, Stinus H. Orthopädieschuhtechnik. 2., überarb. u. erw. Aufl. Geislingen: C. Maurer Druck und Verlag, 2013: 56–69
- Möller M. Innenschuhe. In: Baumgartner R, Möller M, Stinus H. Orthopädieschuhtechnik. 2., überarb. u. erw. Aufl. Geislingen: C. Maurer Druck und Verlag, 2013: 70–74
- Baumgartner R, Greitemann B. Grundkurs Technische Orthopädie. 2., überarb. Aufl. Stuttgart: Thieme Verlag, 2007: 225