1 Carl Zeiss SMT AG, Oberkochen, Deutschland
2 Forschungsgruppe Biomechatronics, Technische Hochschule Ulm, Deutschland
Einführung
Die menschliche Fortbewegung ist das Resultat einer über mehrere Millionen Jahre andauernden Evolution, die einen hochkomplexen Vorgang hervorgebracht hat, der ein Zusammenspiel von zahllosen Muskeln und Gelenken sowie des Gleichgewichts‑, Seh- und Tastsinns erforderlich macht. Eine zentrale Rolle dieses Zusammenspiels übernehmen die unteren Extremitäten und insbesondere der Fuß. Das hochkomplexe Gebilde muss im Alltag in der Lage sein, den statischen und dynamischen Einflüssen entgegenzuwirken. Im Stand übernimmt der Fuß die gleichmäßige Belastungsverteilung auf die Extremitäten und die sensomotorische Erfassung der Bodenkräfte sowie die Gleichgewichtsregulierung1 2 3 4. Unter dynamischen Aspekten bildet der Fuß in Verbindung mit dem Knie- und Hüftgelenk sowie der Passagiereinheit eine Symbiose, welche für die notwendigen Hebel sorgt, um sich physiologisch in eine konkrete Richtung fortbewegen zu können. Jeglicher Eingriff in diesen sensiblen Mechanismus resultiert in einer Störung des biomechanischen Gleichgewichts2 5. Insbesondere geht eine Amputation (Abb. 1) im Fußbereich mit einer entsprechend negativen Einflussnahme einher. Dabei gilt: je näher die Amputation am Sprunggelenk, desto stärker die Auswirkungen auf die Physiologie des Bewegungsapparates5 6 7. Bei einem gesunden Gangbild wandert die auf den Fuß eingeleitete Last mit fortschreitender Schrittperiode von anterior nach posterior in Richtung der Großzehe, bis es zum Abschluss des Gangzyklus zur Zehenablösung bzw. Entlastung kommt. Im Falle einer Amputation im Mittel- oder Vorfußbereich kann dieser physiologische Prozess bereits ab der mittleren Standphase nicht mehr regelkonform ausgeführt werden. Eine zu frühe Ablösung des Fußes und dadurch ein ‚nicht fertig ausgeführter Schritt‘ sind die Folge. Dies kann in Verbindung mit einer suboptimalen prothetischen Versorgung zu einer asymmetrischen Belastung der Körpersegmente führen und durch irreparable Langzeitfolgen begleitet werden8 9 10 11. Das Ziel einer adäquaten prothetischen Versorgung ist der Ausschluss dieser Mängel.
Grundsätzlich existieren unterschiedliche Hilfsmittel (Abb. 1, Mitte), um Betroffene nach einer Vor- oder Mittelfußamputation zu versorgen. Hersteller bieten sowohl knöchelfreie Prothesen ohne Schaft als auch steife Versorgungsmöglichkeiten aus Faserverbundwerkstoffen (FVW) an. Die Hauptunterschiede liegen im Wesentlichen im Schaftverlauf, im verwendeten Werkstoff sowie im prinzipiellen Aufbau des Hilfsmittels6 12. Eines haben aktuell verfügbare Produkte jedoch gemeinsam: Sie bieten kosmetische Vorteile (Bsp. Silikonprothese), sind aber zum größten Teil nicht in der Lage, die nach der Amputation verloren gegangene Gangbiomechanik wiederherzustellen. Dies resultiert häufig in einer eingeschränkten Lebensqualität für den betroffenen Patienten8 13.
Methodik
Im Rahmen einer klinischen Studie (DRKS, DRKS00011929) wurde eine individuell angepasste Carbonvorfußprothese (Fcade, Fa. Häussler Technische Orthopädietechnik GmbH, Ulm) vergleichend zu einer Silikonprothese bewertet. Die mechanische Auslegung der Prothesenfunktionsbereiche (Abb. 1, rechts) erfolgte anhand des jeweiligen Mobilitätswunsches der Studienteilnehmenden. Hiermit sollte eine Balance zwischen erforderlicher Prothesensteifigkeit und ‑flexibilität erreicht werden. Für die Studie wurde eine Probandengruppe (n = 5) von Vor- und Mittelfußamputierten mit Silikonprothese (SP) mit folgenden Ein- und Ausschlusskriterien akquiriert (Abb. 2, unten), bei denen die Amputation im Schnitt über 15 Jahre zurückliegt. Einschlusskriterien: einseitige Amputation entlang der Gelenklinien Lisfranc oder Chopart, Fähigkeit der eigenständigen Fortbewegung ohne Verwendung weiterer Hilfsmittel, maximales Körpergewicht von 135 kg; Ausschlusskriterien: Begleiterkrankungen (Diabetes mellitus, neuromuskuläre Erkrankungen), allgemein schlechter Gesundheitszustand, Körpergewicht über 135 kg.
Nachfolgend der Aufbau der klinischen Studie (Abb. 2, oben):
TS1: Initialuntersuchungen direkt nach Herstellung der Carbonprothesen
TS2a: Langzeituntersuchungen
TS2b: Physiotherapeutische Untersuchungen
TS3: Untersuchungen zu sportlichen Aktivitäten (Teil einer anderen Publikation14)
Im Rahmen der Initialuntersuchungen (TS1) wurden im Ganglabor, ausgerüstet mit einem markerbasierten 3D-Videoanalysesystem (Fa. Simi Reality Motions Systems GmbH, Unterschleißheim) sowie einem instrumentierten Laufband (Fa. zebris Medical GmbH, Isny im Allgäu), gangspezifische, kinetische und kinematische Parameter aufgezeichnet (Abb. 3). Ziel dieser Untersuchung war die Ermittlung des Ist-Zustands des Gangbildes der Studiengruppe mit Silikonprothese sowie die Veränderung des Gangbildes mit Carbonprothese.
Für die Datenerhebung wurden die Studienteilnehmenden gebeten, mit ihrer jeweiligen Wohlfühlgeschwindigkeit auf dem Laufband zu gehen. Der Messzyklus wurde auf zwei valide Wiederholungen und jeweils eine Minute Messzeit festgelegt. Vor jeder Datenaufzeichnung wurde den Teilnehmenden eine Einlaufzeit gewährt, die in ihrer Länge nicht limitiert war. Um eine Vergleichbarkeit der Messergebnisse zu gewährleisten, wurden folgende Maßnahmen über alle Untersuchungen hinweg getroffen:
1) Bereitstellung des gleichen Schuhpaares für jeden Studienteilnehmenden;
2) unveränderte Position und Ausrichtung der Kameras;
3) gleichbleibende Lichtverhältnisse.
Zusätzlich zur instrumentierten Datenakquise wurde mit Hilfe eines speziell entwickelten Fragebogens der subjektive Eindruck der Studienteilnehmenden bezüglich der jeweiligen Prothese erfasst. Dieser umfasste die Bewertung des Sicherheitsgefühls während der Fortbewegung, den bequemen Sitz sowie das äußere Erscheinungsbild der Prothese. Mit einem Teilnehmenden erfolgte eine Langzeituntersuchung (TS2a) über einen Zeitraum von sechs Monaten mit Messdatenerhebungen im Vier-Wochen-Rhythmus. Diese wurde von einer Physiotherapeutin (TS2b) begleitet, um dem Teilnehmenden bei der Eingewöhnung mit einem speziell entwickelten Trainingskonzept zu unterstützen. Zusätzlich wurden der muskuläre sowie der Gleichgewichtszustand mittels Balance-Error-Scoring-System (Bess) sowie Star-Excursion-Balance-Test (SEBT) erfasst. Beide Tests sind Standardmethoden in der Physiotherapie. Bei der Silikonprothese wurde auf die Aufzeichnung der Gangdaten verzichtet, da diese materialbedingt nicht in der Lage ist, die notwendige Widerstandskraft zu erbringen, um den dynamischen Belastungen standzuhalten. Entsprechend würde das Ausführen der Übungen mit dem Silikonhilfsmittel in hohen Kräften auf den Stumpf und dadurch in Schmerzen resultieren. Im Gegensatz dazu wurde in einer weiteren Publikation bereits die Eignung der Carbonprothese für sportliche Aktivitäten untersucht7.
Ergebnisse und Diskussion
Die Aufzeichnung der Gangdaten der TS1 fand direkt nach der Prothesenherstellung statt. Die Ergebnisse des Vergleichs beider prothetischer Hilfsmittel lassen schlussfolgern, dass die Studienteilnehmenden bereits bei der Erstanwendung der Carbonprothese teilweise in der Lage sind, bessere Gangparameter zu erzielen.
Die Ganggeschwindigkeit ist ein eindeutiger Parameter in Bezug auf das Wohlfühl- sowie Sicherheitsempfinden während des Tragens eines prothetischen Hilfsmittels. In der Literatur wird der Bereich zwischen 4,0 und 4,6 km/h als physiologisch für das ‚normale Gehen‘ angesehen1 2 15 16. Während der TS1 waren zwei Probanden mit der Silikonprothese und drei mit der Carbonprothese (CP) in der Lage, bei der angegebenen physiologischen Geschwindigkeit die Messung auf dem Laufband zu absolvieren (Abb. 4, links). Trotz der kurzen Eingewöhnungszeit waren vier Probanden in der Lage, die Ganggeschwindigkeit mit dem neuen Carbonhilfsmittel gegenüber den Probanden mit Silikonversorgung zu erhöhen. Lediglich P2 musste die Ganggeschwindigkeit um ca. 15 % reduzieren.
Ein weiterer Parameter, der bei Vor- und Mittelfußamputierten deutlich auffällt, ist die seitliche Verlagerung des Körperschwerpunktes in Richtung der Amputation. Diese Dysbalance der Biomechanik ist oftmals das Resultat aus einer Muskeldegeneration sowie einer Adaption des Bewegungsapparates zur Kompensation der amputierten Extremität. Nicht selten geht dieses Defizit mit Langzeitfolgen, wie beispielsweise einer Arthritis, einher8. Bereits während der Initialuntersuchung konnte der Absolutwert der seitlichen Verlagerung bei drei von fünf Probanden mit der CP um ein Vielfaches verringert werden (Abb. 4, rechts). Allerdings zeigt sich bei P3 eine Überkompensation, indem die Verlagerung auf die gesunde Seite wandert. Dies deutet auf eine nicht optimal angepasste Ausrichtung der Prothese relativ zur Beinachse hin und wurde im weiteren Verlauf der Studie korrigiert. Bei den Probanden 1 und 4 fiel die CP hinsichtlich des Absolutwertes der seitlichen Verlagerung schlechter aus. Beide Studienteilnehmenden schienen mehr Zeit zu benötigen, um sich an die veränderte Biomechanik mit der CP zu gewöhnen.
Ein weiterer Parameter der Ganganalyse stellt die Symmetrie dar. Typisch für die betrachtete Studiengruppe ist eine Asymmetrie der Schrittlänge, wobei die betroffene Seite deutlich weiter nach vorne geschwungen wird, um möglichst wenig belastet zu werden. Dies konnte bei allen fünf Studienteilnehmenden mit Silikonversorgung festgestellt werden. Die Prothesenversorgung aus Silikon ist materialbedingt nicht in der Lage, den für das Abstoßen notwendigen Vorfußhebel zu generieren, wodurch Betroffene zum frühzeitigen Beenden des Schrittes gezwungen werden. Bei den Probanden 1 bis 3 wurde mit der CP eine teilweise deutlich verbesserte Schrittlängensymmetrie gemessen (Tab. 1). Bei Proband 5 waren die Parameter mit beiden Prothesen annährend identisch. Proband 4 zeigte wie schon bei der Körperschwerpunktverlagerung eine negative Tendenz mit der CP. Die kinematischen Parameter Hüft- und Kniewinkel (Abb. 5) zeigen generell eine große Streuung von Amplitude und Timing. Für die Probandengruppe deutet dies auf eine sehr variable Einleitung und Durchführung des Schrittes hin. Bei der Analyse des Kniewinkels mit der SP zeigt sich mit der fehlenden Flexion in der mittleren Standphase (bei ca. 25 % des Gangzyklus) ein weiteres typisches Muster vor- und mittelfußamputierter Betroffener – das ‚stelzenartige‘ Gangbild, bei dem das Knie während des kompletten Schrittes durchgestreckt bleibt. Das Tragen der CP wirkt diesem Trend bei den Probanden 2 und 5 eindeutig entgegen. Beide Studienteilnehmenden flektieren während der mittleren Standphase das Knie. Bei den weiteren Probanden liegt zwar eine Tendenz, jedoch keine zweifelsfrei erkennbare Verbesserung vor. Das Erscheinen der leichten Flexion könnte auch durch die Überlagerung der beiden aufgenommenen Messungen erklärbar sein. Auf die Auswertung des Sprunggelenkwinkels wurde in dieser Studie verzichtet. Um die für die dynamische Fortbewegung notwendigen Hebel erforderliche Widerstandsfähigkeit aufbringen zu können, schränkt die CP die Beweglichkeit im Sprunggelenk stark ein.
Ein weiterer Aspekt der Studie war der subjektive Eindruck der Studienteilnehmenden. Diese wurden gebeten, anhand einer Sieben-Punkte-Skala bestimmte Fähigkeiten sowie ihre Eindrücke beim Tragen beider Prothesen zu bewerten. Dabei steht der Wert 1 für ‚gar nicht zufrieden‘ und der Wert 7 entsprechend für ‚sehr zufrieden‘. Tab. 2 zeigt die Differenz der Einzelauswertungen. Eine negative Zahl bedeutet ein besseres Ergebnis für die SP; entsprechend eine positive Wertung ein besseres Ergebnis für die CP. Auffällig ist, dass Proband 1 die CP deutlich kritischer bewertet hat als die restlichen Probanden. Die Aspekte bezüglich der Sicherheit beim Gehen, der maximalen Gehdistanz sowie dem Gang an sich, wurden bei der CP zum Teil deutlich höher bewertet. Dies spiegelt auch die Auswertung der Gangparameter der instrumentierten Ganganalyse wider, bei der die CP größtenteils besser ausfiel. Im Hinblick auf die Kosmetik sowie das Aussehen schneidet die SP besser ab. Aus der Auswertung geht zudem hervor, dass keiner der Probanden die CP insgesamt schlechter bewertet hat. Bei den Probanden 1 und 4 fällt die Allgemeinwertung neutral aus. Die Probanden 2 und 5 evaluieren leicht und Proband 3 stark zugunsten der CP.
Aufgrund der Tatsache, dass die Langzeituntersuchungen TS2a und TS2b mit großen zeitlichen Aufwänden verbunden waren, hat sich nur Proband 3 bereit erklärt, daran teilzunehmen. Mit dem Ziel, einen kontinuierlichen Lerneffekt während des Tragens der CP erzielen und beobachten zu können, wurden die Messungen der Initialstudie im Vier-Wochen-Rhythmus über eine Dauer von sechs Monaten wiederholt und analysiert. Aus Gründen einer möglichen Überlastung wurde auf die Untersuchungen mit der SP verzichtet. Die Ergebnisse der Langzeitstudie TS2a ermöglichen keine eindeutige Aussage über die Effekte der Carbonprothese auf das Gangbild. Einige weisen eine deutliche Verbesserung auf, andere bleiben gleich oder verschlechtern sich leicht. Die Abb. 6 (links) zeigt die Wohlfühlganggeschwindigkeit. Dabei werden die einzelnen Messintervalle M1 bis M5 der Initialmessung M0 gegenübergestellt. Die Auswertung der Geschwindigkeit zeigt eine eindeutig positive Entwicklung im Vergleich zu M0. Zu allen Analysezeitpunkten konnte ein Wert größer 4,0 km/h erzielt werden. Des Weiteren zeigen die Messdaten eine nicht konstant zunehmende Geschwindigkeit. Nach den erreichten Spitzenwerten während M2 und M4 folgte ein Abfall fast auf das M0-Niveau. Nichtsdestotrotz zeigt die CP in diesem Fall mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeitssteigerung um 1,16 km/h eine positive Wirkung. In Einzelfällen sogar so weit, dass Proband 3 in ein schnelleres Gehen bzw. Walken übergegangen ist, was zuvor mit der SP nicht möglich war. Die seitliche Verlagerung des Körperschwerpunktes variiert stark zwischen den Einzelmessungen. Es zeigt sich, dass Proband 3 bei eher moderateren Geschwindigkeiten im Bereich von 4,0 bis 4,3 km/h dazu tendiert, den Körperschwerpunkt nach rechts und bei höheren Geschwindigkeiten zu den Zeitpunkten M1, M2 und M4 nach links zu verlagern. Dieser Trend konnte trotz der gleichen bzw. nicht wechselnden Prothesenkonfiguration beobachtet werden. Als Grund für dieses Phänomen wurden neben dem tagesabhängigen Gemütszustand, die über Jahre angeeignete, durch die Amputation verursachte pathologische Gangbiomechanik ausgemacht. Proband 3 tendiert bei einer schnelleren Fortbewegung zu einer Überkompensation. In Bezug auf die Schrittlängensymmetrie (Tab. 3) ergab die Parameterauswertung ein eher negatives Bild. Abgesehen von einer leichten Verbesserung zum Zeitpunkt M1 wurde die Asymmetrie eher vergrößert. Eine eindeutige Beziehung zwischen hoher Geschwindigkeit und schlechter Symmetrie konnte aus den ausgewerteten Daten nicht erkannt werden. Der größte Unterschied zwischen der betroffenen und gesunden Seite wurde bei der maximalen Geschwindigkeit während M4 ermittelt. Die Analyse des Hüft- und Kniewinkels wurde auf die Messungen M3 und M5 limitiert (Abb. 7). Diese wurden bei einer annährend gleichen Geschwindigkeit aufgenommen und sind somit mit M0 vergleichbar. Eine Gegenüberstellung der Ergebnisse des schnellen Gehens bzw. Walkens mit denen des ‚normalen‘ Gehens würde durch die höheren Maxima und gestauchten Kurvenverläufe bei höheren Geschwindigkeiten das Gesamtbild verfälschen. Die Betrachtung des Hüftwinkels der Messzeitpunkte M0, M3 und M5 zeigt einen ähnlichen Verlauf. Der Offset und die Unterschiede in der Amplitude können mit Hilfe der 3D-Videoanalyse erklärt werden. Das Anbringen der Marker an den entsprechenden Gelenkpunkten zur Visualisierung kann anwenderbedingt variieren und dadurch einen geringfügigeren Offset der Daten erzeugen. Beim Kniewinkel war Proband 3 bereits während der Initialuntersuchung (M0) mit der fehlenden Flexion in der mittleren Standphase auffällig. Dieser Trend setzte sich bei M3 fort. Der Kurvenverlauf für M5 im Bereich 10 bis 20 % des Gangzyklus zeigt eine Flexion und könnte auf das Vorhandensein der Stoßdämpfung sowie einen möglichen Lerneffekt beim Tragen der CP hindeuten. Da M5 jedoch den letzten Messzeitpunkt darstellt, konnte diese Aussage im Rahmen der Studie nicht bestätigt werden.
Generell ist zu diskutieren, ob ein Analysezeitraum von sechs Monaten als ‚Langzeit‘ betrachtet werden kann. In der Literatur konnten keine anderweitigen Studien gefunden werden, die Untersuchungen einer vor- und mittelfußamputierten Studiengruppe über einen längeren Zeitraum durchgeführt haben. Erschwerend kommt hinzu, dass derartige Analysen aufgrund der notwendigen Ausstattung immer ortsgebunden und dadurch für die Probanden sehr zeitintensiv sind. Insgesamt betrachtet wirkt sich eine Individualisierung eines prothetischen Hilfsmittels bereits kurzfristig positiv auf das Gangbild und somit auf die gesamte Gangbiomechanik des Patienten aus. Jedoch konnte auch gezeigt werden, dass eine über Jahrzehnte angeeignete Gangpathologie durch eine adäquate Hilfsmittelversorgung kurzfristig nicht umfassend korrigiert werden kann. Dies wird auch durch die Ergebnisse der physiotherapeutischen Untersuchungen TS2b bestätigt. Der Bess-Test dient der Überprüfung der Gleichgewichtsfähigkeit sowie der Sprunggelenkstabilität und wurde ohne zusätzliche Stabilisierungshilfen durchgeführt. Der Proband stand mit geschlossenen Augen abwechselnd in sechs verschiedenen Ausgangspositionen. Die Hände befanden sich an der Hüfte. Ziel war es, für 20 Sekunden eine bestimmte Position zu halten. Wurde im Messzeitraum die Ausgangsposition verlassen, zählte dies als Fehlerpunkt. Die maximale Fehleranzahl pro Position betrug zehn Punkte. Das Ergebnis in Abb. 8 (links) zeigt über den gesamten Analysezeitraum, dass die amputierte Extremität deutlich instabiler ist. Die gesunde Seite zeigt einen variierenden Wert und liegt durchschnittlich etwa sechs Punkte unterhalb der amputierten Extremität. Ergänzend zum Bess-Test wurde der Star-Excursion-Balance-Test (SEBT) mit demselben Ziel, die Gelenkstabilität sowie ‑beweglichkeit zu ermitteln, in die Untersuchungen aufgenommen. Dieser Test wurde im Einbeinstand mit den Händen an der Hüfte durchgeführt. Der Proband befand sich in der Mitte der Y‑Bodenmarkierung und versuchte, die kontralaterale Extremität möglichst weit vom Körper wegzubewegen. Die erreichte Weite musste für drei Sekunden gehalten werden und wurde anschließend protokoliert. Die Übungen a) bis c) wurden für die Testung jeweils zehn Mal wiederholt. Basierend auf der Differenz der Ergebnisse zwischen der gesunden und der amputierten Extremität wurde zuletzt der Gesamtscore ermittelt. Da die Absolutwerte der erzielten Weiten nicht in die Auswertung mit aufgenommen wurden, sind die Resultate des SEBT-Tests positiv. Die Differenz zwischen beiden Seiten nahm mit zunehmendem Verlauf der Studie ab bzw. stabilisierte sich in den letzten beiden Messzyklen. Diese Beobachtung würde wiederum die Aussage bezüglich eines einsetzenden Lerneffekts unterstützen.
Fazit
Die Ergebnisse der durchgeführten Studie zeigen, dass die individuell angepasste Carbonprothese (CP) deutliche biomechanische Vorteile gegenüber der Standardversorgung (SP) bietet. Diese konnten mit Hilfe objektiver Untersuchungsmethoden teilweise nachgewiesen werden und wurden zudem durch den subjektiven Eindruck der Studienteilnehmenden bestätigt. Die meisten Probanden konnten direkt in die Lage versetzt werden, ihre Ganggeschwindigkeit zu erhöhen, und berichteten von einem angenehmen Gefühl im terminalen Stand, was auf den wiederhergestellten Vorfußhebel zurückzuführen ist. Bei einem Großteil der Probanden konnte die durch die Amputation entstandene pathologische Asymmetrie der Gangparameter zumindest partiell verbessert werden. Darüber hinaus wurde mit der CP bei einigen Probanden die der Entlastung der Gelenke dienende Knieflexion während der Standphase wiederhergestellt.
Im Rahmen der Langzeitstudie kam die Probandin P3 zunehmend besser mit der Prothese zurecht, was in einem annähernd physiologischen Gangbild resultierte. Jedoch entwickelte sich auch ein kleiner Teil der Auswertungsparameter leicht negativ, was entweder auf eine schlechte Tagesform oder auf die über die Jahre angeeignete schlechte Körperbiomechanik zurückgeführt werden kann. Der physiotherapeutische Teil der Langzeituntersuchung schließt sich an die Ergebnisse aus TS1 an und belegt, dass die CP gegenüber der SP deutliche Vorteile bietet.
Limitierend muss erwähnt werden, dass es sich bei der Probandengruppe um eine kleine Studienpopulation handelt, deren Amputation vor etwa zwei Jahrzehnten erfolgte. Hier überwiegt der negative Einfluss der nicht optimalen prothetischen Versorgung, wodurch die Biomechanik im Rahmen der Initial- oder Langzeituntersuchung nur teilweise korrigiert werden konnte. Die Umstellung auf ein geeignetes Hilfsmittel zur Rekonstruktion der verlorenen Gangbiomechanik und Wiederherstellung des erforderlichen Vertrauens in eine sichere Fortbewegung benötigt in der Regel viel Zeit und sollte so früh wie möglich nach der Amputation erfolgen.
Für die Autoren:
Eugen Dötzel
Carl Zeiss SMT AG
Rudolf-Eber-Straße 2
73447 Oberkochen
Eugen-Doetzel@web.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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- Kinder mit Trisomie 21: Einsatz der Ganganalyse zur adäquaten Schuh- und Orthesenversorgung — 5. November 2024
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