Einleitung
Personen, die infolge einer Amputation eine Extremität verloren haben, empfinden oft, als sei diese noch vorhanden und fühlen sogar, sie könnten deren Teile bewegen. Oft schmerzt das Phantomglied, obgleich die Wunde des Amputationsstumpfes verheilt ist. Solche Phantomwahrnehmungen korrelieren mit einer synaptischen Reorganisation des betroffenen somatosensorischen Funktionsfeldes der Hirnrinde, die sich anhand magnetoencephalografischer Verfahren abbilden lässt 1 2. Beide Hirnhälften besitzen je ein Rindenfeld, dessen Neurone Prozesse betreiben, die das Bewusstsein für den Körper und seiner Teile hervorbringen. An solchen Neuronen enden Nervenbahnen, die von bestimmten Teilen des Körpers ausgehen. Jedes dieser somatosensorischen Neurone ist folglich mit einer bestimmten Stelle des Körpers verbunden. So wird jede Körperhälfte vom Scheitel bis zur Sohle in verkleinerter Form als Humunkulus auf dem somatosensorischen Rindenstreifen der kontralateralen Hirnhälfte abgebildet 3.
Berührungsreize an Hand, Arm oder Bein lösen Nervenimpulse aus, die an Hand‑, Arm- oder Beinneuronen der Hirnrinde eintreffen und dort die Empfindung für die genannten Körperteile auslösen. Die Amputation einer Extremität unterbricht Nervenbahnen, die von ihr ausgehen und an den entsprechenden Zielneuronen der Hirnrinde enden. Folglich kommen dort keine Nervenimpulse mehr an. Die nicht mehr aktivierten Synapsen, an denen die unterbrochenen Nervenbahnen enden, zerfallen. Das Rindenfeld, welches der amputierten Extremität zugeordnet war, liegt brach. In dieses Feld können Endausläufer von Nervenbahnen eindringen, die normalerweise in einem benachbarten Rindenfeld enden 4 5 6. Ihre weit verzweigenden Endausläufer bilden mit den ungenutzten Neuronen des brachliegenden Bezirkes neue Synapsen. Daher können Nervenbahnen, die beispielsweise von der Hand einer beinamputierten Person ausgehen und im Handfeld der somatosensorischen Hirnrinde enden, ihre Nervenimpulse über seitliche Verzeigungen in das benachbarte, brachliegende Feld der „Beinneurone“ weiterleiten. Dementsprechend vermögen Berührungen und taktile Reize mithilfe von Pinseln oder Bürsten an Stellen der gleichseitigen Hand Phantomwahrnehmungen unterschiedlicher Teile des amputierten Beines auszulösen. Solche Stellen lassen sich als rezeptive Felder der Phantomstimulation auf der Haut kartieren. Welche Endverzweigungen in ein brachliegendes somatosensorisches Funktionsfeld der Hirnrinde aus dessen Nachbarschaft eindringen und neue Kontakte mit den ungenutzten Neuronen schließen, unterliegt offensichtlich dem Zufall. Daher lassen sich Phantomempfindungen für eine amputierte Extremität bei verschiedenen Amputierten auch von individuell unterschiedlichen rezeptiven Feldern der Körperoberfläche anregen.
Ein Schüler des Autors (M. S.) hatte im Alter von 25 Jahren seinen rechten Fuß und Teile des Unterschenkels bei einem Verkehrsunfall eingebüßt. Seitdem trägt er eine Beinprothese. Als ihn einmal seine Katze an der rechten Hand leckte, fühlte sich dies an, als habe er wieder ein intaktes Bein anstelle seiner Prothese. Diese Beobachtung veranlasste die vorliegende Studie.
Methode
Vorversuche
Mithilfe eines Aquarellpinsels wurde die Innen- und Außenseite der rechten Hand und des Unterarmes des Probanden überstrichen. Auf diese Weise ließen sich mehrere rezeptive Felder abgrenzen, von denen Phantomempfindungen bestimmter Teile seines verlorenen Fußes auszulösen waren. Ihre Grenzen wurden mithilfe eines Fettstifts auf die entsprechenden Hautzonen gezeichnet. In digitalen Aufnahmen ließen sich diese Felder mithilfe einer Photoshop-Funktion anhand unterschiedlicher Schraffuren und Grautöne hervorheben (Abb. 1). In der Handinnenfläche fand sich ein rezeptives Feld für den rechten Ballen und die rechte Ferse. Taktile Reize zwischen diesen beiden Feldern lösten Empfindungen eines rechten Fußgewölbes aus. An Daumen und kleinem Finger fand sich je ein rezeptives Feld für die große und kleine Zehe. Die Außenseite der Hand wies drei rezeptive Felder für Sprunggelenk, Fußrücken und großen Zeh auf.
In Vorversuchen stellte sich heraus, dass auch elektrische Spannungsimpulse eines Funktionsgenerators, die durch kleinflächige Elektroden an die bezeichneten Stellen der rechten Hand geleitet wurden, Phantomempfindungen der entsprechenden Stellen des rechten Fußes auslösten. Wirksam waren bipolare elektrische Reizungen, für die je ein Paar flache Elektroden in jedes der beiden rezeptiven Felder für Ballen und Ferse geklebt wurde. Auf sie wurden Serien von Rechteck- oder Sägezahnimpulsen zwischen fünf bis zehn Volt und einer Frequenz von 70 Impulsen pro Sekunde geleitet. Wurde die Handinnenfläche im rezeptiven Feld nahe der Handwurzel gereizt, stellte sich sogleich die Empfindung einer rechten Ferse ein. Dagegen verursachten elektrische Impulse im rezeptiven Feld entlang der Fingergrundgelenke die Empfindung eines rechten Ballens.
Prototyp eines Phantomstimulators
Nach diesen Vorversuchen wurde ein tragbarer, batteriegespeister Impulsgenerator gebaut. Verbunden mit den beiden auf die rezeptiven Felder der Handinnenfläche geklebten Elektroden- Paaren, konnte er am rechten Unterarm oder wahlweise am Gürtel getragen werden. Das Gefühl, mit Ballen und Ferse zu schreiten, sollte sich einstellen, wenn deren Phantomempfindungen gemäß der Schrittfolge ausgelöst werden. Daher wurden zwei Kontaktsensoren in die Sohle des rechten Schuhs der Versuchsperson eingelassen, den er dem Fuß seiner Beinprothese anzog (Abb. 2). Mit dem Schließen und Öffnen dieser Kontaktsensoren wurden die zu den beiden rezeptiven Feldern der Handinnenfläche führenden Stromkreise des Impulsgenerators geschaltet oder unterbrochen.
Die Verbindungskabel zwischen den Drucksensoren der Schuhsohle und dem Impulsgenerator konnten durch das Hosenbein geführt werden, doch wurde diese Verkabelung als störend empfunden. Daher wurden die von den Drucksensoren ausgehenden Kabel zu einem kleinen Sendegerät geleitet, das unterhalb des Prothesenschafts befestigt war. Dementsprechend wurde der tragbare Impulsgenerator um einen Empfänger ergänzt. So konnten die beiden Stromkreise der rezeptiven Felder für Ballen und Ferse mithilfe einer Funkbrücke von den betätigten Drucksensoren geschlossen und geöffnet werden.
Ergebnisse
Während der Proband mit dem Phantomstimulator umherlief, schlossen und öffneten sich die Kontaktsensoren unter dem Prothesenfuß im Takt des Schrittes. Dementsprechend wurden die palmaren rezeptiven Felder seiner rechten Hand elektrisch stimuliert und lösten gemäß seiner Schrittfolge Phantomempfindungen für Ballen und Ferse aus. Dabei gingen diese Phantomempfindungen derart ineinander über, dass er den Eindruck hatte, wieder mit einem intakten rechten Bein zu schreiten. Infolgedessen war es ihm auch möglich, seine Prothese so zu belasten, dass Gangbild und Haltung verbessert wurden. Als der Phantomstimulator nach ungefähr einer halben Stunde abgenommen wurde, hielt die Phantomempfindung eines intakten Beines mit Ballen und Ferse noch für eine Stunde an.
Der Phantomstimulator konnte an einem zweiten, 48-jährigen Beinamputierten (D. L.) erprobt werden. In dessen linkem Bein hatte sich eine allgemeine Nekrose unbekannter Ursache ausgebreitet, die vor ungefähr zwei Jahren eine Amputation wenige Zentimeter oberhalb des Knies erforderlich machte. Seit dieser Amputation litt D. L. an starken Phantomschmerzen, die er mit einer Reihe oraler Präparate zu lindern suchte, ohne sie je ganz auslöschen zu können. Er fühlte, als halte ein Muskelkrampf sein linkes Bein fortwährend extrem gebeugt. Diese schmerzhafte Beugehaltung seines Phantombeines wurde anhaltend von einem brennenden Prickeln verstärkt. Die Phantomempfindung eines extrem gebeugten Beines bestand auch, wenn er mit seiner Beinprothese lief und verwehrte ihm das Gefühl, diese normal belasten zu können.
An der dorsalen Seite des linken Unterarmes dieses Amputierten wurden rezeptive Felder gefunden, von denen sich Phantomempfindungen für Teile seines Beines sowohl taktil als auch mithilfe elektrischer Impulsströme auslösen ließen, für die Spannungen zwischen 20 und 30 Volt gewählt werden mussten (Abb. 3).
Eine Hautzone war als gemeinsames rezeptives Feld der Achillessehne und der Ferse zugeordnet, das andere allen fünf Zehen und dem Ballen des Phantomfußes. Beide Felder trennte ein schmaler Streifen, dessen taktile oder elektrische Reizung die schmerzhafte Flexion zugunsten einer normalen Streckung des Phantombeines aufhob. Daher wurde ein Elektrodenpaar auf diesen Hautstreifen geklebt, das andere auf das rezeptive Feld von Achillessehne und Ferse. Der Stromkreis des ersten Elektrodenpaares wurde von einem Kontaktsensor im Ballenbereich, das zweite von einem Kontaktsensor im Fersenteil der linken Schuhsohle gesteuert. Mithilfe des derart eingestellten Phantomgenerators wurde die schmerzhafte Flexion des Phantombeines in eine Streckung überführt, sodass der Proband ohne Schmerzen umherlaufen und den Boden unter seiner Prothese spüren konnte. Als nach einem Spaziergang von eineinhalb Stunden der Phantomstimulator abgenommen wurde, empfand er für mehrere Stunden, als besäße er ein intaktes linkes Bein. Überdies blieben seine Phantomschmerzen auf ein erträgliches Maß reduziert, sodass er seine Schmerz- und Einschlafmittel für zwei Tage absetzen konnte.
Diskussion
Die einleitend angeführten Belege für eine neuronale Reorganisation des somatosensorischen Rindenfeldes nach Deafferenzierung einer Extremität erklären die Anlage rezeptiver Hautfelder, deren Reizung Phantomempfindungen von Teilen der verlorenen Extremität auslöst. Da es sich hier um eine allgemeine neurobiologische Reaktion auf eine Amputation handelt, ist die Hoffnung begründet, rezeptive Felder, wie sie bei den hier beschriebenen Personen angetroffen wurden, auch bei anderen Amputierten aufzufinden. Mithilfe elektrischer Reizimpulse können dann Phantomempfindungen für Teile der verlorenen Extremität ausgelöst werden. Es kann jedoch nicht vorausgesagt werden, ob und wo jeweils solche rezeptiven Felder infolge einer Reorganisation des entsprechenden somatosensorischen Rindenfeldes angelegt werden. Ähnlich den beiden genannten Personen M. S. und D. L. dürfte sich die Mehrheit von Menschen mit Amputationen nicht bewusst sein, solche rezeptiven Felder zu besitzen. M. S. wurde erstmals darauf aufmerksam, als ihm seine Katze die rechte Hand leckte.
Um das hier beschriebene Verfahren allgemein für Amputierte nutzbar zu machen, müssen deren individuelle rezeptive Felder anhand taktiler Reize aufgefunden und an den entsprechenden Körperstellen kartiert werden. Dann lässt sich der räumlichen Anordnung solcher Felder ein individuelles Elektroden-Set anpassen, das mit einem tragbaren Funktionsgenerator verbunden wird, dessen Stromkreise von geeigneten Berührungs- oder Drucksensoren gesteuert werden. Es bleibt an einer größeren Zahl beinamputierter Personen zu prüfen, inwieweit der Gebrauch eines Phantomstimulators das Gangbild und die Körperhaltung verbessern und überdies Phantomschmerzen lindern kann. Beide Teilnehmer an dieser Studie hatten Teile einer unteren Extremität verloren und dafür rezeptive Felder erhalten, von denen sich entsprechende Phantomempfindungen sowohl taktil als auch elektrisch auslösen ließen. Analoge rezeptive Felder für Phantomempfindungen von Teilen einer amputierten oberen Extremität lassen sich gleichfalls finden. Ramachandran und Hirstein 7 beschrieben in ihrem ausführlichen Beitrag zur Wahrnehmung von Phantomgliedern u. a. den Fall eines jungen Mannes, der infolge eines Motorradunfalls seine rechte Hand und Teile seines Unterarmes verloren hatte. Infolge der Deafferenzierung von Nervenbahnen dieser Hand ließ die synaptische Reorganisation des somatosensorischen Rindenfeldes seiner linken Hirnhälfte rezeptive Felder an Hautzonen des rechten Oberarmes entstehen, deren taktile Reizung selektiv Phantomempfindungen für einzelne Finger und die palmare Handfläche auslösten. Dieser Beleg eröffnet die Möglichkeit, auch rezeptive Felder für Teile einer amputierten oberen Extremität an weiteren Amputierten auffinden zu können. Ähnlich dem hier beschriebenen elektrischen Phantomstimulator für Teile eines Fußes ließe sich auch eine Variante konstruieren, die, gesteuert von Kontaktsensoren einer Handprothese, entsprechende Phantomempfindungen für einzelne Finger oder andere Teile einer amputierten Hand erzeugt.
Möglicherweise bilden sich infolge einer Reorganisation der somatosensorischen Hirnrinde bei einer Vielzahl körperversehrter Personen rezeptive Felder, deren elektrische Reizung Phantomempfindungen für Teile der verlorenen Extremität auslösen kann. Dann könnte ein dem hier beschriebenen Phantomstimulator ähnliches System eingesetzt werden. Im Gebrauch mit einer herkömmlichen Beinprothese könnte es das Gangbild und die gesamte Körperhaltung verbessern und damit zur physischen Rehabilitation amputierter Menschen beitragen.
Hinweis
Das Deutsche Patent- und Markenamt (München) hat den beschriebenen Phantomstimulator als Gebrauchsmuster Nr. 20 2011 002 819,4 eingetragen. Seit Abfassung des Manuskripts zum vorliegenden Beitrag wurde von der Firma W+S Meßsysteme GmbH (Spaichingen) eine Nullserie von 20 verkleinerten, akkugespeisten Versionen des Phantomstimulators hergestellt. Ein Teil dieser Geräte ist bereits seit mehreren Monaten erfolgreich in einem Feldtest an weiteren ober- bzw. unterschenkelamputierten Personen im Alter zwischen 30 und 65 Jahren eingesetzt. Teils weisen diese Probanden ähnlich den beiden oben genannten Versuchsteilnehmern rezeptive Felder an Hand oder Unterarm auf, teils an Oberschenkel oder Amputationsstumpf. Bei einer 28-jährigen Patientin mit linkseitiger Unterschenkelamputation fanden sich rezeptive Felder für Zehen, Ferse und Fußrücken in gleicher Anordnung sowohl am linken Oberschenkel als auch am linken Unterarm. An dem Feldtest nehmen auch beinamputierte Patienten der Gehschule Iris Heyen (Roßhaupten) teil.
Der Autor:
Prof. Dr. rer. nat. Dr. med.
habil. Alfred Meier-Koll
Forschungsstelle für experimentelle
Ergo- und Physiotherapie an der
privaten Fachhochschule Nordhessen,
Studienzentrum Friedrichshafen und
Plettenbergschule Ausbildungszentrum
für Physiotherapie Zollernalbkreis
alfred.meier-koll@plettenbergschule.de
Begutachteter Beitrag/Reviewed paper
Meier-Koll A. Ein Phantom-Stimulator für amputierte Gliedmaßen. Orthopädie Technik, 2013; 64 (5): 36–39
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