„Vielleicht sollten wir in Deutschland mal dem Zweifel seine Attraktivität nehmen“, sagte Univ. Prof. Dr. Thomas Druyen in der Diskussionsrunde unter dem Titel „Verantwortung übernehmen: Wie steht es um die digitale Versorgung und unser Mindset eHealth?“ Für den Direktor der Sigmund Freud PrivatUniversität, Institut für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement, der ebenfalls im Vorstand des Opta Data Instituts sitzt, war die OTWorld „ein biografisches Happening“: „Hier sind mutige Leute, hier sind Visionäre“, meinte er begeistert. „Für mich steht über dem Gebäude Mut“, so Druyen. Und Mut kann die Branche mit Blick auf die Digitalisierung gut gebrauchen. Denn: „Zumindest theoretisch geht heute sehr viel“, wie auch Moderator Henning Quanz betonte. Zwar werde im Gesundheitswesen vom Digitalen geträumt, die Realität sei dann aber doch noch sehr analog.
Neue Art des Denkens
„Digitalisierung ist eine neue Art des Lebens, eine neue Art des Denkens, eine neue Art des Organisierens“, erklärte Druyen. Es handele sich um ein „anderes neuronales Mindset“, bei dem Jugendliche teils ihren Lehrern überlegen seien und in dem die Gesellschaft noch nicht angekommen sei. „Die Digitalisierung kann ich besser erklären als mein 15-jähriger Sohn – der kennt sich nur besser aus.“ Die Deutschen seien „Resilienzweltmeister“: Wer auf Sicherheit setze, habe Probleme mit Unsicherheit und letztlich mit Veränderung. „Wir brauchen einen intergenerativen Mix, um Schwerfälligkeit zu überwinden“, wie es Druyen nannte. So mancher habe Angst vor der „Streichung“ des Analogen. Doch das Analoge im Sinne von Fachkompetenz werde immer bestehen bleiben. Gefragt seien letztlich praktische Ergebnisse, die überzeugen könnten. So habe eine virtuelle Gesundheitsversorgung einen klaren Mehrwert: Plötzlich könne man Ärzt:innen aus aller Welt dazuholen – den Vorteil sehe jeder ein. „Veränderung kommt einhundertprozentig nicht von der Politik“ – sie müsse von den Patient:innen und aus dem Markt kommen.
Prophet im eigenen Haus
„Man muss sich im Unternehmen einen Propheten suchen. Einen jungen Menschen“, berichtete Alf Reuter, Präsident des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik (BIV-OT) und Vorstandsmitglied des Bündnisses „Wir versorgen Deutschland“, von seinen Digitalisierungserfahrungen. Erste digitale Prozesse habe er in seinem Betrieb 2014 eingeführt und seitdem eine steile Lernkurve hingelegt. Inzwischen sei vieles einfacher geworden – so brauche man dank Pay-per-Click-Modellen keine Software mehr zu kaufen. Die Investitionshöhe sei geringer als noch vor zehn Jahren. Die Hardwarekosten seien ebenfalls minimiert. Was allerdings ins Gewicht falle, seien Schulungskosten für die Mitarbeiter:innen. Die Jüngeren sind da aber recht schnell fit, schildert er seine Erfahrung. „Jüngere sprechen schon vom ‚betreuten Modellieren’, wenn ein Älterer rangeht.“ Es gebe einen Altersunterschied bei der Fähigkeit, solche Programme zu nutzen. Künftig werde das anders, denn die Orthopädie-Technik werde jünger und weiblicher. „Und das ist auch gut so. Ich habe fast nur noch weibliche Azubis. In zehn Jahren wird auch so ein Podium anders aussehen“, spielte Reuter auf die Zusammensetzung der Runde an – sechs Männer und eine Frau.
Verwaltung ist „Flaschenhals“
„Wenn ich mir die digitalen Prozesse in der Werkstatt anschaue, bin ich Innovationstreiber“, unterstrich Reuter. Digitale Verwaltungsprozesse würden jedoch von den Krankenkassen ausgebremst: „Da ist das Fax die Realität.“ Für die Zukunft hofft er auf „durchdigitalisierte“ Prozesse. „Es ist eine Mini-Digitalisierung. Vom E‑Rezept zurück zum Papierausdruck …“, bestätigte Prof. Dr. Wolfram Mittelmeier, der erste Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung (DGIHV) e. V. und Direktor der orthopädischen Klinik und Poliklinik, Rostock. Er hofft auf Apps, die die Patient:innen unterstützen und zu mehr Adhärenz, also Therapietreue, führen. 3D-Planung und 3D-Druck gehören für ihn zum Alltag, wie Mittelmeier sagte. Was fehle, seien einheitliche Standards, um untereinander bzw. zwischen verschiedenen Einrichtungen zu kommunizieren. Wesentlich sei zudem, die Fehlerquote zu minimieren. Gemeinsam mit Prof. Dr. Neeltje van den Berg, Bereichsleitung Innovative Konzepte, regionale Versorgung an der Universität Greifswald, berichtete er von E‑Health-Projekten in Mecklenburg-Vorpommern. Digitalisierung benötige ein „Umdenken in Organisation und Struktur“, so van den Berg. Ihr Projekt ziele darauf, die Facharztsituation in ländlichen Regionen zu verbessern und Expert:innen in Echtzeit zu verbinden. Im Bereich Geriatrie zum Beispiel seien in Mecklenburg-Vorpommern regionale Patientenakten implementiert worden. „Alle Behandler inklusive Ärzte, Sanitätshäuser, Pflegedienste, Therapeuten und Apotheken sind dabei. Gerade Sanitätshäuser sind sehr engagiert“, erzählt sie. „Die Möglichkeit, durch E‑Health alle Gesundheitsberufe in den ‚Inner Circle’ einzubeziehen, ist eine Riesenchance.“ An gegenseitige Transparenz müssten sich aber alle Beteiligten gewöhnen.
Grips behalten
„Das Erste, was wir tun müssen, ist die Angst aus dem System rauszunehmen“, stellte Kongresspräsident Dipl.-Ing. Merkur Alimusaj fest. Für den Leiter der Technischen Orthopädie an der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg beginnt Digitalisierung mit der Ausbildung. Dabei dürfe das Wissen der „Alten“ weder verteufelt noch vergessen werden. „Wir werden es brauchen“, so Alimusaj. „Es gibt zurzeit keinen Algorithmus weltweit, der das individuelle Anpassen übernehmen kann. Das ist Grips, das ist Orthopädie-Technik.“ Mehr Zeit für Patient:innen jedoch – das können digitale Tools schaffen. Und mit digitaler Hilfe lassen sich die gesetzlichen Anforderungen der EU-Medizinprodukte-Verordnung (MDR, Medical Device Regulation) besser erfüllen, wie Dr. Urs Schneider, Leiter des Bereichs Medizin- und Bioproduktionstechnik beim Fraunhofer IPA, feststellte: „Die Betriebe müssen mehr in Sicherheit und Qualität investieren. Das lässt sich nur mit Digitalisierung stemmen.“
Cathrin Günzel
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