Dys­me­li­en der unte­ren Extre­mi­tät: phy­sio­the­ra­peu­ti­sche Behand­lung und Beson­der­hei­ten im Kon­text der inter­dis­zi­pli­nä­ren Zusammenarbeit

W. Ackermann
Die Behandlung von Patienten mit Dysmelien im Bereich der unteren Extremität unterliegt besonderen therapeutischen Anforderungen. Dabei profitieren die Patienten von einem interdisziplinären Behandlungsansatz. Ergänzend zur fachorthopädischen Betreuung stellen auch Physiotherapeuten und Orthopädie-Techniker einen unverzichtbaren Teil des Behandlungsteams dar. Anhand zweier Fallbeispiele aus der Orthopädischen Kinderklinik Aschau werden wesentliche Aspekte der Behandlung diskutiert.

Ein­lei­tung

Die fol­gen­den typi­schen ange­bo­re­nen Fehl­bil­dun­gen an der unte­ren Extre­mi­tät las­sen sich klas­si­fi­zie­ren: pro­xi­ma­ler foka­ler Femur­de­fekt, fibu­lä­rer Längs­de­fekt und tibia­ler Längs­de­fekt. Auf die­se ver­schie­de­nen For­men wird im Fol­gen­den genau­er eingegangen.

Pro­xi­ma­ler foka­ler Femur­de­fekt (PFFD)

Der pro­xi­ma­le foka­le Femur­de­fekt (PFFD) tritt mit einer Häu­fig­keit von 1,5 pro 100.000 Gebur­ten auf 1. Die häu­fig genutz­ten Klas­si­fi­ka­tio­nen nach Ait­ken (1959) 2, Pap­pas (1983) 3 4 und Paley (1998) 5 ori­en­tie­ren sich in ers­ter Linie am radio­lo­gi­schen Befund. Bei bis zu 70 Pro­zent der betrof­fe­nen Pati­en­ten tre­ten asso­zi­ier­te Fehl­stel­lun­gen wie bei­spiels­wei­se Val­gus­ab­wei­chun­gen am Knie, Fehl­bil­dun­gen im Bereich der Patel­la, Hypo- und Apla­si­en der Fibu­la oder Fuß­fehl­stel­lun­gen und Strah­len­de­fi­zi­te 6 auf. Kli­nisch zei­gen sich eine Ver­kür­zung des Femurs, Kon­trak­tu­ren im Bereich des Hüft­ge­len­kes (Beu­ge­kon­trak­tu­ren, Außen­ro­ta­ti­ons- und Abduk­ti­ons­kon­trak­tu­ren) sowie bei zusätz­li­chem Fibu­la­de­fekt Insta­bi­li­tä­ten im Bereich des Knie­ge­len­kes 7 8. Bei höher­gra­di­gen Defek­ten tre­ten zudem pel­vi­fe­mo­ra­le Insta­bi­li­tä­ten auf. Das Behand­lungs­ziel soll­te in jedem Fall die achs­ge­rech­te Belast­bar­keit der betrof­fe­nen Extre­mi­tät sein. Im Bereich des Unter­schen­kels über­wie­gen die lon­gi­tu­di­na­len Defek­te von Tibia und Fibula.

Fibu­lä­rer Längsdefekt

Der fibu­lä­re Längs­de­fekt tritt mit einer Häu­fig­keit von 0,31 pro 10.000 Gebur­ten auf 9 und ist die am häu­figs­ten auf­tre­ten­de Dys­me­lie-Form im Bereich der unte­ren Extre­mi­tä­ten. Geläu­fi­ge Klas­si­fi­ka­tio­nen wur­den von Ach­ter­mann & Kalam­chi (1997) sowie von Birch et al. (2011) ver­öf­fent­licht 10 11. Fibu­lä­re Längs­de­fek­te gehen mit einer Hypop­la­sie des gesam­ten Unter­schen­kels, Femur­de­fek­ten (bei zwei Drit­teln der Pati­en­ten), Kreuz­banda­pla­sie (bei 18 Pro­zent) sowie Fuß­fehl­stel­lun­gen (bei fast allen Pati­en­ten) ein­her. Kli­nisch zei­gen sich eine sicht­ba­re Ver­kür­zung des Unter­schen­kels, eine ante­kur­vier­te und val­gi­sche Tibia, Val­gus­ab­wei­chun­gen im Knie­ge­lenk, Knie­ge­lenks­in­sta­bi­li­tä­ten sowie ein feh­len­der late­ra­ler Mal­leo­lus bei Fibu­laa­pla­sie (Hoch­stand bei Hypop­la­sie). Der Fuß steht meist in Equi­n­o­val­gusstel­lung. Zudem besteht eine Ver­kür­zung des M. tri­ceps surae und der Mm. peron­ei. Im Rück­fuß ist der Fuß auf­grund von Syn­osto­sen der Fuß­wur­zel oft rigi­de 12.

Tibia­ler Längsdefekt

Mit einer Häu­fig­keit von 0,21 pro 100.000 Gebur­ten ist der tibia­le Längs­de­fekt sehr sel­ten. In der Pra­xis fin­den die Klas­si­fi­ka­tio­nen von Kalam­chi & Dawe (1985), Jones (1978) und Weber (2002) Anwen­dung 13 14. Fast 80 Pro­zent der Pati­en­ten mit tibia­len Defek­ten wei­sen wei­te­re asso­zi­ier­te Anoma­lien auf 15.Hier­zu zäh­len ver­schie­de­ne Fehl­bil­dun­gen im Bereich des Fußes (sub­tala­re Koali­tio­nen, Strah­len­de­fek­te, Syn­d­ak­ty­li­en, Poly­dak­ty­li­en, Spalt­fuß sowie Varus­fehl­stel­lung der Groß­ze­he), Femur­hy­pop­la­si­en, Anoma­lien an Hüft­ge­len­ken und der Wir­bel­säu­le sowie Herz­feh­ler. Kli­nisch zei­gen sich eine Ver­kür­zung und Defor­mie­rung des Unter­schen­kels, ein hypop­las­ti­sches dista­les Femur, eine Fle­xi­ons­kon­trak­tur im Knie (Typ I > 45°, Typ II 25–45°) 16, Ein­schrän­kun­gen in der Qua­dri­zeps­funk­ti­on (Typ  I: kei­ne, Typ II: redu­ziert) und auch Klump­fuß­stel­lun­gen 17 18 19. Das pri­mä­re Behand­lungs­ziel ist in einer best­mög­li­chen Knie­ge­lenks­be­weg­lich­keit und der plan­ti­gra­den Fuß­stel­lung bei best­mög­li­chem Aus­gleich der Bein­län­gen­dif­fe­renz zu sehen 20.

Behand­lungs­kon­zep­te

Im Fol­gen­den wer­den die phy­sio­the­ra­peu­ti­schen Beson­der­hei­ten in Abhän­gig­keit vom Alter bei Pati­en­ten mit Fehl­bil­dun­gen am Ober­schen­kel (PFFD) und Unter­schen­kel (Fibu­la- und Tibia­hy­po-/-apla­sie) beschrie­ben. Auf­grund der indi­vi­du­ell sehr unter­schied­li­chen Befun­de wer­den ent­spre­chend den Begleit­sym­pto­ma­ti­ken und dem Alter des Pati­en­ten die phy­sio­the­ra­peu­ti­schen Behand­lungs­zie­le und ‑maß­nah­men spe­zi­ell für jeden Pati­en­ten fest­ge­legt. Die Aus­wahl der Behand­lungs­tech­ni­ken begrün­det sich größ­ten­teils auf lang­jäh­ri­gen Erfah­rungs­wer­ten der Ver­fas­se­rin. Bis­her wur­den für die The­ra­pie von Dys­me­li­en kei­ne phy­sio­the­ra­peu­ti­schen Ver­sor­gungs­leit­li­ni­en veröffentlicht.

Das inter­dis­zi­pli­nä­re Behand­lungs­kon­zept rich­tet sich nach den kurz‑, mit­tel- und lang­fris­tig geplan­ten Behand­lungs­stra­te­gien. Sowohl bei der Phy­sio­the­ra­pie als auch bei der ortho­pä­die­tech­ni­schen Ver­sor­gung soll­ten anste­hen­de Ope­ra­tio­nen – bei­spiels­wei­se geplan­te Fuß­un­ter­stel­lun­gen, Achs­kor­rek­tu­ren, Ampu­ta­tio­nen oder Ver­län­ge­rungs­os­teo­to­mien – bekannt sein und berück­sich­tigt werden.

Säug­lin­ge und Kleinkinder

Da die kogni­ti­ven Fähig­kei­ten der Kin­der in der Regel nicht ein­ge­schränkt sind, ver­fü­gen sie über eine funk­tio­nie­ren­de Hand­lungs­pla­nung. Im Gegen­satz zu erwor­be­nen Ampu­ta­tio­nen wei­sen Pati­en­ten mit Dys­me­li­en kei­ne Ope­ra­ti­ons­nar­ben, Kno­chen- und Ner­ven­stümp­fe, knö­cher­ne Zuspit­zun­gen am Stumpf und Phan­tom­schmer­zen auf. Kör­per­sche­ma und ‑gefühl sind nor­mal ent­wi­ckelt. Der Unter­schied besteht in der form­ver­än­der­ten und/oder mehr oder weni­ger ver­kürz­ten Extre­mi­tät 21; die kor­ti­ka­le Reprä­sen­ta­ti­on ist dage­gen in der Regel unbe­scha­det 22. Säug­lin­ge mit uni­la­te­ra­len Dys­me­li­en fal­len häu­fig durch eine asym­me­tri­sche Stel­lung des Rump­fes und eine Vor­zugs­hal­tung des Kop­fes in Rücken- und Bauch­la­ge auf. Zur posi­ti­ven Beein­flus­sung die­ser Asym­me­trie und der Wir­bel­säu­len­ent­wick­lung bie­ten sich Behand­lun­gen auf neu­ro­phy­sio­lo­gi­scher Basis nach Bobath 23 und Voj­ta 24 an. Die­se bie­ten zudem eine gute Grund­la­ge zur För­de­rung der all­ge­mei­nen moto­ri­schen Entwicklung.

Neben der all­ge­mei­nen Ent­wick­lungs­för­de­rung durch die neu­ro­phy­sio­lo­gi­schen Behand­lungs­an­sät­ze nach Bobath und Voj­ta steht bei allen Dys­me­lie­for­men die Ver­bes­se­rung der pas­si­ven und akti­ven Beweg­lich­keit an der betrof­fe­nen Extre­mi­tät phy­sio­the­ra­peu­tisch im Vor­der­grund. Gera­de bei Kin­dern mit PFFD sind eine Ver­bes­se­rung der Hüft­streck­fä­hig­keit sowie eine Mobi­li­sa­ti­on aus der bestehen­den Abduk­ti­ons- und Außen­ro­ta­ti­ons­stel­lung wich­tig. Hier­für bie­ten sich Tech­ni­ken aus der Manu­el­len The­ra­pie, in ers­ter Linie unter Trak­ti­on, an (Abb. 1).

Beim tibia­len Defekt besteht bereits nach der Geburt eine Ein­schrän­kung in der Knie­ge­lenks­be­weg­lich­keit. Mit dem Wis­sen um die Aus­prä­gungs­form des Defek­tes und die Stel­lung des Gelen­kes kann mit Manu­el­ler The­ra­pie (unter Trak­ti­on) das Bewe­gungs­aus­maß ver­grö­ßert und gege­be­nen­falls – ent­spre­chend Voj­ta – die akti­ve Bewe­gung im Knie­ge­lenk unter­stützt wer­den. Bei nahe­zu allen Dys­me­li­en am Unter­schen­kel ist der Fuß mit­be­trof­fen. Ent­spre­chend der Fehl­stel­lung kom­men aus­ge­wähl­te manu­el­le Tech­ni­ken (z. B. Deh­nung, Mobi­li­sa­ti­on, Fas­zi­en­tech­ni­ken, Trak­ti­on) zum Ein­satz. Erfah­rungs­ge­mäß bringt auch die drei­di­men­sio­na­le manu­el­le Fuß­the­ra­pie nach Zukunft-Huber 25 Behand­lungs­er­fol­ge mit sich, jedoch wur­de bis­her kein wis­sen­schaft­li­cher Nach­weis dafür erbracht. Eine früh­zei­ti­ge Anlei­tung in den unter­schied­li­chen The­ra­pie­for­men sowie ein unter­stüt­zen­des Coa­ching der Eltern durch den The­ra­peu­ten sind in jedem Fall unabdingbar.

Sobald die Kin­der begin­nen, sich zu ver­ti­ka­li­sie­ren – meist um den 9. bis 12. Lebens­mo­nat 26 – ist bei deut­li­cher Bein­län­gen­dif­fe­renz oder Insta­bi­li­tät auf der betrof­fe­nen Sei­te eine ers­te Orthe­sen- oder Orthop­ro­the­sen­ver­sor­gung durch einen erfah­re­nen Tech­ni­ker indi­ziert. Bei Kin­dern mit Fehl­bil­dun­gen im Bereich der Fibu­la und gerin­ger Bein­län­gen­dif­fe­renz genü­gen, sofern das Knie­ge­lenk sta­bil ist, eine Schu­her­hö­hung und ggf. eine sta­bi­li­sie­ren­de Sprung­ge­lenks­or­the­se. Opti­mal ist es, wenn bereits zu die­sem Zeit­punkt Abspra­chen zwi­schen den behan­deln­den The­ra­peu­ten und dem Ortho­pä­die-Tech­ni­ker erfol­gen. Die Ver­sor­gung soll­te bei best­mög­li­cher Kor­rek­tur der Fehl­stel­lung bequem, ein­fach anzieh­bar und leicht sein 27.

Auf ein mecha­ni­sches Knie­ge­lenk wird bei Pati­en­ten mit einer PFFD bis zur Voll­endung des zwei­ten Lebens­jah­res auf­grund der Pro­por­tio­nen und der Tat­sa­che, dass die Kin­der sich meist am Boden bewe­gen und das Knie häu­fig gebeugt wer­den wür­de, bewusst ver­zich­tet 28. Bei Kin­dern mit einem Fibu­la­de­fekt und star­ker Bein­län­gen­dif­fe­renz bei gleich­zei­tig sta­bi­lem Knie­ge­lenk ist eine unter­schen­kel­lan­ge Ver­sor­gung aus­rei­chend; knie­ge­lenks­über­grei­fen­de Orthe­sen kom­men bei insta­bi­len Knie­ge­len­ken zum Ein­satz. Die Ver­sor­gung des Tibia­de­fek­tes erfolgt ent­spre­chend der Aus­prä­gung der Fehl­bil­dun­gen unter­schen­kel­lang oder knie­ge­lenks­über­grei­fend. Sobald die Ver­sor­gung pass­ge­recht ist, begin­nen die Kin­der meist von allein mit den ers­ten Hoch­zieh- und Steh­ver­su­chen. Unter­stützt wird dies the­ra­peu­tisch ent­spre­chend der nor­ma­len Ent­wick­lung: vom Ste­hen – hier­bei wird eine sym­me­tri­sche Bein­be­las­tung ange­strebt (Abb. 2a u. b) – über das Seit­wärts­ge­hen an Gegen­stän­den (Abb. 2c) bis hin zum frei­en Gehen. Alters­ent­spre­chend soll­te im Rah­men der The­ra­pie u. a. auch das Auf­ste­hen vom Boden, das Klet­tern (Abb. 2d) und das Abstüt­zen beim Fal­len geübt wer­den. Durch die von Neu­gier gepräg­te star­ke intrin­si­sche Moti­va­ti­on wol­len sich die Kin­der in ers­ter Linie aus­pro­bie­ren und mit ande­ren Kin­dern mit­hal­ten. In die­sem Alter ist es oft her­aus­for­dernd für die Eltern und The­ra­peu­ten anzu­schau­en, in wel­cher Wei­se die Kin­der rennen.

Schul­kin­der

Wachs­tums- und ent­wick­lungs­be­dingt ver­än­dern sich nicht nur die Orthe­sen- und Pro­the­sen­ver­sor­gung, son­dern auch die the­ra­peu­ti­schen Zie­le und Maß­nah­men: Wäh­rend im Klein­kind­al­ter die pas­si­ven Maß­nah­men zur Ver­bes­se­rung der Beweg­lich­keit über­wie­gen, kom­men nun mehr und mehr akti­ve Übun­gen zum Einsatz.Kräftigungsübungen, die auch als Heim­übungs­pro­gramm ange­lei­tet wer­den, füh­ren zur Ver­bes­se­rung der Wir­bel­säu­len­sta­bi­li­tät und zur Kräf­ti­gung der bein­stre­cken­den Mus­ku­la­tur. Das Kraft- und Aus­dau­er­trai­ning kann ent­spre­chend den NSCA-Gui­de­lines (NSCA = Natio­nal Strength and Con­di­tio­ning Asso­cia­ti­on) 29 erfolgen.

Bei Femur­de­fek­ten soll­te beson­de­res Augen­merk auf die Akti­vie­rung der hüft­um­ge­ben­den Mus­keln gelegt wer­den, wäh­rend beim fibu­lä­ren und tibia­len Defekt in ers­ter Linie die knie­stre­cken­de Mus­ku­la­tur trai­niert wird. Ziel ist eine aus­rei­chen­de Stand­pha­sen­sta­bi­li­tät wäh­rend des Gan­ges. Die Mög­lich­kei­ten der Gang­schu­le erwei­tern sich mit zuneh­men­dem Alter und wach­sen­der Com­pli­ance der Kin­der. Hin­zu kommt die eige­ne Moti­va­ti­on, mög­lichst unauf­fäl­lig zu gehen, die bei jün­ge­ren Kin­dern noch gerin­ger aus­ge­prägt ist.

Der All­tag der Kin­der soll­te bei der The­ra­pie unbe­dingt Berück­sich­ti­gung fin­den. Das Erfra­gen der Wohn- und Schul­si­tua­ti­on (Trep­pen, Weg­stre­cken, unebe­nes Gelän­de, Hob­bys) erlaubt dabei einen tie­fe­ren Ein­blick in die benö­tig­ten Fähig­kei­ten wie Gleich­ge­wicht oder Koor­di­na­ti­on und ermög­licht durch Üben eine ver­bes­ser­te Par­ti­zi­pa­ti­on. Um auch lan­ge Stre­cken wie bei­spiels­wei­se zur Schu­le oder in der Frei­zeit bewäl­ti­gen zu kön­nen, emp­fiehlt sich die Anpas­sung von Hilfs­mit­teln wie Geh­stüt­zen oder auch eines Rollstuhls.

Mit dem Ein­tritt in die Schu­le ist es zudem sinn­voll, ver­schie­de­ne Sport­ar­ten aus­zu­pro­bie­ren, die mit Orthe­se oder Pro­the­se bzw. auch ohne die­se aus­ge­übt wer­den kön­nen. Das Spek­trum hier­bei ist weit­rei­chend – vom Kin­der­tur­nen über Ball­sport­ar­ten wie Fuß­ball oder Ten­nis, Klet­tern (Abb. 3), Schwim­men, Ski­fah­ren oder Rei­ten bis hin zum Kampf­sport oder zum Bogen­schie­ßen. Neben den posi­ti­ven Aspek­ten, die die kör­per­li­che Betä­ti­gung als sol­che mit sich bringt, pro­fi­tie­ren davon auch das Selbst­wert­ge­fühl und die all­ge­mei­ne Lebens­zu­frie­den­heit der Her­an­wach­sen­den 30.

Jugend­li­che und Erwachsene

Spä­tes­tens ab dem Jugend­al­ter gewinnt die Kos­me­tik mit der damit ver­bun­de­nen Unauf­fäl­lig­keit an Bedeu­tung. Die Ver­sor­gung muss dem Pati­en­ten die maxi­mal mög­li­che Par­ti­zi­pa­ti­on in den Kon­tex­ten Schu­le, Aus­bil­dung, Beruf und Frei­zeit gewähr­leis­ten. Vie­le Pati­en­ten trai­nie­ren die Rumpf- und Bein­mus­ku­la­tur sowie ihre Aus­dau­er (Abb. 4) ver­mehrt im Fit­ness­stu­dio oder durch Frei­zeit­sport. Phy­sio­the­ra­pie ist dann häu­fig nur noch bei Schmerz­pro­ble­ma­ti­ken, post­ope­ra­tiv oder bei orthop­ro­the­ti­schen Neu­ver­sor­gun­gen indiziert.

Es wer­den Schmer­zen im Bereich der Rücken­mus­ku­la­tur ange­ge­ben, die oft­mals durch das asym­me­tri­sche Gang­bild und mus­ku­lä­re Dys­ba­lan­cen ver­ur­sacht wer­den. Wegen der ver­än­der­ten Knief­le­xi­ons- und Sprung­ge­lenks­be­weg­lich­keit nut­zen die Pati­en­ten eine ver­mehr­te Late­ral­fle­xi­on im Bereich der Len­den­wir­bel­säu­le in der Schwung­pha­se, was die Asym­me­trie ver­stärkt. Neben der Erar­bei­tung einer aus­rei­chen­den Stand­pha­sen­sta­bi­li­tät liegt ein wich­ti­ges Augen­merk auf der Dif­fe­ren­zie­rung von Stand- und Schwung­bein (Abb. 5a u. b).

Gera­de bei der Umstel­lung von einem mecha­ni­schen auf ein mikro­pro­zes­sor­ge­steu­er­tes (MP-)Kniegelenk, wie es bei man­chen Pati­en­ten mit Fehl­bil­dun­gen am Ober­schen­kel sinn­voll ist, besteht Bedarf an einer inten­si­ven Gang­schu­le (Abb. 6). Die­se soll­te in enger Rück­kopp­lung zur Ortho­pä­die-Tech­nik erfol­gen, um gege­be­nen­falls Opti­mie­run­gen in den Ein­stel­lun­gen und Gelenk­frei­ga­ben vor­neh­men zu kön­nen. Bei der Gang­schu­le bedarf es der Erfah­rung und eines spe­zi­el­len Wis­sens um die Mög­lich­kei­ten und Gren­zen der Ver­sor­gung – nur so sind pro­the­sen­ty­pi­sche Gang­be­son­der­hei­ten von Gang­feh­lern zu dif­fe­ren­zie­ren. Bewe­gungs­ein­schrän­kun­gen oder Kon­trak­tu­ren, Mus­kel­schwä­chen, Schmer­zen oder Koor­di­na­ti­ons­pro­ble­me beein­flus­sen sei­tens des Pati­en­ten das Gang­bild. Durch phy­sio­the­ra­peu­ti­sches Trai­ning kön­nen jedoch das Kom­pen­sa­ti­ons­ver­mö­gen und die Leis­tungs­fä­hig­keit geschult wer­den 31.

Dis­kus­si­on

Wäh­rend in der Ver­gan­gen­heit das Haupt­au­gen­merk the­ra­peu­ti­scher Inter­ven­tio­nen auf der Ebe­ne der Kör­per­funk­tio­nen und ‑struk­tu­ren lag, wur­de durch die von der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on (WHO) im Jahr 2001 ver­öf­fent­lich­te ICF (Inter­na­tio­nal Clas­si­fi­ca­ti­on of Func­tio­ning, Disa­bi­li­ty and Health) 32 eine ganz­heit­li­che und struk­tu­rier­te Betrach­tungs­wei­se der Pati­en­ten in den Fokus gerückt 33. Des­halb wer­den die Akti­vi­tä­ten und vor allem auch die Par­ti­zi­pa­ti­on zuneh­mend berück­sich­tigt. Gera­de auf die­sen Ebe­nen wird der Behand­lungs­fort­schritt für die Pati­en­ten und auch die Kos­ten­trä­ger häu­fig erst mess­bar. Unter Ein­be­zie­hung der per­sön­li­chen Kon­text- und der Umwelt­fak­to­ren kön­nen eine indi­vi­du­el­le The­ra­pie sowie ent­spre­chen­de Hilfs­mit­tel­ver­sor­gun­gen erfol­gen. Das bio­psy­cho­so­zia­le Modell (Abb. 7) der WHO zeigt die mög­li­chen Bezie­hun­gen zwi­schen den ein­zel­nen Ebe­nen im Zusam­men­hang mit Gesund­heit, Krank­heit, Funk­ti­ons­fä­hig­keit und Behin­de­rung auf.

In der Ortho­pä­di­schen Kin­der­kli­nik Aschau pro­fi­tie­ren Pati­en­ten mit Dys­me­li­en von der inten­si­ven inter­dis­zi­pli­nä­ren Zusam­men­ar­beit. Basie­rend auf der kin­der­or­tho­pä­di­schen Dia­gnos­tik erar­bei­ten erfah­re­ne Ergo- und Phy­sio­the­ra­peu­ten gemein­sam mit Kol­le­gen aus Ortho­pä­die- und Reha-Tech­nik ein nach­hal­ti­ges Behand­lungs­kon­zept. In der Kli­nik ermög­li­chen direk­te Abspra­chen und unmit­tel­ba­re Feed­back­schlei­fen eine opti­ma­le The­ra­pie für Pati­en­ten mit Dys­me­li­en. Um die Wei­ter­füh­rung und somit die Nach­hal­tig­keit der The­ra­pie auch im häus­li­chen Umfeld sicher­zu­stel­len, ist Pati­en­ten- und Ange­hö­rig­e­ne­du­ka­ti­on 34 bzw. ‑coa­ching ein wei­te­rer wich­ti­ger Behandlungsaspekt.

Pati­en­ten­bei­spiel I

Ein Pati­ent mit der Dia­gno­se PFFD Typ C sowie Fibu­laa­pla­sie links ist mit einer ober­schen­kel­lan­gen Orthop­ro­the­se in Con­tai­ner­tech­nik mit einem mecha­ni­schen Knie­ge­lenk ver­sorgt. Vor drei Jah­ren erfolg­te die Resek­ti­on des Knie­ge­len­kes mit einer Plattenarthrodese.

Per­so­nen­be­zo­ge­ne Faktoren

Der Jun­ge ist fast zwölf Jah­re alt. Er hat eine Schwes­ter. Sei­ne Moti­va­ti­on ist puber­täts­be­dingt schwan­kend. Er besucht die 5. Klas­se einer Real­schu­le. Sei­ne Mut­ter beglei­tet ihn wäh­rend des sta­tio­nä­ren Auf­ent­hal­tes. Auf der Ebe­ne der Kör­per­funk­tio­nen und ‑struk­tu­ren zei­gen sich eine deut­li­che Ver­kür­zung der lin­ken unte­ren Extre­mi­tät, eine Schwä­che der Hüft­ab­duk­to­ren (MFT 3) sowie eine ein­ge­schränk­te Hüft­beu­ge- (50°) und ‑abduk­ti­ons­fä­hig­keit (10°). Beim zügi­gen Gehen zei­gen sich eine ver­stärk­te Late­ral­fle­xi­on im Bereich der LWS und ein Duchen­ne-Hin­ken auf der lin­ken Sei­te. Unter Belas­tung gibt der Jun­ge Rücken­schmer­zen (VAS 7/10) an.

Umwelt­fak­to­ren

Durch den Wech­sel auf die wei­ter­füh­ren­de Schu­le muss der Jun­ge zu Fuß ca. 1000 m mit dem schwe­ren Schul­ruck­sack zur Bus­hal­te­stel­le gehen; es fol­gen wei­te­re 1500 m von der Hal­te­stel­le zur Schu­le. Bis­her war die Schu­le am Hei­mat­ort, und er konn­te sie mit dem The­ra­pie­rad errei­chen. Über den Schul­tag ver­teilt sitzt der Jun­ge unge­fähr 6 Stun­den, was ihm auf einem Stan­dard­stuhl auf­grund der ein­ge­schränk­ten Hüft­beu­ge­fä­hig­keit links schwerfällt.

Ebe­ne der Par­ti­zi­pa­ti­on und Aktivität

Auf­grund der Schmerz­pro­ble­ma­tik beim zügi­gen Gehen län­ge­rer Stre­cken unter zusätz­li­cher Belas­tung durch den Schul­ruck­sack ist der Jun­ge auf dem Weg zur Schu­le und zurück deut­lich lang­sa­mer als sei­ne Klas­sen­ka­me­ra­den. Es kommt immer wie­der vor, dass er zu spät in der Schu­le oder an der Hal­te­stel­le ankommt. In sei­ner Frei­zeit schwimmt er regelmäßig.

Im Rah­men des sta­tio­nä­ren Auf­ent­hal­tes wur­de sei­tens der Ergo­the­ra­peu­ten ein Sat­tel­sitz aus­ge­tes­tet und ver­ord­net, der eine auf­rech­te Sitz­po­si­ti­on über meh­re­re Stun­den in der Schu­le trotz ein­ge­schränk­ter Hüft­beu­ge­fä­hig­keit auf der lin­ken Sei­te ermög­licht. Die Orthop­ro­the­se wur­de wachs­tums­be­dingt nach­ge­passt. Eben­so wur­de ein dyna­mi­sches Fuß­teil adap­tiert, das den Gang­rhyth­mus ver­bes­sert und somit auch den Ener­gie­auf­wand beim Gehen redu­ziert. Neben der Gang­schu­le erfolg­te die Anlei­tung der Mut­ter im Deh­nen der ver­kürz­ten Adduk­to­ren und Hüft­stre­cker unter Trak­ti­on durch die Phy­sio­the­ra­peu­ten. Zudem wur­de gemein­sam mit dem Jun­gen ein Übungs­pro­gramm zur Kräf­ti­gung des Rump­fes und der Hüft­ab­duk­to­ren erar­bei­tet, das er selbst­stän­dig zwei- bis drei­mal pro Woche durch­füh­ren soll. Über den Sozia­len Dienst der Kli­nik wur­de bean­tragt, dass der Jun­ge mit einem Trans­port­un­ter­neh­men zur Schu­le gebracht wird, um ihm einen pünkt­li­chen Unter­richts­be­ginn zu ermöglichen.

Pati­en­ten­bei­spiel II

Ein Mäd­chen mit einer Fibu­laa­pla­sie auf der rech­ten Sei­te kommt zur Erst­vor­stel­lung in die Klinik.

Per­so­nen­be­zo­ge­ne Faktoren

Das Mäd­chen ist 10 Mona­te alt. Sie ist freund­lich, lächelt viel und zeigt Bewe­gungs­freu­de. Auf der Ebe­ne der Kör­per­funk­tio­nen und ‑struk­tu­ren zeigt sich eine deut­li­che Ver­kür­zung bei leich­ter Val­gi­sie­rung des rech­ten Unter­schen­kels. Der Fuß ist 4‑strahlig ange­legt und steht in Equi­n­o­val­gusstel­lung. Das Knie­ge­lenk ist sta­bil und weist ein Streck­de­fi­zit von ca. 10° auf; es kann aktiv gestreckt und gebeugt werden.

Akti­vi­tä­ten und Partizipation

Das Mäd­chen ist in der Lage, sich selbst­stän­dig zu dre­hen, sie kann krab­beln und sich allei­ne auf­set­zen. Seit weni­gen Tagen zieht sie sich aktiv in den Stand hoch. Gehen ist auf­grund der Bein­ver­kür­zung nicht mög­lich. Zum Aus­gleich der Bein­län­gen­dif­fe­renz wur­de eine unter­schen­kel­lan­ge Orthop­ro­the­se ange­fer­tigt. Im Rah­men der Phy­sio­the­ra­pie erfolg­te eine inten­si­ve Anlei­tung der Mut­ter zur Deh­nung des Knie- und Fuß­ge­len­kes. Zudem wur­den Funk­ti­on und Län­ge der Orthop­ro­the­se in Abspra­che mit den Tech­ni­kern ange­passt. Das Mäd­chen inte­grier­te die Ver­sor­gung sofort beim Krab­beln und Auf­zie­hen zum Stand. Das Erler­nen des Seit­wärts- und Vor­wärts­ge­hens wird am Hei­mat­ort durch die zustän­di­ge The­ra­peu­tin beglei­tet. Durch die Kin­der­or­tho­pä­den und The­ra­peu­ten wur­de die Mut­ter über die wei­te­re Ent­wick­lung – auch in Bezug auf anste­hen­de Ope­ra­tio­nen (Wachs­tums­len­kung, Fuß­kor­rek­tur) – informiert.

Fazit

Die Behand­lung von Pati­en­ten mit Dys­me­li­en im Bereich der unte­ren Extre­mi­tät (pro­xi­ma­ler foka­ler Femur­de­fekt, fibu­lä­rer Längs­de­fekt und tibia­ler Längs­de­fekt) unter­liegt, wie sich gezeigt hat, beson­de­ren the­ra­peu­ti­schen und ortho­pä­die­tech­ni­schen Anfor­de­run­gen. Ange­sichts der indi­vi­du­ell sehr unter­schied­li­chen Befun­de müs­sen ent­spre­chend den Begleit­sym­pto­ma­ti­ken die phy­sio­the­ra­peu­ti­schen Behand­lungs­zie­le und ‑maß­nah­men indi­vi­du­ell fest­ge­legt werden.

Wie gezeigt wur­de, unter­schei­den sich die the­ra­peu­ti­schen Maß­nah­men und Ver­sor­gun­gen je nach Alter der Pati­en­ten deut­lich: Wäh­rend im Klein­kind­al­ter die pas­si­ven Maß­nah­men zur Ver­bes­se­rung der Beweg­lich­keit über­wie­gen, kom­men bei Schul­kin­dern mehr und mehr akti­ve Übun­gen zum Ein­satz. Spä­tes­tens ab dem Jugend­al­ter gewinnt die Kos­me­tik der Ver­sor­gung mit der damit ver­bun­de­nen Unauf­fäl­lig­keit an Bedeutung.

Gene­rell pro­fi­tie­ren Pati­en­ten mit Dys­me­li­en von einer inten­si­ven inter­dis­zi­pli­nä­ren Zusam­men­ar­beit. Dabei erar­bei­ten erfah­re­ne Ergo- und Phy­sio­the­ra­peu­ten gemein­sam mit Kol­le­gen aus Ortho­pä­die- und Reha-Tech­nik ein mög­lichst nach­hal­ti­ges Behand­lungs­kon­zept. In der Kli­nik ermög­li­chen direk­te Abspra­chen und unmit­tel­ba­re Feed­back­schlei­fen eine opti­ma­le The­ra­pie für Pati­en­ten mit Dys­me­li­en. Ein wei­te­rer wich­ti­ger Aspekt ist eine adäqua­te Edu­ka­ti­on von Pati­en­ten und Angehörigen.

Die Autorin:
Wen­cke Acker­mann M. Sc.
Lei­ten­de Physiotherapeutin
Ortho­pä­di­sche Kin­der­kli­nik Aschau
Ber­nau­er Str. 18
83229 Aschau
w.ackermann@bz-aschau.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
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