Einleitung
Grundvoraussetzung für eine gute prothetische Versorgung ist eine komfortable und sichere Anbindung vom Stumpf zur Prothese. Eine ungenaue Anpassung des Prothesenschaftes kann zu unsicherer Prothesenführung, schlechtem Gangbild, Schmerzen und Hautirritationen im Tragebereich des Schafts führen 1 2 3 4. Der sichere und feste Halt der Prothese ist einer der wichtigsten Faktoren für prothetisch versorgte Menschen 5 und führt zu einer erhöhten räumlichen Wahrnehmung (Propriozeption) und dadurch zu einer verbesserten Prothesensteuerung 5 6. Verschiedene Haftungssysteme ermöglichen hierbei je nach Aktivitätsgrad und Anforderungen eine sichere und gute Anbindung des Schaftes an den Stumpf.
Zur leichteren Abgrenzung werden im weiteren Verlauf Systeme mit permanent anliegendem Unterdruck in Stand- und Schwungphase als „aktive Systeme“ (z. B. Harmony) bezeichnet. Systeme, bei denen nur in der Schwungphase Unterdruck anliegt, werden als „passive Systeme“ (z. B. Saugschaft) bezeichnet.
Seit der Einführung des HarmonySystems von Ottobock zeigte sich, dass neben der guten Anbindung aktiver Systeme eine positive Auswirkung auf Volumenschwankungen des Stumpfes erkennbar ist 7 8. Volumenmanagement spielt bei der Versorgung mit einer Prothese eine wichtige Rolle, da der Stumpf während eines Tages an Volumen verliert und somit die Haftung der Prothese abnimmt. Vorteilhaft für eine erhöhte Haftung im Prothesenschaft wirkt sich Unterdruck aus, da durch diesen der Rückfluss der interstitiellen Körperflüssigkeit ins Blut und in die Lymphgefäße aus dem Stumpf verringert wird 6. In einer Studie von Board et al. (2001) zeigte sich, dass bei einer 30-minütigen Gangdauer mit einem aktiven System eine Zunahme des Volumens um 3,7 % erreicht werden konnte; ohne aktives System kam es im selben Zeitraum zu einer Verringerung um 6,5 % 8.
Die Verwendung aktiver Systeme zeigte ebenfalls, dass die Hubbewegung, also die Relativbewegung von Stumpf/Liner zum Schaft, reduziert werden kann. In der bereits erwähnten Studie zeigten Board et al. (2001), dass durch die verbesserte Haftung die Hubbewegungen zwischen Schaft und Liner (4 mm) und der Tibia (7 mm) reduziert werden konnten 8. Eine vergleichende Messung zwischen aktiven und passiven Systemen mit fünf Probanden von Balogh (2008) bestätigt, dass mit dem aktiven System eine geringere Hubbewegung stattfindet 9.
Ein neu entwickeltes aktives System von Ottobock, das sogenannte DVS (Dynamic Vacuum System), nutzt vorhandene Relativbewegungen im Prothesenschaft, um einen aktiven Unterdruck zwischen Schaft und Stumpf zu erzeugen. Der resultierende Unterdruck liegt allerdings auf einem geringeren Niveau als der der HarmonySysteme. Der Einbau des Systems ist einfach und erfordert keine Zertifizierung des Orthopädie-Technikers für spezielle Schaftbauarten.
Dieser Artikel untersucht den Effekt des DVS auf die Haftung und speziell den Einfluss auf Hubbewegungen. Die Auswirkungen auf das Volumenmanagement und Hautirritationen werden hierbei nicht betrachtet, da zwar ein kontinuierlicher Unterdruck erzeugt wird, aber im Vergleich zu Harmony-Systemen mit geringerer Intensität.
Funktionsprinzip
Das Funktionsprinzip des DVS basiert auf dem einer pneumatischen Kolbenpumpe. Hierfür wird der am Stumpf befindliche Liner mit dem Kolben des DVS gekoppelt. Die Kraftkopplung erfolgt mit Hilfe eines speziellen Lineranschlusses über vier auf der Oberseite des Kolbens eingebrachte Magnete. Solange eine Relativbewegung zwischen Stumpf und Schaft vorhanden ist, resultiert durch diese Kraftkopplung eine Hubbewegung des Kolbens im Zylinderkörper. Der Kolben (Abb. 1, Mitte) trägt ein Einwegventil, läuft in einem Zylinderkörper mit einem weiteren Einwegventil (links) und wird mit einem Begrenzungsring in diesem gehalten (rechts).
Das zusammengesetzte DVS ist in Abbildung 2 dargestellt. Der Kolben ist mittels eines gleitfähigen Dichtrings beweglich in den Zylinderkörper eingebracht. Der Begrenzungsring verhindert ein Herausziehen des Kolbens aus dem Zylinderkörper.
Die in Abbildung 2 dargestellte Einheit wird mit den im Lieferumfang enthaltenen Dummys am distalen Ende des Prothesenschaftes einlaminiert.
Somit wird die Kraft zur Bewegung des Kolbens direkt aus der stetigen Fortbewegung des Prothesenträgers erzeugt. Da der Kolben mittels eines Dichtringes in den Zylinderkörper eingebracht ist, führt dies je nach Bewegungsrichtung des Kolbens zum Öffnen bzw. Schließen des im Kolben befindlichen Ventils. Ein zweites in den Zylinderkörper eingebrachtes strömungstechnisch gleichgerichtetes Ventil funktioniert nach dem Prinzip einer pneumatischen Kolbenpumpe, vgl. Abbildung 3. Nach dem Einsteigen in den Prothesenschaft und der magnetischen Kopplung zwischen Liner und Kolben (Abb. 4, links) wird die im Zylinderraum eingeschlossene Luft durch die Belastung mit dem Körpergewicht und die daraus resultierende Bewegung des Kolbens in distaler Richtung durch das Ventilsystem aus dem Zylinderraum ausgestoßen. Die Einbaurichtung der Ventile sorgt dafür, dass keine Luft in den Schaftraum zurückströmen kann (siehe Abb. 4, Mitte und rechts).
In der Schwungphase führt die Zentrifugalkraft zu einer Zugkraft, welche auf die Prothese wirkt. Daraus resultierend kommt es zu einer Relativbewegung zwischen Stumpf und Schaft. Durch die Kraftkopplung zwischen Liner und Kolben wird der Kolben aus der vollständig eingetauchten Position nach proximal bewegt. Durch den entstehenden Unterdruck im Zylinderraum wird die Luft aus dem Prothesenschaft in den Zylinderraum gesaugt (Abb. 5, links und Mitte). Der in den Kolben eingebrachte Strömungskanal zwischen Schaftraum und Zylinderraum ist in den Schnittansichten nicht dargestellt. Abbildung 5 zeigt den Einlass des Strömungskanals, welcher zudem den Zylinderraum mit einem Filterelement gegen das Eindringen von Schmutzpartikeln isoliert. Bei einer erneuten Belastung der Prothese mit dem Körpergewicht durch den folgenden Bodenkontakt wird die in den Zylinderraum gesaugte Luft erneut aus diesem ausgestoßen (siehe Abb. 5, rechts).
Nach wenigen Schritten wird somit ein aktiver Unterdruck im Prothesenschaft erzeugt und die Relativbewegung zwischen Liner und Schaft auf ein Minimum reduziert. Der so entstehende Unterdruck liegt bei bis zu 250 mbar und stellt den festen Sitz der Prothese sicher. Die Relativbewegung zwischen Stumpf und Schaft variiert je nach individueller Belastungssituation, Stumpfbeschaffenheit sowie Gewicht der Prothese. Somit ist das DVS in der Lage, den Unterdruck an die jeweilige Alltagssituation des Benutzers anzupassen und für eine optimale Bewegungsminimierung im Prothesenschaft zu sorgen.
Der Orthopädie-Techniker kann das DVS ohne Zertifizierung oder Trainings mit allen gängigen Gipsabdrucktechniken wie gewohnt herstellen. Sowohl Vollbelastungs- als auch zweckmodellierte Schäfte können per Gipsabdrucktechnik verwendet werden. Der Aufbau erlaubt es, Einzelteile problemlos auszutauschen. Sowohl der Kolben als auch das Ventil im Zylinderkörper können durch den Orthopädie-Techniker bei einem Defekt selbstständig ersetzt werden. Darüber hinaus ist der Zylinderraum mit Filterelementen isoliert, um das Eindringen von Schmutz und Staubpartikeln zu verhindern. Da das System mit einem Gewicht von 210 g sehr leicht ist und die Aufbauhöhe von 37 mm sehr gering ausfällt, sind vielfältige Einsatzmöglichkeiten und Kombinationen in der prothetischen Versorgung möglich.
Methode
Zur Validierung des Funktionsprinzips wird eine experimentelle Untersuchung des DVS an einem Testanwender im Alter von Mitte dreißig mit transtibialer Amputation durchgeführt. Das Körpergewicht des Anwenders beträgt zum Testzeitpunkt ca. 70 kg. Der Testanwender kann einem Mobilitätsgrad von 4 zugeordnet werden, das Prothesengewicht beträgt 2 kg. Der Zustand des Stumpfes wird als sehr gut bewertet. Weitere körperliche Beeinträchtigungen bzw. Erkrankungen sind nicht bekannt.
Zur Durchführung der Messung ist der Prothesenschaft mit verschiedenen Sensoren ausgestattet. Die Eintauchtiefe des Kolbens im Zylinderkörper wird mit einem Hall-Sensor gemessen. Der Kolben ist mit einem Stabmagneten ausgestattet, der HallSensor wird in die Wandung des Zylinderkörpers eingebracht. Des Weiteren wird der Schaftinnendruck mit Hilfe eines Membran-Differentialdrucksensors erfasst, welcher auf der Außenseite des Schaftes appliziert wird. Die Erfassung der Zentrifugalkraft erfolgt mit einem digitalen Kraftmesssystem, welches unterhalb des DVS angebracht ist. Messwertaufnahme und Speicherung der Messdaten werden über ein mobiles mikroprozessorgesteuertes Datenerfassungssystem realisiert. Abbildung 6 zeigt den Messaufbau des DVS.
Verschiedene Belastungssituationen des Prothesenträgers werden mit einer Erhöhung des Prothesengewichts in Form von Gewichtsscheiben und unterschiedlichen Ganggeschwindigkeiten simuliert.
Ergebnisse
Sowohl das zusätzliche Gewicht als auch eine zunehmende Ganggeschwindigkeit führen zu einer messbar höheren Zentrifugalkraft, welche schließlich zu einer erhöhten Relativbewegung zwischen Liner und Prothesenschaft führt (Abb. 7).
Die in Abbildung 9 und Abbildung 10 dargestellte Relativbewegung zwischen Liner und Schaft wird nach ca. 20 Schritten gemessen. Nach dieser Schrittzahl stellt sich eine konstante Relativbewegung zwischen Liner und Schaft ein (Abb. 8). Der gemessene Wert stellt somit den sich einstellenden Endwert der Relativbewegung in der Prothese dar. Ebenfalls ist Abbildung 8 zu entnehmen, dass der anfängliche Hub zwischen Schaft und Stumpf ca. 11 mm beträgt. Nach ca. 10 Schritten ist ein Großteil der Relativbewegung im Prothesenschaft abgebaut, und der Unterdruck im Inneren des Schaftes nimmt annähernd konstante Werte an. Zu diesem Zeitpunkt beträgt die Relativbewegung nur noch ca. 1 mm. Sowohl der sich einstellende Endwert der Relativbewegung als auch der Unterdruck im Prothesenschaft werden in der Schwungphase gemessen.
Die Messung der Zentrifugalkraft erfolgt jeweils in Gewichtsabstufungen von 500 g bis zu einem zusätzlichen Maximalgewicht der Prothese von 2 kg. Das Gesamtgewicht der Prothese unter Maximalgewicht beträgt somit insgesamt 4 kg. Die Erhöhung der Ganggeschwindigkeit von 2 km/h auf 4 bzw. 6 km/h führt im Vergleich zu einer Erhöhung des Prothesengewichtes zu einem weniger starken Anstieg der Zentrifugalkraft (Abb. 7).
Sowohl die Erhöhung der Ganggeschwindigkeit als auch die Erhöhung des Prothesengewichtes führen zu einem erhöhten Unterdruck im Schaft, welcher aus der Funktionsweise des DVS resultiert. Die magnetische Kopplung zwischen Liner und Kolben führt durch die initiierte Zentrifugalkraft und Relativbewegung zu einer verstärkten Pumpbewegung des Systems. Sowohl bei Erhöhung der Ganggeschwindigkeit als auch bei zusätzlichem Prothesengewicht stellt sich somit nach wenigen Schritten eine konstante Relativbewegung von ungefähr 1 mm ein. Dieser konstante und von der Belastungssituation unabhängige Wert resultiert aus der Erhöhung des Unterdruckes im Schaft. Im Vergleich dazu kann bei Ventilschäften die Relativbewegung in der Schwungphase bis zu 11 mm betragen. Somit ist das DVS in der Lage, die Relativbewegung in der Schwungphase stark zu reduzieren, was folglich zu einer verbesserten Haftung zwischen Liner und Schaft führt. Die Vorteile des DVS liegen somit in einem deutlich sichereren Halt der Prothese, weniger Relativbewegung und einer verbesserten Propriozeption.
Fazit
Im Rahmen der hier vorgestellten messtechnischen Untersuchung des DVS sowie weiterer Anwendererprobungen wurde die Funktion des Dynamic Vacuum System bei unterschiedlichen Belastungssituationen und Anwendergruppen untersucht. Statements wie „Es ist sehr leicht und macht eine gute Performance“, „Das System hält das Vakuum perfekt“ oder „Es war damit einfacher in der U‑Bahn während der Rush Hour, es war einfacher, ins Auto einzusteigen, und bot einen großen Vorteil beim Training“ belegen, dass das Dynamic Vacuum System die Testpersonen im Alltag überzeugt hat. Auch dem Orthopädie-Techniker bietet das DVS deutliche Vorteile. Aufgrund der frei wählbaren Gipsabdrucktechnik sowie eines einstufigen Herstellungsprozesses lässt sich das DVS schnell und einfach mit der Prothese verbauen.
Die Hubbewegung konnte mit dem DVS von 11 mm auf ungefähr 1 mm nach wenigen Schritten gesenkt werden. Eine annähernd geringe Hubbewegung wurde auch von Board et al. (2001) bestätigt, die die Hubbewegungen bei Probanden mit einem aktiven System mit konstantem Unterdruck von 78 kPa gemessen haben (A8). Somit kann ein ähnlich guter Effekt des DVS im Vergleich zu einem aktiven System wie beispielsweise dem Harmony-System bestätigt werden.
Auswirkungen auf das Volumenmanagement oder Hautprobleme wurden in dieser Studie nicht untersucht. Eine klinische Betrachtung der Versorgungen mit dem DVS zur weiteren Erlangung von Ergebnissen mit Systemen speziell dieser Art wäre vorteilhaft.
Für die Autoren:
Dipl. Ing. Andrê Müller
Otto Bock HealtCare GmbH
Max-Näder-Straße 15
37115 Duderstadt
andre.mueller2@ottobock.de
Begutachteter Beitrg/ reviewed paper
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