Einleitung
Die Orthesengestaltung für die Kinderrehabilitation sieht sich höchsten Anforderungen gegenüber. Es liegt im Naturell von Kindern, sich zu bewegen und Unterstützungssysteme bis zur Grenze der Belastung in Anspruch zu nehmen. Dabei sind nicht nur Material und Bauteilkomponenten gefordert – mehr noch Adaption am Körper, Krafteinleitung und Einsatz im Alltag. Besondere Aufmerksamkeit kommt bei der Hilfsmittelversorgung der Einfassung und Führung der oberen Extremität zu. Die komplexe Beweglichkeit von Schulter- und Handgelenk lässt sich nicht einfach technisch gelenkig übersetzen; Achs- und Passforminkongruenz führen in der Folge zu Bewegungseinschränkungen, Reibung und im ungünstigsten Fall zu Verletzungen 1 2. Anhand dreier Beispiele für neuromuskuläre Krankheitsbilder sollen die Vorzüge der Versorgung mit dualen Orthesensystemen deutlich werden.
Entscheidend für den Erfolg ist die Zielsetzung innerhalb der Konzeption der Versorgung. Interdisziplinär werden strukturelle und funktionelle Defizite im Team ermittelt und unter Berücksichtigung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen (ICF-CY) 3 katalogisiert. Als strukturell werden z. B. Gelenkkontrakturen angesehen. Die strukturierte Anamnese dient der Isolation der Zielsetzung; die zu erwartenden medizinischen Veränderungen, therapeutischen Erfolge und möglicherweise Remissionen fließen zusammen mit dem Bewegungsbild des Patienten (Freiheitsgrade, Muskelkraft) und den Umfeldfaktoren (Familie, Autonomie, Teilhabe) in das Anforderungsprofil des Orthesenkonzeptes ein. In der Regel sind hierbei folgende Ziele zu nennen:
- Verhinderung weiterer Fehlstellungen
- Erweitern des Bewegungsausmaßes
- Aufdehnen des Weichteilapparates
Nicht alle Zielsetzungen können gleichermaßen und gleichzeitig erreicht werden; oftmals müssen Prioritäten gesetzt und Einschränkungen an anderer Stelle hingenommen werden, da die Komplexität der Gelenkstrukturen an der oberen Extremität nur Mechanismen zulässt, die eine eingegrenzte technische Wirkungsweise besitzen (Bewegungsachsen des Schultergelenkes). Vielfach lassen sich jedoch körpereigene Mechanismen nutzen, um indirekt die Erreichung der Ziele günstig zu beeinflussen, z. B.:
- Tonusregulierung
- Unterstützung der Propriozeption
- Unterstützung der Muskelfunktion
- Korrektur der Fehlstellung
Mit der Festlegung des Versorgungszieles muss zwingend auch das therapeutische Behandlungskonzept bestimmt werden. Die folgende Orthesenversorgung bleibt für sich genommen nur von geringem Wert, wenn nicht alle therapeutischen Anstrengungen unternommen werden, Körper und Orthese aufeinander abzustimmen – im Vorfeld, während der Versorgung und in der Nachsorge.
Anforderungen an das duale Orthesensystem
Die Zahl der Beteiligten der interdisziplinären Gruppe ist groß. An vorderster Stelle stehen die Patienten und ihre Eltern. Sie haben Bedürfnisse, die dringend berücksichtigt werden müssen 4. Gelingt es nicht, dass sie sich verstanden fühlen, bleibt die Orthese, das Resultat aller Anstrengungen, und sei es noch so ambitioniert, im schlechtesten Fall im Schrank liegen. Erst anschließend sind Mediziner, Therapeuten, Betreuer, Integrationshelfer und Techniker gefragt. Grundsätzliche Parameter scheinen selbstverständlich und sind dann doch nicht immer befriedigend umzusetzen:
- kinderleichte Handhabung, Autonomie
- hoher Tragekomfort
- einfache Reinigung ohne Zusätze oder sekundäre Hautrisiken
- uneingeschränkte Bewegung, keine zusätzliche Behinderung durch die Orthese 5
Auf dem Weg zum dualen Orthesensystem wurde immer wieder versucht, den Maximalforderungen in allen Punkten so nahe wie möglich zu kommen. Das dabei entstandene Konzept für multifunktionale Orthesen vereint leichte, biokompatible und teilrigide Komponenten und fördert durch einen geschickten Materialmix ansprechende Lösungen mit hohem Tragekomfort und durchgängiger Akzeptanz (Abb. 1a u. b).
Materialauswahl
Zum Einsatz kommen Silikone in Verbindung mit Faserverbundwerkstoffen sowie thermoplastischen Kunststoffen wie Polyethylen (PE) und Polypropylen (PP). Der Einsatz von Silikonen bietet dabei ein deutlich erweitertes Einsatzspektrum im Lebensalltag, denn diese sind in vollem Umfang wasser- und schmutzbeständig und lassen sich einfach und rückstandslos reinigen und desinfizieren. Dadurch erhöhen sich Tragedauer und Akzeptanz gegenüber Orthesen, gefertigt aus Unibaustoffen, wie in der traditionellen Faserverbundwerkstoff- oder in Kunststofftechnik.
Durch die Zusammenstellung verschiedener Materialkomponenten aus PE/PP oder Faserverbundwerkstoffen und formschlüssigen weichen Materialien wie Silikon erfolgt eine optimierte funktionelle Unterstützung. Die unterschiedlichen Shore-Härten in den Silikonbauteilen kompensieren funktionelle Defizite und stabilisieren die Korrekturposition. Da Silikone über ausgesprochene Vorzüge im direkten Hautkontakt verfügen, stehen sie als Lastaufnehmer und Formadaption im Fokus. Die Semipermeabilität des Materials begünstigt den Abtransport von Feuchtigkeit, die materialeigene Haftung hilft, die Migration am Körper zu reduzieren, und die Veränderung der Elastizität des Materials durch Abstufung der Shore-Härten ermöglicht jede Führung von Weichteilen. Die rigiden und semirigiden Bauteile dienen der Korrektur, der Lastaufnahme und der Übertragung der wirkenden Kräfte. Eine solche Silikon-Verbundtechnik ermöglicht durch die mehrteilige Orthesenkonstruktion eine einfache Handhabung der Orthese. Druckstellen können vermieden und Reizungen – verursacht durch Scherkräfte – verringert oder sogar gänzlich eliminiert werden.
Versorgungsbeispiele
Fall 1
Bei der ersten Problemstellung liegt eine schlaffe Plexusparese mit fortschreitender Luxation des Humeruskopfes vor (Abb. 2). Am Oberarm besteht eine starke Muskelathrophie mit sehr weichem Gewebe; Flexion und Supination im Unterarm sind eingeschränkt. Ziel der Orthesenversorgung ist die Repositionierung des Humeruskopfes in die Gelenkposition, um so die Schulter zu stabilisieren 6. Sekundär sollen die mit der Fehlpositionierung verbundenen Schmerzen reduziert und die Nutzung der motorischen Restfunktion von Hand und Unterarm unterstützt werden. Die Repositionierung führt zu einer freien Beweglichkeit in der Sagittalebene, lässt also das Armpendel frei, entlastet somit Schultergürtel und Rücken und fördert ein natürlicheres Erscheinungsbild.
Der zweiteilige Aufbau des Orthesenkonzepts gliedert sich in eine Silikon-Oberarm-Manschette und eine zirkuläre Silikon-Schulterfassung mit Chassis aus FVW oder PP (Abb. 3). Dieses dient als Träger für die Silikonmanschette und als Verankerung für die Gurtführungen. Die Gurte positionieren die passformgetreue Silikonmanschette und gewährleisten mit dem kontralateralen Achselzug die Einstellung des Humeruskopfes im Gelenk (Abb. 4a–c).
Die Orthese ist einfach anzulegen und autonom vom Patienten ablegbar, die Tragedauer in der Aktivität nicht eingeschränkt. Aus der Versorgung kann deutlich der lenkende Effekt differenzierten Materialeinsatzes abgeleitet werden. Unterschiedliche Silikonhärten und ‑dicken lassen Bewegung zu, schränken sie an anderer Stelle ein oder stabilisieren eine Position. Als Gurteinfassung polstert Silikon den Achselverlauf und lässt zudem eine unproblematische Reinigung zu; Geruchsbildung und Ablagerungen sind stark reduziert. Die Forderungsparameter Lastaufnahme, Haftung, Hygiene und Bewegungsförderung werden erfüllt.
Fall 2
Die bilaterale Unterarm-Hand-Versorgung einer spastischen Tetraparese stellt bei aktiven Patienten hohe Anforderungen an Funktionalität, Compliance, einfache Handhabung und unbeschwertes, dauerhaftes Tragen. Die 14-jährige Patientin (Abb. 5) stellte sich mit einem auffälligen Gesamtbefund vor: An den oberen Extremitäten traten deutlich Einschränkungen in der Extension hervor, in den Handgelenken war eine ausgeprägte Tendenz in Flexion und Ulnardeviation erkennbar, jedoch beidseits auf 0 Grad manipulierbar.
Die Zielsetzung für die Orthesenversorgung umfasste eine Einstellung der Handgelenke in 0 Grad, eine volare Führung der Handteller, eine Abduktion der Daumen und eine zirkuläre Einfassung des Unterarmes. Über die Positionierung der Daumen und die zirkuläre Einfassung am Unterarm kann propriozeptiv das spastische Muster günstig beeinflusst und der Tonus herabgesetzt werden.
Die Orthesen wurden in geringer Shore-Härte gefertigt, der Abduktionsbereich der Daumen wurde durch eine höhere Shore-Härte ausgeformt, volar wurde eine individuell gefertigte Schiene aus PP herausnehmbar im Silikon verankert. Die Verschlüsse sind über die Unterarmlänge zirkulär umlaufend gefertigt und an der Aufnahme der Verstärkung mit der Orthese verbunden, in der Mittelhand wird der Verschluss ausschließlich dorsal geführt (Abb. 6).
Mit der leicht anzulegenden Versorgung kann die Patientin selbstständig umgehen, die Tragedauer ist nicht begrenzt. Über das duale Orthesensystem wurde die Feinsteuerung der Hände verbessert, der Tonus in den oberen Extremitäten herabgesetzt und eine gezielte Bewegung ermöglicht.
Fall 3
Für einen 10-jährigen Jungen mit Infantiler Cerebralparese 7 8 und Flexions-Kontrakturstellung im Handgelenk (Abb. 9) ergab sich die Frage nach einer Handorthese, die unter Einfassung der Finger inklusive Daumen über eine dynamische Redression das Handgelenk neutral einstellen sollte. Die Versorgung sollte dabei zusätzlich zur Redression auch zur Lagerung verwandt werden. Weiterhin war eine leichte Handhabung der Orthese erwünscht, da die Orthese mehrmals täglich unter anderem zur therapeutischen Behandlung an- und abgelegt werden musste.
Der Versorgungsansatz ist hier eine mehrteilige Orthesenkonstruktion in Kombination aus einer separaten Silikonhand und einer Silikon-Unterarmfassung (Abb. 7a u. b) in Verbindung mit einem aufsteckbaren Carbon-Gießharzrahmen mit integriertem dynamischem Redressionsgelenksystem. Über die Variation der Materialbestandteile lässt sich eine suffiziente Orthese herstellen, die den Anforderungen gerecht wird. Die dynamische Redression sorgt für eine dauerhafte Korrekturwirkung im Handgelenk und lässt sich bei gewünschter Lagerung ausschalten bzw. sperren (Abb. 8a u. b). Eine leichte Handhabe wird durch die Konzeption der Bauteilkomponenten gewährleistet.
Fazit
Die vorgestellten Beispiele zeigen einen kleinen Querschnitt der technischen Umsetzung dualer Orthesensysteme. Die verwendeten Baustoffe und Techniken sind in der Orthopädie-Technik lange eingeführt und bekannt. Allein das Zusammenspiel der Materialien miteinander und die Verbindung der Module bedürfen immer wieder neuer und grundlegender Überlegungen. So lassen sich Silikone nur schlecht verkleben, vernieten oder vernähen; Klebeverbindungen unter den Kunststoffen bleiben meist nur kurz haltbar. Der Materialmix bedarf intelligenter Steck- oder Klemmtechniken, die belastbar bleiben und dabei dennoch demontierbar und leicht zu reinigen sind.
Im Haus der Verfasser kommt das duale Orthesensystem vornehmlich für Dauerversorgungen und bei Kindern zum Einsatz. Lange Tragedauer ohne destruierende Hautbeanspruchung, einfache Handhabung, hygienische Reinigung und Dauerhaftigkeit der Materialien sprechen für die aufwendige Gestaltung. Die autoadaptiven Eigenschaften der Materialkomposition machen Nacharbeiten nahezu hinfällig und verlängern im günstigsten Fall das Trageintervall.
Die Autoren:
Frank Naumann
Jochen Schickert
Orthovital GmbH
Magdeborner Straße 19
04416 Markkleeberg
info@ortho-vital.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Naumann F, Schickert J. Duale Orthesensysteme an der oberen Extremität. Orthopädie Technik, 2015; 66 (2): 52–55
- Neue Risikogruppeneinteilung beim diabetischen Fußsyndrom (DFS) und bei den analogen Neuro-Angio-Arthropathien — 25. Oktober 2024
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- Orthopädische Versorgung der neuromuskulären Skoliose: Vorteile von biomechanisch optimierten Rumpforthesen am Beispiel des „neuroBrace“-Systems — 4. Oktober 2024
- Hohmann D, Uhlig R. Orthopädische Technik. 9., überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme, 2005
- Bähler A, Bieringer S. Orthopädietechnische Indikationen. 2. Auflage. Bern: Hans Huber Verlag, 2004
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- Baumgartner R, Greitemann B. Grundkurs technische Orthopädie. 2., überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme, 2007
- Döderlein L. Infantile Zerebralparese. Diagnostik, konservative und operative Therapie. Darmstadt: Steinkopff, 2007
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