„Ödem trifft Adipositas“

Bereits zum elften Mal sind Ärzt:innen, Therapeut:innen, medizinisches Personal sowie Versorgungsfachkräfte des medizinischen Fachhandels zum Lymphologischen Symposium in Berlin zusammengekommen. Die Veranstaltung, die die Julius Zorn GmbH in Zusammenarbeit mit der Berliner Charité ausrichtete, fand im hybriden Format statt. Die wissenschaftliche Leiterin Dr. med. Anett Reißhauer, Leitung Arbeitsbereich Physikalische Medizin und Rehabilitation, Charité Berlin, begrüßte 136 Präsenz- und ca. 200 Online-Teilnehmer:innen aus sieben Nationen – neben Deutschland aus der Schweiz, China, Mauritius, Südafrika, Kenia und Nigeria.

Wie gewohnt waren die Vor­trä­ge eine Mischung aus kli­ni­schen Fäl­len, aktu­el­len Stu­di­en und The­ra­pie­an­sät­zen. Im Mit­tel­punkt stand das Lipö­dem hin­sicht­lich der Schnitt­stel­le zur Adi­po­si­tas sowie zur Adipositaschirurgie.

Mit einem Vor­trag über die Aus­wir­kun­gen der Pan­de­mie bei Lymphödempatient:innen eröff­ne­te Dr. Anett Reiß­hau­er das Sym­po­si­um. Zwar sei die Impf­emp­feh­lung der bei­den lym­pho­lo­gi­schen Gesell­schaf­ten hilf­reich gewe­sen, aber es sei auch zu Lymph­kno­ten­schwel­lun­gen nach Imp­fun­gen gekom­men. Zudem hät­te die Lebens­zu­frie­den­heit der Patient:innen gelit­ten. Im Anschluss prä­sen­tier­te Prof. Dr. med. Die­ter Blott­ner, Ber­lin, Neu­es aus der ana­to­mi­schen For­schung bei der Lym­ph­ver­sor­gung des Kopfes/Gehirns. Eine Stu­die über die zir­ka­dia­ni­sche Kon­trol­le des Gehirn-Lymph­flus­ses zeigt, dass der lympha­ti­sche Fluss auch einem Tag-Nacht-Rhyth­mus unterliegt.

„Lipö­dem weder eine lym­pho­lo­gi­sche noch eine Ödemerkrankung“

Was tun, „wenn die Schild­drü­se aus dem Takt ist“?: Mit die­ser Fra­ge beschäf­tig­te sich PD Dr. med. Ulf Elbelt, Ber­lin, und fokus­sier­te dabei die Schnitt­stel­le zur Lym­pho­lo­gie. Lipö­dem und (sekun­dä­res) Lymph­ödem sei­en Adi­po­si­tas-asso­zi­iert. Dass das Lipö­dem weder eine lym­pho­lo­gi­sche noch eine Öde­m­er­kran­kung sei, pos­tu­lier­te Dr. med. Tobi­as Bertsch, Hin­ter­zar­ten, und ver­wies in die­sem Zusam­men­hang auf den Para­dig­men­wech­sel und Inter­na­tio­na­len Con­sen­sus beim Lipö­dem-Syn­drom. Der/die Physiotherapeut:in habe eine Schlüs­sel­rol­le in die­sem Behand­lungs­kon­zept, das aus Phy­sio-/Be­we­gungs­the­ra­pie, Kom­pres­si­ons­the­ra­pie, Psy­cho­so­zia­le The­ra­pie, Gewichts­ma­nage­ment, Selbst­ma­nage­ment und Lipo­suk­ti­on bestehen könne.

Gibt es Stu­di­en, die Aus­sa­gen tref­fen, wie die „Ernäh­rungs­the­ra­pie beim Lipö­dem“ aus­se­hen könn­te? Dazu refe­rier­te Dr. med. Ste­fan Kabisch, Ber­lin. Er kam zu dem Schluss, dass die Daten­la­ge zum Lipö­dem voll­kom­men unzu­rei­chend sei. Es gebe weder für Low Fat, medi­ter­ra­ne Diät noch für Low Carb aus­sa­ge­kräf­ti­ge Stu­di­en. Im Anschluss folg­ten von Dr. med. Chris­ti­ne Schwedt­ke und Ebba Al Kha­mes, Ber­lin, Pra­xis­bei­spie­le, bevor Dr. med. Max Liebl, Ber­lin, ein Update zur Kom­pres­si­ons­the­ra­pie unter beson­de­rer Berück­sich­ti­gung des Ery­si­pels gab.

Der zwei­te Teil begann mit neu­es­ten Ent­wick­lun­gen zur Adi­po­si­tas­chir­ur­gie von Dr. med. Chris­ti­an Denecke, Ber­lin. Er führ­te Grün­de für die Meta­bo­li­sche Chir­ur­gie auf, wie Dia­be­tes-Remis­si­on oder Redu­zie­rung des kar­dio­vas­ku­lä­ren Risi­kos sowie von Tumor­er­kran­kun­gen. Zum The­ma Baria­tri­sche Chir­ur­gie und Lipödem/Lymphödem sei die Evi­denz­la­ge gering. Wel­che Her­aus­for­de­run­gen haben Physiotherapeut:innen bei der Behand­lung Adi­po­si­tas-asso­zi­ier­ten Lip- und Lymphödem-Patient:innen zu stem­men? Dar­über infor­mier­te Tho­mas Zäh­rin­ger, Hin­ter­zar­ten. Rele­van­te Pro­ble­me sei­en z. B. Form der Bei­ne, schlech­ter Trai­nings­zu­stand oder nega­ti­ves Ver­hält­nis zu Sport sowie die Gren­zen der Belast­bar­keit the­ra­peu­ti­scher Ein­rich­tun­gen, wie z. B. The­ra­pie­lie­gen oder ‑gerä­te. Anschlie­ßend sprach Dr. med. Bar­ba­ra Neto­pil, König­stein, über die „Ent­stau­ungs­the­ra­pie und Mul­ti­mor­bi­di­tät – ein Span­nungs­feld?“. Hier sei­en Modi­fi­ka­tio­nen der The­ra­pie wie bei­spiels­wei­se beson­ders gute Pols­te­rung, mehr­tei­li­ge Bestrump­fung oder MLD vor einer Dia­ly­se not­wen­dig. Zwei Pra­xis­bei­spie­le der kli­ni­schen Visi­te run­de­ten die­sen zwei­ten Teil ab. Das The­ma Selbst­ma­nage­ment stand im Mit­tel­punt des Vor­trags „Gesund und aktiv leben mit Lip-/Lymph­ödem – Fak­to­ren gelin­gen­der Lebens­sti­län­de­rung“ von Susan­ne Helm­brecht, Her­zo­gen­au­rach. Sie stell­te den Lymph­selbst­hil­fe e. V., sei­ne Zie­le und die Selbst­ma­nage­ment-Pro­gram­me Gallily/Gally vor.

Ver­dacht: Lipö­dem – Retro­spek­ti­ve Stu­die zur Diagnosesicherung

Ein Höhe­punkt des Sym­po­si­ums war der Vor­trag von Dr. med. Anett Reiß­hau­er zu der Stu­die „Dia­gno­se­si­che­rung der Ver­dachts­dia­gno­se Lipö­dem – retro­spek­ti­ve Aus­wer­tung von Daten der HSA (Hoch­schul­am­bu­lanz) Phy­si­ka­li­schen Medi­zin“. Im Inter­view mit der OT-Redak­ti­on stellt sie Eck­punk­te der Inhal­te vor und reißt ers­te Ergeb­nis­se der Stu­die an.

OT: Was war Ihre Inten­ti­on für die Studie?

Anett Reiß­hau­er: Das The­ma Lipö­dem ist stark in den Fokus der Medi­en gerückt – ins­be­son­de­re vor Beginn der Coro­na-Pan­de­mie. Es stel­len sich immer mehr Patient:innen vor mit der Ver­mu­tung, ein Lipö­dem zu haben. Tat­säch­lich bestehen aber sehr häu­fig ande­re Probleme.

OT: In Ihrer Stu­die waren ca. 500 Patient:innen ein­ge­schlos­sen, die mit dem Ver­dacht „Lipö­dem“ zu Ihnen in die Cha­ri­té kamen. Unter­sucht wur­den vie­le Aspek­te. Was stach bei den Ergeb­nis­sen beson­ders heraus?

Reiß­hau­er: Es sind noch nicht alle Ergeb­nis­se fer­tig. Es gibt Hin­wei­se dar­auf, dass die Anzahl der tat­säch­li­chen Lipö­de­me sehr dis­kre­pant zum Über­wei­sungs­grund ist, das heißt viel weni­ger Patient:innen an einem Lipö­dem lei­den als ange­nom­men. Es ist wich­tig, die­se Fra­ge zu klä­ren, damit die Patient:innen nicht über län­ge­re Zeit glau­ben, ein Lipö­dem zu haben und des­we­gen ande­re Pro­ble­me nicht erkannt und ange­gan­gen werden.

OT: Wel­che Pro­ble­me sind das?

Reiß­hau­er: Zum Bei­spiel Stoff­wech­sel­er­kran­kun­gen oder eine Schild­drü­sen­dys­funk­ti­on. Es ist wich­tig, dass Erkran­kun­gen aus­ge­schlos­sen wer­den, die häu­fig eben­falls Schmer­zen ver­ur­sa­chen. Auch der Anteil an Patient:innen mit Adi­po­si­tas muss her­aus­ge­fil­tert wer­den, weil die Ver­sor­gung eine ande­re Her­an­ge­hens­wei­se erfor­dert als die eines Lipö­dems. Die oft gewünsch­te manu­el­le Lymph­drai­na­ge bei­spiels­wei­se ist bei der Pro­ble­ma­tik in den meis­ten Fäl­len nicht ziel­füh­rend. Die Bestim­mung des Body-Mass-Index (BMI), der zur Abklä­rung eines Lipö­dems nach wie vor her­an­ge­zo­gen wird, kann zwar erho­ben wer­den, spielt aber zur Dif­fe­ren­zie­rung des Lipö­dems kei­ne Rol­le. Viel wich­ti­ger dabei hin­ge­gen ist der Taille-Hüft-Index.

OT: Mit Blick auf die ers­ten Hin­wei­se, die die Stu­die gibt: Wel­che Schrit­te könn­ten dar­aus abge­lei­tet werden?

Reiß­hau­er: Wich­tig wird es sein, die Ergeb­nis­se in Fort­bil­dun­gen ein­flie­ßen zu las­sen, sowohl für lym­pho­lo­gisch inter­es­sier­te Ärzt:innen als auch ins­be­son­de­re für Hausärzt:innen. Denn gera­de dort wer­den die Über­wei­sun­gen generiert.

OT: Die Dia­gnos­tik und die Abgren­zung Lymph­ödem, Lipo­hy­per­tro­phie, Lipö­dem und Adi­po­si­tas sind schwie­rig. Warum?

Reiß­hau­er: Das ist tat­säch­lich eine dia­gnos­ti­sche Her­aus­for­de­rung, weil es Trenn­schär­fen gibt. Kli­nisch ist das Lymph­ödem noch ver­hält­nis­mä­ßig unpro­ble­ma­tisch von den ande­ren Krank­heits­bil­dern zu tren­nen, weil hier die klas­si­schen Unter­haut­ge­webs­ver­än­de­run­gen und meist kei­ne sym­me­tri­schen Ver­än­de­run­gen im Bereich der unte­ren Extre­mi­tä­ten vor­lie­gen. Zudem kann das Stem­mer­sche Zei­chen als dia­gnos­ti­sches Mit­tel her­an­ge­zo­gen wer­den. Lipö­dem, Adi­po­si­tas und Lipo­hy­per­tro­phie sind auf­grund meist sym­me­tri­scher Ver­än­de­run­gen schwie­ri­ger von­ein­an­der zu tren­nen, auch weil wir noch nicht über siche­re bild­ge­ben­de Ver­fah­ren verfügen.

OT: In sei­nem Vor­trag sag­te Dr. Tobi­as Bertsch, das Lipö­dem sei ein­deu­tig kei­ne Öde­m­er­kran­kung. War­um ist die­se Dis­kus­si­on wichtig?

Reiß­hau­er: Es ist ver­wir­rend, beson­ders für die Pati­ent:innen selbst, dass „Ödem“ in dem Wort steckt. Wir wis­sen mitt­ler­wei­le, dass es sich bei einem Lipö­dem nicht um ein Ödem im Sin­ne von Flüs­sig­keits­an­samm­lung im Gewe­be han­delt. Der Begriff sug­ge­riert ande­re the­ra­peu­ti­sche Mög­lich­kei­ten, wie zum Bei­spiel Ent­stau­ungs­the­ra­pie, die hier nicht ziel­füh­rend sind. Das ist eine Wen­dung hin­sicht­lich der the­ra­peu­ti­schen Stra­te­gie. Es gibt des­we­gen Über­le­gun­gen, den Begriff Lipö­dem zu ver­än­dern. Doch das ist schwie­rig, weil er sich welt­weit eta­bliert hat.

OT: Wel­che Rol­le spielt die Kompressionstherapie?

Reiß­hau­er: Die Kom­pres­si­ons­the­ra­pie ist nach wie vor bedeut­sam, weil das Lipö­dem meist mit einer Bin­de­ge­webs­schwä­che und dabei mit venö­ser Insuf­fi­zi­enz und auch Adi­po­si­tas ein­her­geht. Bei­de Fak­to­ren, Bin­de­ge­webs­schwä­che und Adi­po­si­tas, machen im Rah­men der sekun­dä­ren Prä­ven­ti­on eine Kom­pres­si­on nötig, um eine Venen­in­suf­fi­zi­enz zu ver­mei­den. Und davon sind Patient:innen mit Über­ge­wicht und Adi­po­si­tas beson­ders bedroht. Inso­fern wird der Stel­len­wert der Kom­pres­si­on nicht klei­ner wer­den. Es ist ein the­ra­peu­ti­scher Fort­schritt, dass seit der Auf­nah­me ins Hilfs­mit­tel­ver­zeich­nis im Dezem­ber 2021 medi­zi­ni­sche adap­ti­ve Kom­pres­si­ons­sys­te­me ver­ord­net wer­den kön­nen. Die­se gibt es schon seit Län­ge­rem. Aber wel­che Patient:innen konn­ten sich das vor­her leis­ten? Dies stellt nun eine gro­ße Berei­che­rung hin­sicht­lich der Aus­wahl an Kom­pres­si­ons­mög­lich­kei­ten dar. Eine wei­te­re Berei­che­rung sind inno­va­ti­ve Pols­ter­ma­te­ria­li­en, die nicht wie übli­che Wat­te­bin­den ver­wor­fen wer­den, son­dern gewa­schen wer­den kön­nen. Wie­der­ver­wend­ba­re Mate­ria­li­en haben für uns einen gro­ßen öko­no­mi­schen und öko­lo­gi­schen Vorteil.

OT: Wel­che Tipps geben Sie Patient:innen bei der Dia­gno­se Lipö­dem bzw. Adi­po­si­tas-asso­zi­ier­tes Lymph­ödem in Ihrer Sprech­stun­de? Auch hin­sicht­lich des Stich­worts „Selbst­ma­nage­ment“?

Reiß­hau­er: Das ist ein wich­ti­ger Punkt. Es freut mich immer wie­der sehr, dass die Selbst­hil­fe­ver­bän­de extrem aktiv sind und dass in der aktu­el­len Leit­li­nie Bewe­gungs­übun­gen und Selbst­ma­nage­ment eine wich­ti­ge Rol­le spie­len. Wir geben den Patient:innen in der Sprech­stun­de immer Hin­wei­se zu ent­stau­en­den Übun­gen und Haut­pfle­ge. Wenn wir danach fra­gen, wie häu­fig sie die Übun­gen durch­füh­ren, zeigt sich aber: Es ist noch viel Luft nach oben. Dabei ist Bewe­gung ein wesent­li­cher Teil des Selbst­ma­nage­ments. In unse­rer Sprech­stun­de läuft auch aktu­ell eine Stu­die zu dem Thema.

OT: Mit wel­chem Hintergrund?

Reiß­hau­er: Die Stu­die über­prüft Übun­gen für die obe­ren und unte­ren Extre­mi­tä­ten jeweils getrennt von­ein­an­der und soll zei­gen, inwie­fern sie Fak­to­ren wie Span­nungs­schmerz­re­duk­ti­on, Lebens­qua­li­tät und ggf. Volu­men­re­duk­ti­on posi­tiv beein­flus­sen. Die Patient:innen erhal­ten dafür per QR-Code ein online­ba­sier­tes Pro­gramm. Wer nicht über die tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten ver­fügt, erhält ein Äqui­va­lent auf Papier. Die Stu­die wird von den Patient:innen auch sehr gut ange­nom­men. Die Ergeb­nis­se wer­den wir beim nächs­ten Lym­pho­lo­gi­schen Sym­po­si­um, das am 22. April 2023 in Ber­lin statt­fin­det, vor­stel­len können.

Die Fra­gen stell­te Pia Engelbrecht.

 

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