Einleitung
Bei den heute verwendeten transkutanen osseointegrierten Prothesensystemen (TOPS) 1 sind die distalen Weichteile ohne festen formschlüssigen Endkontakt. Dieser Umstand verursacht zwischen allen postoperativen Versorgungen und bei voluminösen Stümpfen ein Absinken der Weichteile (Abb. 1, Detail 3a). Die aus dieser sogenannten Weichteildeszendenz resultierenden Probleme können differieren und störende Auswirkungen auf den gesamten Nutzungskomfort des Prothesensystems haben 2. Deshalb wurde von Seiten des verantwortlichen Oberarztes, mit dem der Autor zusammenarbeitet, die Forderung an die versorgende Orthopädietechnik herangetragen, eine Lösung für dieses Problem zu finden. Der Autor entwickelte daraufhin ein distales Kompressionssystem (DKS), das im Folgenden beschrieben wird. Es besteht aus einer Kompressionsschale und einem Befestigungselement. Der Grundgedanke besteht darin, die allgemein indizierte Stumpfkompressionsversorgung an die besonderen Herausforderungen eines osseointegrierten Amputationsstumpfs anzupassen. Beim DKS wirkt somit ein von distal nach proximal justierbarer Anpressdruck auf den osseointegrierten Amputationsstumpf mit seinem transkutanen Durchgang, und zwar mittels einer schalenförmigen Stumpfaufnahme.
Überlegungen und Zielsetzung
Der beschriebene Anpressdruck bzw. Endkontakt ist insbesondere nach dem zweiten chirurgischen Eingriff (Step 2), bei dem das Weichteil-Stoma (Abb. 2, Detail 4) hergestellt wird, erforderlich. Denn im ersten operativen Eingriff (Step 1) gilt es u. a. auch die Muskelstränge der veränderten Knochenlänge anzupassen und die distalen Muskelschichten neu zu präparieren. Dabei entstehen in den distalen Weichteilschichten verschieden ausgeprägte Hämatome (Abb. 2, Detail 4a). Solche Hämatome werden erst nach mehreren Wochen vom Organismus restlos resorbiert. Innerhalb dieser Phase werden die distalen Weichteile für das Stoma „durchlocht“; die Folge dessen ist eine Vervielfachung der Wundfläche (Abb. 2, Detail 4a), die den Umfang der Kontaminierung und der Kolonisierung durch Keime erhöht und somit die Infektionsgefahr in diesem Areal signifikant ansteigen lässt.
Die Mehrheit der TOPS-Patienten, die der Autor versorgt hat, berichten von einem deutlichen postoperativen Stoma-Schmerz nach Step 2 bzw. nach einer Stoma-Revision, der während der frühen Mobilisierungsphase auftrat. Nach Ansicht des Autors wird dieser Schmerz durch das unkontrollierte Reiben und Anstoßen der instabilen Weichteilvolumina an der Konusaufnahme („taper sleeve“) bzw. am Brückenmodul/Doppelkonus („abutment“) hervorgerufen (Abb. 1 u. 2, Details 5 u. 7). Mit einem distalen Kompressionssystem, das mit definiertem Anpressdruck das konvex geformte Stumpfende vollflächig aufnimmt, können, so die Erfahrung des Autors, die oben genannten Hauptproblematiken (Weichteildeszendenz und postoperativer Stoma-Schmerz) entweder weitgehend vermieden oder sinnvoll therapiert werden. Die Weichteile in der Umgebung des transkutanen Durchgangs werden dadurch multidirektional stabilisiert, und eine Ausdehnung der Wundhöhle kann deutlich verringert werden. Die zur Epithelisierung des Weichteilgangs notwendige Relativbewegung der Weichteile bleibt auch bei einem moderaten Anpressdruck bestehen. Der Anpressdruck kann zusätzlich durch Verwendung von Klemmscheiben unterschiedlicher Materialstärken „eingestellt“ werden (Abb. 1, Detail 3a u. 4b). Zur definitiven Anwendung, insbesondere bei unterschiedlichen Materialkombinationen und/oder sehr individuellen Formen, wäre einer additiven Fertigung der Vorzug zu geben.
Therapeutische Hintergründe
Durch den gezielten Andruck auf die distalen Weichteile, sichergestellt durch ein DKS, ist die allgemein indizierte Stumpfkompressionsversorgung therapeutisch korrekt möglich. Bisher wirkte die zirkuläre Kompressionstherapie mit einem Stumpfkompressionsstrumpf an einem Amputationsstumpf stark elongierend, also die Weichteile längend und von der Extremität wegziehend. Das ist insbesondere am osseointegrierten Amputationsstumpf mit einem Weichteiltunnel, dem Stoma, kontraproduktiv. Wird das DKS auch als finale, begleitende Komponente zum Endo-Exo-Prothesensystem verwendet, also bei Stümpfen mit den typischen Weichteilüberhängen (Abb. 1, Detail 3a), dann sollte auch weiterhin ein Stumpfkompressionsstrumpf – nun idealerweise in Flachstricktechnik – genutzt werden. Dadurch werden Hautirritationen vermieden und die Schweißbildung zumindest etwas gehemmt. Nur in den sehr seltenen Fällen, in denen eine stark atrophierte, gering weichteilgedeckte Stumpfspitze (< 20 mm) besteht, sollte auf eine postoperative und finale Anwendung des DKS verzichtet werden. Denn ein vitaler Stomakanal ist gewünscht, und die Hautoberfläche kann frei von Abschirmung bleiben. Kontraindikationen sind in der postoperativen Phase nach Step 2 bisher nicht erfassbar; allein das Schmerzempfinden durch die zirkuläre und distale Kompression ist ein Indikator.
Bei besonders voluminösen, schweren Weichteilüberhängen entstehen gelegentlich lymphatische Stauungen, aus denen Sensibilitätsstörungen resultieren. Mit einer Stimulation durch Friktion und Andruck auf die Hautoberfläche, beispielsweise durch das hier vorgestellte distale Kompressionssystem, kann der Stoffwechsel angeregt und eine Desensibilisierung der Hautoberfläche erreicht werden. Friktion und Andruck auf die Hautoberfläche haben noch einen weiteren Nutzen: Sie erzeugen eine sensorische Rückmeldung der Hautnerven zum Gehirn und tragen so zur Eindämmung der Phantomschmerzen bei. Auf dieser Erkenntnis beruht der therapeutische Ansatz, innerhalb weniger Tage mit einer modernen prothetischen Interimsversorgung (d. h. einem Silikonliner zur postoperativen Kompressionstherapie und einem Vollkontaktschaft) zu beginnen. Allerdings ist diese schnelle zeitliche Abfolge heutzutage aufgrund der zivilisatorisch bedingten Amputationsursachen und der damit einhergehenden Komorbiditäten (z. B. Wundheilungsstörung, Herz- und Niereninsuffizienz) nicht das Standardprozedere. Schnelle, zufriedenstellende prothetische Interimsversorgungen, insbesondere bei transfemoralen und transhumeralen Amputationen, sind nur mit einem engen Netz an OT-Werkstätten und mit spezialisierten Prothesentechnikerinnen und ‑technikern möglich. Daher sollten planbare, kostenreduzierte und effiziente Versorgungskonzepte angewendet werden. Die unterschiedlichen transkutanen Prothesensysteme können eine solche Versorgungsform darstellen.
Funktionsumfang und technische Ausführung des DKS
- Zur Herstellung der Schalen werden unterschiedliche Kunststoffe verwendet. Das DKS wird bisher in zwei Größen, zwei Formen (rundkonvex oder ovalkonvex) und mit unterschiedlichen Wölbungstiefen gefertigt und angewendet.
- Das DKS lässt sich ohne großen technischen Aufwand vom Anwender bzw. vom Patienten täglich an- und ablegen, auch mehrmals täglich – inklusive des Stumpfkompressionsstrumpfes mit Hilfe eines Anziehringes (Abb. 4b).
- Für die postoperative Bereitstellung sind nach Ansicht des Autors zwei unterschiedliche standardisierte Größen ausreichend. Die Wölbungstiefe der Schalen kann im weiteren Verlauf – je nach Ödemreduzierung und Art der Wundabdeckung – durch Kürzen verringert werden.
- Zur definitiven, dauerhaften Anwendung wurden in der Werkstatt des Autors Individualanfertigungen mit Hilfe eines Gipsabdruckes auf dem zirkulär und distal vorkomprimierten Stumpf vorgenommen. Dieser Arbeitsaufwand ist allerdings unverhältnismäßig hoch und sollte zukünftig durch zeitgemäße Technologien der Formerfassung verringert werden.
- Im Gebrauch ist unbedingt ein vollflächiger Kontakt mit der Stumpfoberfläche anzustreben; der Kontakt soll nicht randständig sein oder punktuell auf das Stoma einwirken. Die Schale des DKS verfügt am Boden über eine Bohrung, die zentriert oder exzentrisch gesetzt sein kann. Die Bohrung weist den Durchmesser des Brückenzylinders auf. Bei Verwendung eines alternativen transkutanen osseointegrierten Systems ist der erforderliche Durchmesser des Brückenmoduls/Doppelkonus/„abutment“ zu bohren.
- Die distale Kompressionsschale ist formstabil (rigide bis semi-rigide), denn sie muss einem merkbaren, individuell regulierbaren Druck von distal nach proximal standhalten, ohne dass eine größere Verformung auftreten kann.
- Der essenzielle Endkontakt bzw. der justierbare Anpressdruck auf die distalen Weichteile erfolgt durch das Aufstecken unterschiedlich starker Klemmscheiben auf das Brückenmodul/den Doppelkonus/das „abutment“ (Abb. 3).
- Bei einigen gefertigten Versionen der distalen Kompressionsschale kann diese zusätzlich in proximaler Richtung eine weniger rigide Randfassung aufweisen – entweder durch Reduzierung der Materialwandung des eigentlichen Materials oder durch eine Sandwich-Bauweise (d. h. 1. rigide Basis, 2. nach proximal flexible Schale) (Abb. 3, Detail B).
- Denkbar ist außerdem eine zusätzlich adaptierte Fassung an der Kompressionsschale des DKS. Diese Fassung ist flexibel, elastisch (bei Verwendung von Kompressionstextilien, Silikon o. Ä.) und reicht bis zur Mitte der Stumpflänge oder darüber hinaus (Abb. 3, Detail B).
- Eine industrielle Herstellung ist wünschenswert. Nicht nur zur postoperativen Nutzung, sondern insbesondere bei Anwendung unterschiedlicher Materialkombinationen und/oder bei sehr individuellen Formen stellt aus Sicht des Autors eine semi-industrielle additive Fertigung den wirtschaftlicheren Weg dar.
- Bei zerklüfteten distalen Stumpfarealen durch Narbeneinzüge, verursacht durch Brand- oder Sprengverletzungen, wäre durch die Anwendung individuell gefertigter DKS auch eine stimulierende Narbentherapie mit Hilfe von Sonder-Inlays möglich, z. B. mit Gel oder mit Luftkammern, die auch mit intermittierender Funktion versehen sein können; diese Funktion wird durch die Auftrittsaktivität ermöglicht, die die physiologische Muskelarbeit während einer Belastungsphase nachbildet.
- Für das DKS gibt es eine deutsche Patentanmeldung. Die Offenlegungsschrift wurde vom Deutschen Patent- und Markenamt veröffentlicht.
Exkurs: DKS bei primären Osseointegrationen in der Militärmedizin
Im Kapitel „Therapeutische Hintergründe“ wurde aufgeführt, welche Bedeutung Friktion und Andruck auf die Hautoberfläche haben und das dadurch die Entstehung von Phantomschmerzen beeinträchtigt wird. In diesem Zusammenhang, also die Vermeidung von Phantomschmerzen in Verbindung mit einer Osseointegration, muss auch auf die Option einer primären Osseointegration hingewiesen werden. Primäre Osseointegration bedeutet die zeitgleiche oder nur geringfügig zeitlich versetzte Einbringung des Femurimplantates nach einer Amputation (hier: traumatisch) ohne den Umweg über eine schaftgeführte Exo-Prothese. Derzeit (Stand: Mai 2022) ist dem Autor jedoch kein entsprechender Versorgungsfall aus Deutschland bekannt, und auch global wird diese Versorgungsform sicherlich eine Seltenheit sein. Sollte allerdings die aktuell nur sehr selten praktizierte primäre Osseointegration im Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen in der Ukraine verstärkt in den Fokus der militärmedizinischen Betrachtung gelangen, so sollte die distale Kompression aus Sicht des Autors in den entsprechenden Fällen eine Standardtherapie sein. Aufgrund der Zunahme von Extremitätenamputationen in vorausgegangenen militärischen Konflikten im Irak und Afghanistan bei den Soldaten der US-amerikanischen und britischen Streikkräfte 3 4 5 6, der zu erwartenden tausenden neuen Kriegsversehrten mit Amputation und der inzwischen vielerorts etablierten Expertise in der Endo-Exo-Prothetik wäre eine Neuorientierung bezüglich der primären Osseointegration angezeigt 7. Denn – so die Prognose des Autors – am Ende des Ukraine-Krieges werden vergleichbar viele, je nach Dauer und Intensität des Konflikts höchstwahrscheinlich sogar sehr viel mehr Amputationen zu versorgen sein. Diese Versorgungen werden nun in Europa und in der Folge dann auch in Osteuropa erfolgen.
Fazit
Zu Beginn des hier vorgestellten Projektes stand eine ärztliche Forderung nach besserer Stabilisierung der Weichteile bei einer Osseointegration. Mit der Entwicklung des DKS ist die Erfüllung dieser Forderung nach den bisherigen Erfahrungen des Autors sehr gut möglich. Darüber hinaus ist zu vermuten, dass sich damit sogar eine gewisse Weichteilkontinuität wiederherstellen lässt und dass das vorschnelle Absinken der Weichteile aufgehalten werden kann. Dadurch wäre auch eine Stagnation der Stomaverengung möglich (Abb. 1, Detail 3a u. 4b). Einen Nachweis für die Stichhaltigkeit der aufgeführten Beobachtungen und Vermutungen kann allerdings nur eine adäquate Studie erbringen. Eine Anwendererprobung mit vereinfachter Protokollierung wäre ein erster sinnvoller Schritt, um zumindest belastbare Patientenaussagen bezüglich der Schmerzreduzierung zu erhalten.
Der Autor:
Gernot Kretschmer, OTM
Pro-Samed Sanitätshaus e. K.
Greifswalder Straße 154–156
10409 Berlin
Gernot.Kretschmer@pro-samed.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Kretschmer G. Distales Kompressionssystem zur Prophylaxe und Therapie der Weichteildeszendenz bei Nutzung eines transkutanen osseointegrierten Prothesensystems – Anwendung bei der Versorgung eines transfemoralen Amputationsstumpfes. Orthopädie Technik, 2022; 73 (8): 46–50
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