Einleitung
Die Skoliose ist eine strukturelle Wachstumsdeformität der Wirbelsäule mit fixierter seitlicher Verbiegung, Drehung der einzelnen Wirbel und Rotation der Wirbelsäule im Krümmungsbereich 1. „Idiopathische Skoliosen machen 90 % aller Skoliosen im Wachstumsalter aus, wobei innerhalb dieser Gruppe die Adoleszentenskoliosen mit ca. 90 % am häufigsten vorkommen. 9 % entfallen auf die juvenilen und 1 % auf die infantilen idiopathischen Skoliosen.“ 2 Da die Ursachen bei der idiopathischen Skoliose unklar sind, besteht keine ursächliche Behandlungsstrategie. In der konservativen Therapie der idiopathischen Skoliose ist die Wirksamkeit der Korsettbehandlung gut belegt, siehe unter anderem 3. Die Studienlage zur Wirksamkeit von Physiotherapie und aktiver Übungstherapie ist noch unbefriedigend, da nur kurzfristige und keine dauerhaften Effekte belegt sind 45. Bezüglich der Therapie nach Spiraldynamik® gibt es zum jetzigen Zeitpunkt (Stand November 2016) keine wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweise. Neben den Einschränkungen der Wirbelsäulenmobilität durch die strukturelle Verformung sind die Patienten weiteren Beeinträchtigungen ausgesetzt, die in der konservativen Therapie beachtet werden müssen. Patienten mit einer idiopathischen Skoliose können eine geringere Gleichgewichtsfähigkeit zeigen 6, haben Auffälligkeiten im Gangablauf 7, sind häufig weniger zufrieden mit ihrem Leben 8 und haben einen geringeren Selbstwert 9.
Dies verdeutlicht, dass eine rein biomechanische Sichtweise, d. h. die Reduktion auf die pathologischen Abweichungen der Wirbelsäule, für die Beschreibung der Gesamtheit der Beschwerden der Patienten und die Behandlung der Patienten mit Skoliose nicht ausreichend ist. In der Skoliosetherapie sollte daher eine biopsychosoziale Therapiestrategie verfolgt werden.
Biopsychosoziale Sichtweise in der Physiotherapie
Das im Jahre 1997 publizierte „Neue Denkmodell der Physiotherapie“ 1011 orientiert sich nicht mehr ausschließlich an den Fachgebieten der klinischen Medizin, sondern an den Organ- und Funktionssystemen (1) Bewegungssystem, (2) Bewegungsentwicklung und ‑kontrolle, (3) Innere Organe und (4) Erleben und Verhalten des Menschen. Die Auswirkungen einer Erkrankung wie beispielsweise der Skoliose zeigen sich in allen vier Funktionskreisen (Tab. 1). Die im „Neuen Denkmodell der Physiotherapie“ dargestellte Sichtweise und Vorgehensweise basiert, wie auch die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF, 12) auf einem biopsychosozialen Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Neben den in der konservativen Therapie der Skoliose gängigen Therapiemethoden wie beispielsweise der dreidimensionalen Skoliosebehandlung nach Schroth 13 wird auch die Spiraldynamik® in der konservativen Skoliosetherapie der idiopathischen Skoliose eingesetzt 14. Die Spiraldynamik® versteht sich als ganzheitliches Therapie- und Bewegungskonzept, das alle vier Wirkorte des neuen Denkmodells und damit alle Funktionskreise anspricht, in denen sich Auswirkungen der Skoliose manifestieren. Ein pädagogisches Vorgehen soll gewährleisten, dass die Patienten ökonomischere Haltungs- und Bewegungsmuster erlernen und nachhaltig in ihren individuellen Alltag integrieren.
Das Konzept der Spiraldynamik®
Die Spiraldynamik® wurde in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts von dem Arzt Dr. Christian Larsen und der Physiotherapeutin Yolande Deswarte entwickelt. Es handelt sich um ein Bewegungs- und Therapiekonzept, das den sinnvollen Gebrauch des Körpers aus dem dreidimensionalen spiraligen Aufbau des Körpers ableitet und damit die Bewegungskoordination des Menschen nachvollziehbar macht. Funktion und Struktur stehen in einer Wechselbeziehung, das heißt, die Form der Körperstrukturen bestimmt die Art der Funktion, und die Funktion nimmt Einfluss auf die Ausbildung und Ausrichtung der anatomischen Strukturen.
Ziel der Spiraldynamik® ist es, die physiologische Haltung und Bewegung des Menschen erklärbar, erfahrbar und erlernbar zu machen. Sie basiert auf räumlichen sowie zeitlichen Bewegungsprinzipien und integriert ein pädagogisches Vorgehen.
Räumliche Bewegungsprinzipien der Spiraldynamik®
Die räumlichen Bewegungsprinzipien der Spiraldynamik® basieren auf dem dreidimensionalen Bauplan der anatomischen Körperstrukturen. Daraus leitet die Spiraldynamik® die dreidimensionale spiralige Verschraubung als maßgebliches Funktionsprinzip für gesunde und ökonomische Haltung und Bewegung ab – was häufig als „dreidimensionale Gebrauchsanweisung für den menschlichen Körper“ bezeichnet wird. Grundlage der dreidimensionalen Verschraubung ist das Polaritätsprinzip. Darunter versteht man, dass die Bewegung zweier Körperbereiche – „Pole“ genannt – bewirkt, dass auch die dazwischen liegenden Körperstrukturen bewegt werden. Rotieren beispielsweise die zwei Pole Kopf und Becken spiegelsymmetrisch um die transversale Achse zueinander, so kommt es im Rumpf zunächst zu einer Aufrichtung und sodann zu einem gleichmäßigen Bogen. In der Spiraldynamik® wird dabei vom Aufrichtungs- und Gewölbeprinzip gesprochen. Rotieren zwei Pole um alle drei Raumachsen, so entsteht in den Körperstrukturen dazwischen eine spiralige Verschraubung – man spricht vom „Spiralprinzip“ (Abb. 1). Ausmaß und Richtung der Rotationen werden von der funktionellen Anatomie des jeweiligen Körperabschnittes bestimmt.
Zeitliches Prinzip der Spiraldynamik®
Ein weiteres Grundprinzip der Spiraldynamik beinhaltet die zeitliche Komponente der Bewegung. Natürliche Bewegungen wie zum Beispiel das Gehen sind geprägt durch einen rhythmischen Wechsel zwischen Stand- und Spielbeinphasen, durch alternierende Gegenrotation des Thorax zum Becken, durch Auf- und Abbau der Fußgewölbe und durch das rhythmische reaktive Armpendel. Die Körperstrukturen werden rhythmisch wechselnd mit Druck und Zug belastet beziehungsweise be- und entlastet. Die zeitliche Organisation physiologischer Bewegungen folgt aus Abb. 1 Spiralprinzip. Sicht der Spiraldynamik® dem Charakter einer Wellenbewegung: Wird innerhalb des rhythmischen Wechsels einer Bewegung die neurophysiologisch festgelegte zeitliche Abfolge der Muskelkontraktionen und eine physiologische Frequenz und Amplitude beachtet, so kann sich ein stabiler Haltungshintergrund für eine Bewegung organisieren. Die an der Bewegung beteiligten Gelenke vereinen durch ihre Zentrierung Stabilität und Mobilität. Die rhythmisch wechselnde spiralige Ver- und Entschraubung zwischen zwei Polen wird in der Spiraldynamik® als „Wellenprinzip“ bezeichnet.
Physiopädagogisches Vorgehen der Spiraldynamik®
Der Therapieaufbau im Rahmen der Spiraldynamik® erfolgt in pädagogisch begründbaren Therapieschritten und ermöglicht den Patienten, eine neue Haltung oder Bewegung zu erlernen und zu integrieren. Da es vor allem um körperliche Veränderungen geht, spricht man auch von einem physiopädagogischen Vorgehen. Im folgend dargestellten physiopädagogischen Aufbau der Behandlung von Patienten mit Skoliose nach Spiraldynamik® werden die Therapieschritte (1) Motivation, (2) Verständnis, (3) Wahrnehmung, (4) Voraussetzungen, (5) Basisübungen, (6) Variationen und (7) Integration unterschieden. Zu jedem Zeitpunkt des Therapieprozesses wird überprüft, ob die notwendigen Voraussetzungen für den nächsten Therapieschritt vorhanden sind oder noch erarbeitet werden müssen. Die Therapieschritte werden für ein besseres Verständnis als aufeinander aufbauend dargestellt. In der Therapiesituation überschneiden sich die Schritte jedoch in der Regel oder gehen fließend ineinander über. Im Verlauf der Therapie wiederholt sich der Zyklus der Therapieschritte auf einer immer höheren Lernstufe, was letztendlich zu einer immer exakteren und variantenreicheren Bewegungsausführung führt (Abb. 2).
Skoliosebehandlung nach Spiraldynamik®
Im Folgenden werden einzelne Therapieschritte in einem sinnvollen pädagogischen Aufbau vorgestellt und ihre Wirkungsweise den jeweiligen Funktionskreisen zugeordnet. Auf die Darstellung eines konkreten Behandlungsaufbaus wird bewusst verzichtet, um zu vermeiden, dass der Leser die Spiraldynamik® als geordnete Ansammlung von Übungen für eine bestimmte Diagnose versteht.
Für eine zielführende und nachhaltige Therapie ist ein funktioneller Befund der Patienten unerlässlich. Für die Haltungs- und Bewegungsanalyse wendet man die oben beschriebenen räumlichen und zeitlichen Bewegungsprinzipien an. Im physiologischen Gangablauf rotieren Becken und Brustkorb entgegengesetzt, sodass sich die Wirbelsäule alternierend nach rechts und links spiralig verschraubt. Betrachtet man die Mittelstandphase, in der sich das rechte Bein in der Standbeinfunktion und das linke Bein in der Spielbeinfunktion befindet, rotiert die rechte Beckenhälfte um die transversale Achse bis zur funktionellen Aufrichtung, um die vertikale Achse nach dorsal und um die sagittale Achse nach kaudal. Die rechte Brustkorbhälfte dreht gleichzeitig nach vorne, oben und innen und orientiert sich dabei zum werdenden Standbein links. Die Autoelongation der Wirbelsäule resultiert aus der spiegelsymmetrischen Rotation von Kopf und Becken um die transversale Achse und gewährleistet, dass sich die spiralige Verschraubung gleichmäßig auf die gesamte Wirbelsäule verteilt.
Bei Patienten mit einer dreibogigen rechtskonvexen thorakalen Skoliose ist die Wirbelsäule in einer spiraligen Verschraubung teilfixiert, die der Position für die Standbeinphase links entspricht. Die Einordnung der Körperabschnitte für die Standbeinphase rechts ist erschwert, da die Wirbelsäule sich nur mühsam aus ihrer teilfixierten Stellung herausbewegen kann. Beim Gehen findet daher kein gleichmäßiger rhythmischer Wechsel der Rechts-links-Verschraubung statt. Die Spiraldynamik®-Therapie verfolgt die Strategie, die teilfixierte Spirale der Skoliose mit den Elementen der „natürlichen Gegenspirale“ zu behandeln. Eines der Behandlungsziele ist dementsprechend, sowohl das globale Bewegungsmuster der Standbeinphase rechts (räumliches Prinzip) als auch den alternierenden Wechsel zwischen Standbeinphase rechts und links (zeitliches Prinzip) zu erlernen. Die gegenrotatorischen Aktivitäten ermöglichen bestmögliche Mobilität bei notwendiger Stabilität der Wirbelsäule.
Motivation
Der Therapieprozess beginnt mit einem Gespräch, in dem die klinische Anamnese und der psychosoziale Umgang mit der Erkrankung erfragt werden. Beschwerden, spezifische Bedürfnisse und Veränderungswünsche der Patienten werden erfasst und in einem partnerschaftlichen Miteinander realistische Ziele für die therapeutische Behandlung und den Alltag der Patienten vereinbart. In diesem ersten Gespräch wird auch die Möglichkeit und Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit der Patienten außerhalb der Therapieeinheiten geklärt. Man spricht mögliche Hinderungsgründe für die aktive Mitarbeit an und erarbeitet gemeinsam im Rahmen der Therapiesitzungen Lösungsansätze. Diese Strategie soll die Motivation der Patienten zur Veränderung ihrer Bewegungsgewohnheiten fördern und ein nachhaltiges selbstständiges Üben gewährleisten 15. Das patientenzentrierte Gespräch nimmt eine zentrale Funktion innerhalb der Therapie nach Spiraldynamik® ein und wirkt schwerpunktmäßig im Funktionskreis „Erleben und Verhalten“.
Verständnis
Im unmittelbar darauf aufbauenden Therapieschritt analysiert der Therapeut die Haltungs- und Bewegungsgewohnheiten der Patienten. Dabei werden den Patienten die Zusammenhänge zwischen der Ausprägung ihrer Skoliose und ihrer Haltungs- und Bewegungsqualität sowie die Zusammenhänge zwischen der Beschaffenheit ihrer Körperstrukturen und den veränderten Alltagsaktivitäten verständlich erklärt (Therapieschritt 2: Verständnis). Ein besseres Verständnis kann zu einer aktiveren Teilnahme an der Therapie führen 16. Im Anschluss daran werden den Patienten die Grundprinzipien des gesunden Bewegens nach dem Spiraldynamik®-Konzept mit einfachen Modellen, Skelettteilen oder Therapiebändern vermittelt, und die Patienten stellen Muskelzüge und Kraftübertragungen unter Anleitung nach (Abb. 3). Das am Modell Gelernte übertragen sie direkt auf den eigenen Körper, sodass sie die Auswirkungen ihrer individuellen Haltung und Bewegung auf die Körperstrukturen und die Wechselwirkung von Funktion und Struktur wahrnehmen und verstehen können
Dieser Therapieschritt wirkt sich sowohl im Funktionskreis „Erleben und Verhalten“ als auch in den Funktionskeisen „Bewegungsentwicklung und ‑kontrolle“ sowie „Bewegungssystem“ aus.
Wahrnehmung
Begleitend zum und aufbauend auf dem Verständnis steht die Körperwahrnehmung. Dieser Therapieschritt beeinflusst ebenso die Funktionskreise „Bewegungssystem“, „Bewegungsentwicklung und ‑kontrolle“ sowie „Erleben und Verhalten“.
Die Patienten lernen zu spüren, welche Haltung sie bevorzugen und welche Bewegungen sie gerne nutzen oder eher vermeiden. Hierzu werden Hilfsmittel wie Fotos der Körperhaltung oder Videos ihrer Bewegungen im Alltag genutzt und über Wahrnehmungsübungen am eigenen Körperbild gearbeitet (Therapieschritt 3: Wahrnehmung). Ein zentrales Ziel dieses Therapieschrittes ist es, dass die Patienten lernen, ihre Körperabschnitte so um ihr individuelles Lot anzuordnen, dass sie ihre „skoliotische Mitte“ finden. Hierunter wird die maximal mögliche Korrektur der skoliotischen Fehlhaltung verstanden, in der sich Stabilität und Mobilität die Waage halten. Der Patient sollte sich als möglichst aufrecht und stabil, aber nicht als steif und unbeweglich empfinden. Zudem kann dieser Therapieschritt genutzt werden, um die Überzeugung der Patienten zu stärken, dass sie durch ihre eigenen Fähigkeiten positiven Einfluss auf ihren Körper und die Krankheitsentwicklung nehmen können 17. Diese Eigenschaft hat sich vor allem bei chronischen Krankheitsbildern als wesentlich für eine anhaltende Eigenaktivität in Therapie und Training erwiesen 18. Eine Möglichkeit, die Selbstwirksamkeitsüberzeugung zu stärken, ist es, den Patienten bewusst wahrnehmen zu lassen, dass er ohne die Hände des Therapeuten ein Problem, z. B. Nackenverspannungen, bewältigen kann.
Voraussetzungen schaffen
In vielen Fällen ist es den Patienten trotz einer exakten Idee und Anleitung nicht möglich, eine Bewegung spontan auszuführen. Ist beispielsweise eine Aufrichtung durch die mangelnde Aktivität oder Elastizität der Körperstrukturen nur eingeschränkt möglich, werden die strukturellen Voraussetzungen im Bindegewebe sowie in Muskeln, Bändern und Gelenken erarbeitet. Dazu werden Maßnahmen aus der Physikalischen Therapie oder Techniken aus Therapie methoden wie beispielsweise der Manuellen Therapie eingesetzt. Liegt der Grund in einer unzureichenden koordinativen Ansteuerung der Muskulatur, kommen neurophysiologische Methoden wie die Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation mit gezielter gangtypischer Irradiation zum Einsatz (Therapieschritt 4: Voraussetzungen schaffen). Da die Herangehensweise in diesem Therapieschritt stark von den individuellen Einschränkungen der Patienten abhängt und diese sehr vielfältig sind, kann dieser Schritt auf alle vier Funktionskreise wirken.
Basisübungen
Die Patienten setzen ihre neu erarbeiteten Bewegungsmöglichkeiten in Form von Basisübungen um, die anfänglich sehr langsam, konzentriert und möglichst regelmäßig mehrmals pro Woche im Eigenübungsprogramm ausgeführt werden. Für diese Übungen lernen die Patienten, erst einzelne Körperabschnitte dreidimensional zu bewegen, um dann die Bausteine zu einem globalen Ganzkörperbewegungsmuster zusammenzusetzen. Parallel zum praktischen Ausführen der spiraldynamischen Bewegungen erfahren die Patienten die spezifische Wirkweise der Bewegung und erwerben somit über die Zeit die Kompetenz, sich bei individuellen Problemen, z. B. Muskelverspannung/Schmerz, selbst zu helfen (Therapieschritt 5: Basisübungen). Eine typische Basisübung für Patienten mit einer dreibogigen rechtskonvexen thorakalen Skoliose ist die Ganzkörperkoordination aller Körperabschnitte für die Standbeinphase rechts in Seitenlage (Abb. 4). Die Basisübungen sind so gestaltet, dass sie auf alle vier Funktionskreise einwirken.
Individuelle Übungsvariationen
Sobald die Patienten eine Basisübung korrekt ausführen können, wird diese zunehmend ausgebaut und bezüglich der therapeutischen Ausgangsstellungen, des Geräteeinsatzes, des Bewegungsrhythmus oder der Geschwindigkeit variiert, um den motorischen Lern effekt zu verbessern. Hierbei kann auf die Grundprinzipien des differenziellen Bewegungslernens zurückgegriffen werden 19 (Therapieschritt 6: Variationen). Dieser Therapieschritt zeigt seine Wirkung ebenfalls in allen vier Funktionskreisen. Sollte dem Patienten nach einer konsequenten Übungszeit die Ausführung der dreidimensionalen Bewegungsmuster noch schwerfallen, muss nochmals überprüft werden, ob er alle nötigen Voraussetzungen mitbringt, um die Basisübungen in Variationen auszuführen. Eventuell muss zu diesem Zeitpunkt eine gezielte Kräftigung in dreidimensionalen Bewegungsmustern in die Therapie integriert werden.
Integration in Alltag und Freizeit
Vielfältige Variationen sollen den Patienten ermöglichen, die neu erlernten Bewegungen in ihre Alltags- und Freizeitaktivitäten zu integrieren (Therapieschritt 7: Integration). Das globale Bewegungsmuster einer konkreten Standbeinphase kann beispielsweise betont beim Treppensteigen umgesetzt werden (Abb. 5); so wird eine Alltagsbewegung zur therapeutischen Übung. Patienten, die ein Korsett tragen, lernen, die spiraldynamische Bewegungsidee in ihren Alltag mit Korsett zu übertragen. Sportlich aktive Patienten werden angeleitet, das Gelernte in einzelnen Trainingssequenzen zum Beispiel beim Reiten, Inline-Skaten oder Fußballspielen einzubauen. Die regelmäßige Umsetzung der neu erlernten Bewegungsabläufe in individuelle Alltags‑, Berufs- und Freizeitaktivitäten ist grundlegend für eine nachhaltige Veränderung der Bewegungsabläufe und damit auch für nachhaltige strukturelle Veränderungen. Durch die zahlreichen Wiederholungen der dreidimensionalen Bewegungsmuster im Alltag werden die Körperstrukturen in dreidimensionaler Richtung gefordert. Man erhofft sich hierdurch eine entsprechende Reorganisation der anatomischen Strukturen. Durch die im Alltag verankerte Verbesserung der Haltungs- und Bewegungsgewohnheiten der Patienten mit Skoliose soll ein nachhaltiger Therapieerfolg erzielt werden. Die Integration in den individuellen Alltag des Patienten wirkt wiederum in allen vier Funktionskreisen.
Fazit
Die idiopathische Skoliose ist ein Krankheitsbild, das Einschränkungen in den Funktionskreisen „Bewegungssystem“, „Bewegungsentwicklung und ‑kontrolle“, „Innere Organe“ sowie „Erleben und Verhalten“ mit sich bringen kann. Damit alle Einschränkungen adressiert werden, sollte die konservative Therapie in allen vier Funktionskreisen wirken. Durch die am Modell leicht zu vermittelnden räumlichen und zeitlichen Grundprinzipien gesunder Haltung und Bewegung und den physiopädagogischen Aufbau der Therapie erfüllt die Therapie nach Spiraldynamik® diese Anforderung. Der Patient erlangt ausreichendes Wissen und die Fähigkeiten, um die Vielfalt der Bewegungsherausforderungen in seinem Alltag zu meistern. Allerdings liegen zum jetzigen Zeitpunkt noch keine wissenschaftlichen Studien zur Wirksamkeit der Therapie nach Spiraldynamik® bei Patienten mit Skoliose vor.
Für die Autorinnen:
Andrea Kölle, B. Sc. Physiotherapie
Stellvertretende Leitende Lehrkraft,
PT-Akademie, BG Klinik Tübingen
Schnarrenbergstraße 95
72076 Tübingen
akoelle@bgu-tuebingen.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Kölle A, Bientzle M. Die Spiraldynamik® in der Behandlung von Patienten mit idiopathischer Skoliose — Ein dreidimensionales physiopädagogisches Konzept. Orthopädie Technik, 2017; 67 (1): 26–30
Funktionskreis | Mögliche Auswirkungen auf |
---|---|
Bewegungssystem | z. B. Gelenkbeweglichkeit, Muskelkraft, Muskelspannung, Faszien |
Bewegungsentwicklung und ‑kontrolle | z. B. Tiefensensibilität, Körperwahrnehmung, Koordination, Gleichgewicht, Koordination des Gangablaufs |
Innere Organe | z. B. Atmung, Herz-Kreislauf-System |
Verhalten & Erleben | z. B. Selbstwert, Stimmung, Lebenszufriedenheit |
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