Die Spi­ral­dy­na­mik® in der Behand­lung von Pati­en­ten mit idio­pa­thi­scher Sko­lio­se — Ein drei­di­men­sio­na­les phy­sio­päd­ago­gi­sches Konzept

A. Kölle, M. Bientzle
Die idiopathische Skoliose kann Einschränkungen in den Funktionskreisen „Bewegungssystem“, „Innere Organe“, „Bewegungsentwicklung und -kontrolle“ sowie „Erleben und Verhalten“ hervorrufen. Die konservative Therapie sollte daher neben biomedizinischen Aspekten auch biopsychosoziale Aspekte berücksichtigen, um die Haltung und Bewegung von Patienten mit Skoliose nachhaltig zu verbessern. Die Therapie nach Spiraldynamik® erfüllt diese Anforderung. Im vorliegenden Artikel werden die grundlegenden Prinzipien der Spiraldynamik® und das physiopädagogische Vorgehen am Beispiel der Behandlung von Patienten mit Skoliose erläutert.

Ein­lei­tung

Die Sko­lio­se ist eine struk­tu­rel­le Wachs­tums­de­for­mi­tät der Wir­bel­säu­le mit fixier­ter seit­li­cher Ver­bie­gung, Dre­hung der ein­zel­nen Wir­bel und Rota­ti­on der Wir­bel­säu­le im Krüm­mungs­be­reich 1. „Idio­pa­thi­sche Sko­lio­sen machen 90 % aller Sko­lio­sen im Wachs­tums­al­ter aus, wobei inner­halb die­ser Grup­pe die Ado­les­zen­ten­sko­lio­sen mit ca. 90 % am häu­figs­ten vor­kom­men. 9 % ent­fal­len auf die juve­ni­len und 1 % auf die infan­ti­len idio­pa­thi­schen Sko­lio­sen.“ 2 Da die Ursa­chen bei der idio­pa­thi­schen Sko­lio­se unklar sind, besteht kei­ne ursäch­li­che Behand­lungs­stra­te­gie. In der kon­ser­va­ti­ven The­ra­pie der idio­pa­thi­schen Sko­lio­se ist die Wirk­sam­keit der Kor­sett­be­hand­lung gut belegt, sie­he unter ande­rem 3. Die Stu­di­en­la­ge zur Wirk­sam­keit von Phy­sio­the­ra­pie und akti­ver Übungs­the­ra­pie ist noch unbe­frie­di­gend, da nur kurz­fris­ti­ge und kei­ne dau­er­haf­ten Effek­te belegt sind 45. Bezüg­lich der The­ra­pie nach Spi­ral­dy­na­mik® gibt es zum jet­zi­gen Zeit­punkt (Stand Novem­ber 2016) kei­ne wis­sen­schaft­li­chen Wirk­sam­keits­nach­wei­se. Neben den Ein­schrän­kun­gen der Wir­bel­säu­len­mo­bi­li­tät durch die struk­tu­rel­le Ver­for­mung sind die Pati­en­ten wei­te­ren Beein­träch­ti­gun­gen aus­ge­setzt, die in der kon­ser­va­ti­ven The­ra­pie beach­tet wer­den müs­sen. Pati­en­ten mit einer idio­pa­thi­schen Sko­lio­se kön­nen eine gerin­ge­re Gleich­ge­wichts­fä­hig­keit zei­gen 6, haben Auf­fäl­lig­kei­ten im Gang­ab­lauf 7, sind häu­fig weni­ger zufrie­den mit ihrem Leben 8 und haben einen gerin­ge­ren Selbst­wert 8.

Dies ver­deut­licht, dass eine rein bio­me­cha­ni­sche Sicht­wei­se, d. h. die Reduk­ti­on auf die patho­lo­gi­schen Abwei­chun­gen der Wir­bel­säu­le, für die Beschrei­bung der Gesamt­heit der Beschwer­den der Pati­en­ten und die Behand­lung der Pati­en­ten mit Sko­lio­se nicht aus­rei­chend ist. In der Sko­lio­se­the­ra­pie soll­te daher eine bio­psy­cho­so­zia­le The­ra­pie­stra­te­gie ver­folgt werden.

Bio­psy­cho­so­zia­le Sicht­wei­se in der Physiotherapie

Das im Jah­re 1997 publi­zier­te „Neue Denk­mo­dell der Phy­sio­the­ra­pie“ 910 ori­en­tiert sich nicht mehr aus­schließ­lich an den Fach­ge­bie­ten der kli­ni­schen Medi­zin, son­dern an den Organ- und Funk­ti­ons­sys­te­men (1) Bewe­gungs­sys­tem, (2) Bewe­gungs­ent­wick­lung und ‑kon­trol­le, (3) Inne­re Orga­ne und (4) Erle­ben und Ver­hal­ten des Men­schen. Die Aus­wir­kun­gen einer Erkran­kung wie bei­spiels­wei­se der Sko­lio­se zei­gen sich in allen vier Funk­ti­ons­krei­sen (Tab. 1). Die im „Neu­en Denk­mo­dell der Phy­sio­the­ra­pie“ dar­ge­stell­te Sicht­wei­se und Vor­ge­hens­wei­se basiert, wie auch die Inter­na­tio­nal Clas­si­fi­ca­ti­on of Func­tio­ning, Disa­bi­li­ty and Health (ICF, 11) auf einem bio­psy­cho­so­zia­len Ver­ständ­nis von Gesund­heit und Krank­heit. Neben den in der kon­ser­va­ti­ven The­ra­pie der Sko­lio­se gän­gi­gen The­ra­pie­me­tho­den wie bei­spiels­wei­se der drei­di­men­sio­na­len Sko­lio­se­be­hand­lung nach Schroth 12 wird auch die Spi­ral­dy­na­mik® in der kon­ser­va­ti­ven Sko­lio­se­the­ra­pie der idio­pa­thi­schen Sko­lio­se ein­ge­setzt 13. Die Spi­ral­dy­na­mik® ver­steht sich als ganz­heit­li­ches The­ra­pie- und Bewe­gungs­kon­zept, das alle vier Wirk­or­te des neu­en Denk­mo­dells und damit alle Funk­ti­ons­krei­se anspricht, in denen sich Aus­wir­kun­gen der Sko­lio­se mani­fes­tie­ren. Ein päd­ago­gi­sches Vor­ge­hen soll gewähr­leis­ten, dass die Pati­en­ten öko­no­mi­sche­re Hal­tungs- und Bewe­gungs­mus­ter erler­nen und nach­hal­tig in ihren indi­vi­du­el­len All­tag integrieren.

Das Kon­zept der Spiraldynamik®

Die Spi­ral­dy­na­mik® wur­de in den 80er Jah­ren des 20. Jahr­hun­derts von dem Arzt Dr. Chris­ti­an Lar­sen und der Phy­sio­the­ra­peu­tin Yolan­de Des­war­te ent­wi­ckelt. Es han­delt sich um ein Bewe­gungs- und The­ra­pie­kon­zept, das den sinn­vol­len Gebrauch des Kör­pers aus dem drei­di­men­sio­na­len spi­ra­li­gen Auf­bau des Kör­pers ablei­tet und damit die Bewe­gungs­ko­or­di­na­ti­on des Men­schen nach­voll­zieh­bar macht. Funk­ti­on und Struk­tur ste­hen in einer Wech­sel­be­zie­hung, das heißt, die Form der Kör­per­struk­tu­ren bestimmt die Art der Funk­ti­on, und die Funk­ti­on nimmt Ein­fluss auf die Aus­bil­dung und Aus­rich­tung der ana­to­mi­schen Strukturen.

Ziel der Spi­ral­dy­na­mik® ist es, die phy­sio­lo­gi­sche Hal­tung und Bewe­gung des Men­schen erklär­bar, erfahr­bar und erlern­bar zu machen. Sie basiert auf räum­li­chen sowie zeit­li­chen Bewe­gungs­prin­zi­pi­en und inte­griert ein päd­ago­gi­sches Vorgehen.

Räum­li­che Bewegungs­prinzipien der Spiraldynamik®

Die räum­li­chen Bewe­gungs­prin­zi­pi­en der Spi­ral­dy­na­mik® basie­ren auf dem drei­di­men­sio­na­len Bau­plan der ana­to­mi­schen Kör­per­struk­tu­ren. Dar­aus lei­tet die Spi­ral­dy­na­mik® die drei­di­men­sio­na­le spi­ra­li­ge Ver­schrau­bung als maß­geb­li­ches Funk­ti­ons­prin­zip für gesun­de und öko­no­mi­sche Hal­tung und Bewe­gung ab – was häu­fig als „drei­di­men­sio­na­le Gebrauchs­an­wei­sung für den mensch­li­chen Kör­per“ bezeich­net wird. Grund­la­ge der drei­di­men­sio­na­len Ver­schrau­bung ist das Pola­ri­täts­prin­zip. Dar­un­ter ver­steht man, dass die Bewe­gung zwei­er Kör­per­be­rei­che – „Pole“ genannt – bewirkt, dass auch die dazwi­schen lie­gen­den Kör­per­struk­tu­ren bewegt wer­den. Rotie­ren bei­spiels­wei­se die zwei Pole Kopf und Becken spie­gel­sym­me­trisch um die trans­ver­sa­le Ach­se zuein­an­der, so kommt es im Rumpf zunächst zu einer Auf­rich­tung und sodann zu einem gleich­mä­ßi­gen Bogen. In der Spi­ral­dy­na­mik® wird dabei vom Auf­rich­tungs- und Gewöl­be­prin­zip gespro­chen. Rotie­ren zwei Pole um alle drei Raum­ach­sen, so ent­steht in den Kör­per­struk­tu­ren dazwi­schen eine spi­ra­li­ge Ver­schrau­bung – man spricht vom „Spi­ral­prin­zip“ (Abb. 1). Aus­maß und Rich­tung der Rota­tio­nen wer­den von der funk­tio­nel­len Ana­to­mie des jewei­li­gen Kör­per­ab­schnit­tes bestimmt.

Zeit­li­ches Prin­zip der Spiraldynamik®

Ein wei­te­res Grund­prin­zip der Spi­ral­dy­na­mik beinhal­tet die zeit­li­che Kom­po­nen­te der Bewe­gung. Natür­li­che Bewe­gun­gen wie zum Bei­spiel das Gehen sind geprägt durch einen rhyth­mi­schen Wech­sel zwi­schen Stand- und Spiel­bein­pha­sen, durch alter­nie­ren­de Gegen­ro­ta­ti­on des Tho­rax zum Becken, durch Auf- und Abbau der Fuß­ge­wöl­be und durch das rhyth­mi­sche reak­ti­ve Arm­pen­del. Die Kör­per­struk­tu­ren wer­den rhyth­misch wech­selnd mit Druck und Zug belas­tet bezie­hungs­wei­se be- und ent­las­tet. Die zeit­li­che Orga­ni­sa­ti­on phy­sio­lo­gi­scher Bewe­gun­gen folgt aus Abb. 1 Spi­ral­prin­zip. Sicht der Spi­ral­dy­na­mik® dem Cha­rak­ter einer Wel­len­be­we­gung: Wird inner­halb des rhyth­mi­schen Wech­sels einer Bewe­gung die neu­ro­phy­sio­lo­gisch fest­ge­leg­te zeit­li­che Abfol­ge der Mus­kel­kon­trak­tio­nen und eine phy­sio­lo­gi­sche Fre­quenz und Ampli­tu­de beach­tet, so kann sich ein sta­bi­ler Hal­tungs­hin­ter­grund für eine Bewe­gung orga­ni­sie­ren. Die an der Bewe­gung betei­lig­ten Gelen­ke ver­ei­nen durch ihre Zen­trie­rung Sta­bi­li­tät und Mobi­li­tät. Die rhyth­misch wech­seln­de spi­ra­li­ge Ver- und Ent­schrau­bung zwi­schen zwei Polen wird in der Spi­ral­dy­na­mik® als „Wel­len­prin­zip“ bezeichnet.

Phy­sio­päd­ago­gi­sches Vor­ge­hen der Spiraldynamik®

Der The­ra­pie­auf­bau im Rah­men der Spi­ral­dy­na­mik® erfolgt in päd­ago­gisch begründ­ba­ren The­ra­pie­schrit­ten und ermög­licht den Pati­en­ten, eine neue Hal­tung oder Bewe­gung zu erler­nen und zu inte­grie­ren. Da es vor allem um kör­per­li­che Ver­än­de­run­gen geht, spricht man auch von einem phy­sio­päd­ago­gi­schen Vor­ge­hen. Im fol­gend dar­ge­stell­ten phy­sio­päd­ago­gi­schen Auf­bau der Behand­lung von Pati­en­ten mit Sko­lio­se nach Spi­ral­dy­na­mik® wer­den die The­ra­pie­schrit­te (1) Moti­va­ti­on, (2) Ver­ständ­nis, (3) Wahr­neh­mung, (4) Vor­aus­set­zun­gen, (5) Basis­übun­gen, (6) Varia­tio­nen und (7) Inte­gra­ti­on unter­schie­den. Zu jedem Zeit­punkt des The­ra­pie­pro­zes­ses wird über­prüft, ob die not­wen­di­gen Vor­aus­set­zun­gen für den nächs­ten The­ra­pie­schritt vor­han­den sind oder noch erar­bei­tet wer­den müs­sen. Die The­ra­pie­schrit­te wer­den für ein bes­se­res Ver­ständ­nis als auf­ein­an­der auf­bau­end dar­ge­stellt. In der The­ra­pie­si­tua­ti­on über­schnei­den sich die Schrit­te jedoch in der Regel oder gehen flie­ßend inein­an­der über. Im Ver­lauf der The­ra­pie wie­der­holt sich der Zyklus der The­ra­pie­schrit­te auf einer immer höhe­ren Lern­stu­fe, was letzt­end­lich zu einer immer exak­te­ren und vari­an­ten­rei­che­ren Bewe­gungs­aus­füh­rung führt (Abb. 2).

Sko­lio­se­be­hand­lung nach Spiraldynamik®

Im Fol­gen­den wer­den ein­zel­ne The­ra­pie­schrit­te in einem sinn­vol­len päd­ago­gi­schen Auf­bau vor­ge­stellt und ihre Wir­kungs­wei­se den jewei­li­gen Funk­ti­ons­krei­sen zuge­ord­net. Auf die Dar­stel­lung eines kon­kre­ten Behand­lungs­auf­baus wird bewusst ver­zich­tet, um zu ver­mei­den, dass der Leser die Spi­ral­dy­na­mik® als geord­ne­te Ansamm­lung von Übun­gen für eine bestimm­te Dia­gno­se versteht.

Für eine ziel­füh­ren­de und nach­hal­ti­ge The­ra­pie ist ein funk­tio­nel­ler Befund der Pati­en­ten uner­läss­lich. Für die Hal­tungs- und Bewe­gungs­ana­ly­se wen­det man die oben beschrie­be­nen räum­li­chen und zeit­li­chen Bewe­gungs­prin­zi­pi­en an. Im phy­sio­lo­gi­schen Gang­ab­lauf rotie­ren Becken und Brust­korb ent­ge­gen­ge­setzt, sodass sich die Wir­bel­säu­le alter­nie­rend nach rechts und links spi­ra­lig ver­schraubt. Betrach­tet man die Mit­tel­stand­pha­se, in der sich das rech­te Bein in der Stand­bein­funk­ti­on und das lin­ke Bein in der Spiel­bein­funk­ti­on befin­det, rotiert die rech­te Becken­hälf­te um die trans­ver­sa­le Ach­se bis zur funk­tio­nel­len Auf­rich­tung, um die ver­ti­ka­le Ach­se nach dor­sal und um die sagit­ta­le Ach­se nach kau­dal. Die rech­te Brust­korb­hälf­te dreht gleich­zei­tig nach vor­ne, oben und innen und ori­en­tiert sich dabei zum wer­den­den Stand­bein links. Die Autoelon­ga­ti­on der Wir­bel­säu­le resul­tiert aus der spie­gel­sym­me­tri­schen Rota­ti­on von Kopf und Becken um die trans­ver­sa­le Ach­se und gewähr­leis­tet, dass sich die spi­ra­li­ge Ver­schrau­bung gleich­mä­ßig auf die gesam­te Wir­bel­säu­le verteilt.

Bei Pati­en­ten mit einer drei­bo­gi­gen rechts­kon­ve­xen tho­ra­ka­len Sko­lio­se ist die Wir­bel­säu­le in einer spi­ra­li­gen Ver­schrau­bung teil­fi­xiert, die der Posi­ti­on für die Stand­bein­pha­se links ent­spricht. Die Ein­ord­nung der Kör­per­ab­schnit­te für die Stand­bein­pha­se rechts ist erschwert, da die Wir­bel­säu­le sich nur müh­sam aus ihrer teil­fi­xier­ten Stel­lung her­aus­be­we­gen kann. Beim Gehen fin­det daher kein gleich­mä­ßi­ger rhyth­mi­scher Wech­sel der Rechts-links-Ver­schrau­bung statt. Die Spiraldynamik®-Therapie ver­folgt die Stra­te­gie, die teil­fi­xier­te Spi­ra­le der Sko­lio­se mit den Ele­men­ten der „natür­li­chen Gegen­spi­ra­le“ zu behan­deln. Eines der Behand­lungs­zie­le ist dem­entspre­chend, sowohl das glo­ba­le Bewe­gungs­mus­ter der Stand­bein­pha­se rechts (räum­li­ches Prin­zip) als auch den alter­nie­ren­den Wech­sel zwi­schen Stand­bein­pha­se rechts und links (zeit­li­ches Prin­zip) zu erler­nen. Die gegen­ro­ta­to­ri­schen Akti­vi­tä­ten ermög­li­chen best­mög­li­che Mobi­li­tät bei not­wen­di­ger Sta­bi­li­tät der Wirbelsäule.

Moti­va­ti­on

Der The­ra­pie­pro­zess beginnt mit einem Gespräch, in dem die kli­ni­sche Ana­mne­se und der psy­cho­so­zia­le Umgang mit der Erkran­kung erfragt wer­den. Beschwer­den, spe­zi­fi­sche Bedürf­nis­se und Ver­än­de­rungs­wün­sche der Pati­en­ten wer­den erfasst und in einem part­ner­schaft­li­chen Mit­ein­an­der rea­lis­ti­sche Zie­le für die the­ra­peu­ti­sche Behand­lung und den All­tag der Pati­en­ten ver­ein­bart. In die­sem ers­ten Gespräch wird auch die Mög­lich­keit und Bereit­schaft zur akti­ven Mit­ar­beit der Pati­en­ten außer­halb der The­ra­pie­ein­hei­ten geklärt. Man spricht mög­li­che Hin­de­rungs­grün­de für die akti­ve Mit­ar­beit an und erar­bei­tet gemein­sam im Rah­men der The­ra­pie­sit­zun­gen Lösungs­an­sät­ze. Die­se Stra­te­gie soll die Moti­va­ti­on der Pati­en­ten zur Ver­än­de­rung ihrer Bewe­gungs­ge­wohn­hei­ten för­dern und ein nach­hal­ti­ges selbst­stän­di­ges Üben gewähr­leis­ten 14. Das pati­en­ten­zen­trier­te Gespräch nimmt eine zen­tra­le Funk­ti­on inner­halb der The­ra­pie nach Spi­ral­dy­na­mik® ein und wirkt schwer­punkt­mä­ßig im Funk­ti­ons­kreis „Erle­ben und Verhalten“.

Ver­ständ­nis

Im unmit­tel­bar dar­auf auf­bau­en­den The­ra­pie­schritt ana­ly­siert der The­ra­peut die Hal­tungs- und Bewe­gungs­ge­wohn­hei­ten der Pati­en­ten. Dabei wer­den den Pati­en­ten die Zusam­men­hän­ge zwi­schen der Aus­prä­gung ihrer Sko­lio­se und ihrer Hal­tungs- und Bewe­gungs­qua­li­tät sowie die Zusam­men­hän­ge zwi­schen der Beschaf­fen­heit ihrer Kör­per­struk­tu­ren und den ver­än­der­ten All­tags­ak­ti­vi­tä­ten ver­ständ­lich erklärt (The­ra­pie­schritt 2: Ver­ständ­nis). Ein bes­se­res Ver­ständ­nis kann zu einer akti­ve­ren Teil­nah­me an der The­ra­pie füh­ren 15. Im Anschluss dar­an wer­den den Pati­en­ten die Grund­prin­zi­pi­en des gesun­den Bewe­gens nach dem Spiraldynamik®-Konzept mit ein­fa­chen Model­len, Ske­lett­tei­len oder The­ra­pie­bän­dern ver­mit­telt, und die Pati­en­ten stel­len Mus­kel­zü­ge und Kraft­über­tra­gun­gen unter Anlei­tung nach (Abb. 3). Das am Modell Gelern­te über­tra­gen sie direkt auf den eige­nen Kör­per, sodass sie die Aus­wir­kun­gen ihrer indi­vi­du­el­len Hal­tung und Bewe­gung auf die Kör­per­struk­tu­ren und die Wech­sel­wir­kung von Funk­ti­on und Struk­tur wahr­neh­men und ver­ste­hen können

Die­ser The­ra­pie­schritt wirkt sich sowohl im Funk­ti­ons­kreis „Erle­ben und Ver­hal­ten“ als auch in den Funk­ti­onsk­ei­sen „Bewe­gungs­ent­wick­lung und ‑kon­trol­le“ sowie „Bewe­gungs­sys­tem“ aus.

Wahr­neh­mung

Beglei­tend zum und auf­bau­end auf dem Ver­ständ­nis steht die Kör­per­wahr­neh­mung. Die­ser The­ra­pie­schritt beein­flusst eben­so die Funk­ti­ons­krei­se „Bewe­gungs­sys­tem“, „Bewe­gungs­ent­wick­lung und ‑kon­trol­le“ sowie „Erle­ben und Verhalten“.

Die Pati­en­ten ler­nen zu spü­ren, wel­che Hal­tung sie bevor­zu­gen und wel­che Bewe­gun­gen sie ger­ne nut­zen oder eher ver­mei­den. Hier­zu wer­den Hilfs­mit­tel wie Fotos der Kör­per­hal­tung oder Vide­os ihrer Bewe­gun­gen im All­tag genutzt und über Wahr­neh­mungs­übun­gen am eige­nen Kör­per­bild gear­bei­tet (The­ra­pie­schritt 3: Wahr­neh­mung). Ein zen­tra­les Ziel die­ses The­ra­pie­schrit­tes ist es, dass die Pati­en­ten ler­nen, ihre Kör­per­ab­schnit­te so um ihr indi­vi­du­el­les Lot anzu­ord­nen, dass sie ihre „sko­lio­ti­sche Mit­te“ fin­den. Hier­un­ter wird die maxi­mal mög­li­che Kor­rek­tur der sko­lio­ti­schen Fehl­hal­tung ver­stan­den, in der sich Sta­bi­li­tät und Mobi­li­tät die Waa­ge hal­ten. Der Pati­ent soll­te sich als mög­lichst auf­recht und sta­bil, aber nicht als steif und unbe­weg­lich emp­fin­den. Zudem kann die­ser The­ra­pie­schritt genutzt wer­den, um die Über­zeu­gung der Pati­en­ten zu stär­ken, dass sie durch ihre eige­nen Fähig­kei­ten posi­ti­ven Ein­fluss auf ihren Kör­per und die Krank­heits­ent­wick­lung neh­men kön­nen 16. Die­se Eigen­schaft hat sich vor allem bei chro­ni­schen Krank­heits­bil­dern als wesent­lich für eine anhal­ten­de Eigen­ak­ti­vi­tät in The­ra­pie und Trai­ning erwie­sen 14. Eine Mög­lich­keit, die Selbst­wirk­sam­keits­über­zeu­gung zu stär­ken, ist es, den Pati­en­ten bewusst wahr­neh­men zu las­sen, dass er ohne die Hän­de des The­ra­peu­ten ein Pro­blem, z. B. Nacken­ver­span­nun­gen, bewäl­ti­gen kann.

Vor­aus­set­zun­gen schaffen

In vie­len Fäl­len ist es den Pati­en­ten trotz einer exak­ten Idee und Anlei­tung nicht mög­lich, eine Bewe­gung spon­tan aus­zu­füh­ren. Ist bei­spiels­wei­se eine Auf­rich­tung durch die man­geln­de Akti­vi­tät oder Elas­ti­zi­tät der Kör­per­struk­tu­ren nur ein­ge­schränkt mög­lich, wer­den die struk­tu­rel­len Vor­aus­set­zun­gen im Bin­de­ge­we­be sowie in Mus­keln, Bän­dern und Gelen­ken erar­bei­tet. Dazu wer­den Maß­nah­men aus der Phy­si­ka­li­schen The­ra­pie oder Tech­ni­ken aus Therapie­ metho­den wie bei­spiels­wei­se der Manu­el­len The­ra­pie ein­ge­setzt. Liegt der Grund in einer unzu­rei­chen­den koor­di­na­ti­ven Ansteue­rung der Mus­ku­la­tur, kom­men neu­ro­phy­sio­lo­gi­sche Metho­den wie die Pro­prio­zep­ti­ve Neu­ro­mus­ku­lä­re Fazi­li­ta­ti­on mit geziel­ter gang­ty­pi­scher Irra­dia­ti­on zum Ein­satz (The­ra­pie­schritt 4: Vor­aus­set­zun­gen schaf­fen). Da die Her­an­ge­hens­wei­se in die­sem The­ra­pie­schritt stark von den indi­vi­du­el­len Ein­schrän­kun­gen der Pati­en­ten abhängt und die­se sehr viel­fäl­tig sind, kann die­ser Schritt auf alle vier Funk­ti­ons­krei­se wirken.

Basis­übun­gen

Die Pati­en­ten set­zen ihre neu erar­bei­te­ten Bewe­gungs­mög­lich­kei­ten in Form von Basis­übun­gen um, die anfäng­lich sehr lang­sam, kon­zen­triert und mög­lichst regel­mä­ßig mehr­mals pro Woche im Eigen­übungs­pro­gramm aus­ge­führt wer­den. Für die­se Übun­gen ler­nen die Pati­en­ten, erst ein­zel­ne Kör­per­ab­schnit­te drei­di­men­sio­nal zu bewe­gen, um dann die Bau­stei­ne zu einem glo­ba­len Ganz­kör­per­be­we­gungs­mus­ter zusam­men­zu­set­zen. Par­al­lel zum prak­ti­schen Aus­füh­ren der spi­ral­dy­na­mi­schen Bewe­gun­gen erfah­ren die Pati­en­ten die spe­zi­fi­sche Wirk­wei­se der Bewe­gung und erwer­ben somit über die Zeit die Kom­pe­tenz, sich bei indi­vi­du­el­len Pro­ble­men, z. B. Muskelverspannung/Schmerz, selbst zu hel­fen (The­ra­pie­schritt 5: Basis­übun­gen). Eine typi­sche Basis­übung für Pati­en­ten mit einer drei­bo­gi­gen rechts­kon­ve­xen tho­ra­ka­len Sko­lio­se ist die Ganz­kör­per­ko­or­di­na­ti­on aller Kör­per­ab­schnit­te für die Stand­bein­pha­se rechts in Sei­ten­la­ge (Abb. 4). Die Basis­übun­gen sind so gestal­tet, dass sie auf alle vier Funk­ti­ons­krei­se einwirken.

Indi­vi­du­el­le Übungsvariationen

Sobald die Pati­en­ten eine Basis­übung kor­rekt aus­füh­ren kön­nen, wird die­se zuneh­mend aus­ge­baut und bezüg­lich der the­ra­peu­ti­schen Aus­gangs­stel­lun­gen, des Gerä­te­ein­sat­zes, des Bewe­gungs­rhyth­mus oder der Geschwin­dig­keit vari­iert, um den moto­ri­schen Lern­ effekt zu ver­bes­sern. Hier­bei kann auf die Grund­prin­zi­pi­en des dif­fe­ren­zi­el­len Bewe­gungs­ler­nens zurück­ge­grif­fen wer­den 17 (The­ra­pie­schritt 6: Varia­tio­nen). Die­ser The­ra­pie­schritt zeigt sei­ne Wir­kung eben­falls in allen vier Funk­ti­ons­krei­sen. Soll­te dem Pati­en­ten nach einer kon­se­quen­ten Übungs­zeit die Aus­füh­rung der drei­di­men­sio­na­len Bewe­gungs­mus­ter noch schwer­fal­len, muss noch­mals über­prüft wer­den, ob er alle nöti­gen Vor­aus­set­zun­gen mit­bringt, um die Basis­übun­gen in Varia­tio­nen aus­zu­füh­ren. Even­tu­ell muss zu die­sem Zeit­punkt eine geziel­te Kräf­ti­gung in drei­di­men­sio­na­len Bewe­gungs­mus­tern in die The­ra­pie inte­griert werden.

Inte­gra­ti­on in All­tag und Freizeit

Viel­fäl­ti­ge Varia­tio­nen sol­len den Pati­en­ten ermög­li­chen, die neu erlern­ten Bewe­gun­gen in ihre All­tags- und Frei­zeit­ak­ti­vi­tä­ten zu inte­grie­ren (The­ra­pie­schritt 7: Inte­gra­ti­on). Das glo­ba­le Bewe­gungs­mus­ter einer kon­kre­ten Stand­bein­pha­se kann bei­spiels­wei­se betont beim Trep­pen­stei­gen umge­setzt wer­den (Abb. 5); so wird eine All­tags­be­we­gung zur the­ra­peu­ti­schen Übung. Pati­en­ten, die ein Kor­sett tra­gen, ler­nen, die spi­ral­dy­na­mi­sche Bewe­gungs­idee in ihren All­tag mit Kor­sett zu über­tra­gen. Sport­lich akti­ve Pati­en­ten wer­den ange­lei­tet, das Gelern­te in ein­zel­nen Trai­nings­se­quen­zen zum Bei­spiel beim Rei­ten, Inline-Ska­ten oder Fuß­ball­spie­len ein­zu­bau­en. Die regel­mä­ßi­ge Umset­zung der neu erlern­ten Bewe­gungs­ab­läu­fe in indi­vi­du­el­le Alltags‑, Berufs- und Frei­zeit­ak­ti­vi­tä­ten ist grund­le­gend für eine nach­hal­ti­ge Ver­än­de­rung der Bewe­gungs­ab­läu­fe und damit auch für nach­hal­ti­ge struk­tu­rel­le Ver­än­de­run­gen. Durch die zahl­rei­chen Wie­der­ho­lun­gen der drei­di­men­sio­na­len Bewe­gungs­mus­ter im All­tag wer­den die Kör­per­struk­tu­ren in drei­di­men­sio­na­ler Rich­tung gefor­dert. Man erhofft sich hier­durch eine ent­spre­chen­de Reor­ga­ni­sa­ti­on der ana­to­mi­schen Struk­tu­ren. Durch die im All­tag ver­an­ker­te Ver­bes­se­rung der Hal­tungs- und Bewe­gungs­ge­wohn­hei­ten der Pati­en­ten mit Sko­lio­se soll ein nach­hal­ti­ger The­ra­pie­er­folg erzielt wer­den. Die Inte­gra­ti­on in den indi­vi­du­el­len All­tag des Pati­en­ten wirkt wie­der­um in allen vier Funktionskreisen.

Fazit

Die idio­pa­thi­sche Sko­lio­se ist ein Krank­heits­bild, das Ein­schrän­kun­gen in den Funk­ti­ons­krei­sen „Bewe­gungs­sys­tem“, „Bewe­gungs­ent­wick­lung und ‑kon­trolle“, „Inne­re Orga­ne“ sowie „Erle­ben und Ver­hal­ten“ mit sich brin­gen kann. Damit alle Ein­schrän­kun­gen adres­siert wer­den, soll­te die kon­ser­va­ti­ve The­ra­pie in allen vier Funk­ti­ons­krei­sen wir­ken. Durch die am Modell leicht zu ver­mit­teln­den räum­li­chen und zeit­li­chen Grund­prin­zi­pi­en gesun­der Hal­tung und Bewe­gung und den phy­sio­päd­ago­gi­schen Auf­bau der The­ra­pie erfüllt die The­ra­pie nach Spi­ral­dy­na­mik® die­se Anfor­de­rung. Der Pati­ent erlangt aus­rei­chen­des Wis­sen und die Fähig­kei­ten, um die Viel­falt der Bewe­gungs­her­aus­for­de­run­gen in sei­nem All­tag zu meis­tern. Aller­dings lie­gen zum jet­zi­gen Zeit­punkt noch kei­ne wis­sen­schaft­li­chen Stu­di­en zur Wirk­sam­keit der The­ra­pie nach Spi­ral­dy­na­mik® bei Pati­en­ten mit Sko­lio­se vor.

Für die Autorinnen:
Andrea Köl­le, B. Sc. Physiotherapie
Stell­ver­tre­ten­de Lei­ten­de Lehrkraft,
PT-Aka­de­mie, BG Kli­nik Tübingen
Schnar­ren­berg­stra­ße 95
72076 Tübin­gen
akoelle@bgu-tuebingen.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Köl­le A, Bientzle M. Die Spi­ral­dy­na­mik® in der Behand­lung von Pati­en­ten mit idio­pa­thi­scher Sko­lio­se — Ein drei­di­men­sio­na­les phy­sio­päd­ago­gi­sches Kon­zept. Ortho­pä­die Tech­nik, 2017; 67 (1): 26–30
Funk­ti­ons­kreisMög­li­che Aus­wir­kun­gen auf
Bewe­gungs­sys­temz. B. Gelenk­be­weg­lich­keit, Mus­kel­kraft, Mus­kel­span­nung, Faszien
Bewe­gungs­ent­wick­lung und ‑kon­trol­lez. B. Tie­fen­sen­si­bi­li­tät, Kör­per­wahr­neh­mung, Koor­di­na­ti­on, Gleich­ge­wicht, Koor­di­na­ti­on des Gangablaufs
Inne­re Organez. B. Atmung, Herz-Kreislauf-System
Ver­hal­ten & Erlebenz. B. Selbst­wert, Stim­mung, Lebenszufriedenheit
Tab. 1 Mög­li­che Aus­wir­kun­gen der idio­pa­thi­schen Skoliose.
  1. Pschyrem­bel. Kli­ni­sches Wör­ter­buch. 258. Auf­la­ge. Ber­lin, New York: De Gruy­ter, 1998
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