Die Rol­le der sEMG-Mes­sung in der Bewegungsanalyse

C. Disselhorst-Klug
Die Therapie von Bewegungseinschränkungen bedarf einer objektiven und quantitativen Beurteilung des Bewegungsvermögens. Da die Bewegungsausführung und das der Bewegung zugrundeliegende muskuläre Koordinationsmuster nicht unabhängig voneinander sind, müssen beide Aspekte in die Beurteilung des Bewegungsvermögens einfließen. 3D-Bewegungsanalyse und Oberflächen-Elektromyographie (sEMG) sind geeignete Verfahren, zeitlich aufeinander synchronisiert die benötigten Informationen zu liefern. Jedoch sind die sEMG-Signale und das daraus resultierende muskuläre Koordinationsmuster häufig schwer zu interpretieren. Der folgende Beitrag zeigt auf, wie durch Kombination von Bewegungsanalyse und sEMG zuverlässige Informationen und einfach interpretierbare Messgrößen gewonnen werden können.

Ein­lei­tung

Mit dem demo­gra­fi­schen Wan­del steigt die Anzahl der Pati­en­ten mit muskulo­skelettalen Erkran­kun­gen ste­tig. Für die Betrof­fe­nen bedeu­tet dies in der Regel einen Ver­lust an Lebens­qua­li­tät. Sozio­öko­no­misch sind zukünf­tig stei­gen­de Kos­ten für Prä­ven­ti­on, The­ra­pie und vor allem Reha­bi­li­ta­ti­on zu erwar­ten. Vor die­sem Hin­ter­grund bedarf es ver­bes­ser­ter dia­gnos­ti­scher Ver­fah­ren sowie inno­va­ti­ver the­ra­peu­ti­scher Maß­nah­men, die die Bewe­gungs­fä­hig­keit des Pati­en­ten schnell wie­der­her­stel­len und deren Evi­denz ein­deu­tig belegt wer­den kann.

Im Zusam­men­hang mit Bewe­gungs­stö­run­gen kann die Evi­denz einer Inter­ven­ti­on nur dann quan­ti­ta­tiv nach­ge­wie­sen wer­den, wenn eine objek­ti­ve Bewer­tung des Bewe­gungs­ver­mö­gens des Pati­en­ten mög­lich ist 1. Dabei ist es wich­tig, dass all­tags­re­le­van­te Bewe­gun­gen betrach­tet wer­den. Die rei­ne Betrach­tung des Bewe­gungs­um­fangs oder die Ana­ly­se von Teil­be­we­gun­gen wie sie oft bei iso­ki­ne­ti­schen Mes­sun­gen erfolgt, füh­ren häu­fig zu einer Fehl­be­ur­tei­lung des tat­säch­li­chen Bewe­gungs­ver­mö­gens des Pati­en­ten. In der kli­ni­schen Pra­xis stüt­zen sich Arzt und The­ra­peut neben der kli­ni­schen Unter­su­chung in ers­ter Linie auf die visu­el­le Beob­ach­tung der Bewe­gun­gen. Die­se Vor­ge­hens­wei­se ist qua­li­ta­tiv und zudem durch den sub­jek­ti­ven Ein­druck des Unter­su­chers geprägt. Semi-Objek­ti­vi­tät kann durch kli­ni­sche Scores und Fra­ge­bö­gen erreicht wer­den 2. Sie sind ein wesent­li­cher Schritt zum Nach­weis von Evi­denz in der The­ra­pie, lie­fern jedoch sel­ten objek­ti­ve Infor­ma­tio­nen über das tat­säch­li­che Bewe­gungs­ver­mö­gen des indi­vi­du­el­len Pati­en­ten. Eine objek­ti­ve Ana­ly­se von Ursa­che, Umfang und Schwe­re der Bewe­gungs­ein­schrän­kung ver­bes­sert jedoch nicht nur die dia­gnos­ti­schen Mög­lich­kei­ten – sie ist viel­mehr die Vor­aus­set­zung für eine indi­vi­du­el­le Anpas­sung der The­ra­pie­maß­nah­men, die Kon­trol­le des The­ra­pie­er­fol­ges und den Nach­weis von Evi­denz bei Pati­en­ten mit Bewegungseinschränkungen.

Die Not­wen­dig­keit, die Bewe­gungs­fä­hig­keit eines Pati­en­ten in mög­lichst all­täg­li­chen Situa­tio­nen objek­tiv zu beur­tei­len, war die Moti­va­ti­on, Bewe­gungs­ana­ly­se­sys­te­me zu ent­wi­ckeln 3. Heu­te sind weit fort­ge­schrit­te­ne Bewe­gungs­ana­ly­se­sys­te­me kom­mer­zi­ell erhält­lich, die eine objek­ti­ve Ana­ly­se der frei­en Kör­per­be­we­gun­gen mit hoher zeit­li­cher und räum­li­cher Auf­lö­sung erlau­ben 4. Die­se Sys­te­me beru­hen meis­tens auf einem Sen­der-Emp­fän­ger-Prin­zip, wobei die­ Sen­der als „Mar­ker“ bezeich­net wer­den. Die Bewe­gungs­bahn jedes Mar­kers im Raum kann drei­di­men­sio­nal (3D) rekon­stru­iert wer­den, wenn min­des­tens zwei Emp­fän­ger gleich­zei­tig den Mar­ker sehen 5. Unter Zuhil­fe­nah­me soge­nann­ter bio­me­cha­ni­scher Model­le, die die 3D-Mar­ker­po­si­tio­nen mit der indi­vi­du­el­len Ana­to­mie des Pati­en­ten ver­knüp­fen, wird es mög­lich, die Bewe­gun­gen als Rota­tio­nen um die ana­to­mi­schen Ach­sen der ein­zel­nen Gelen­ke zu beschrei­ben 4 5. Hier­aus ergibt sich die quan­ti­ta­ti­ve Bestim­mung von Gelenk­win­keln, Gelenkwinkel­ geschwin­dig­kei­ten und Gelenk­win­kel­be­schleu­ni­gun­gen. Die­se als „Kine­ma­tik“ bezeich­ne­te Beschrei­bungs­form wird häu­fig durch die Kine­tik ergänzt, bei der über die Kine­ma­tik hin­aus die auf die Gelen­ke wir­ken­den Kräf­te und Momen­te mit ein­be­zo­gen wer­den 4 5. Ins­be­son­de­re in der kli­ni­schen Gang­ana­ly­se haben in den letz­ten Jah­ren 3D-Bewe­gungs­ana­ly­se­ver­fah­ren zuneh­mend an Bedeu­tung gewon­nen und sind heu­te kli­nisch weit ver­brei­tet. Aber auch in der Beur­tei­lung des Bewe­gungs­ver­mö­gens der obe­ren Extre­mi­tä­ten gewin­nen bewe­gungs­ana­ly­ti­sche Ver­fah­ren zuneh­mend an Bedeu­tung 6.

Neben der quan­ti­ta­ti­ven Beschrei­bung der Bewe­gungs­aus­füh­rung mit­tels Kine­ma­tik und Kine­tik muss jedoch gera­de im patho­lo­gi­schen Kon­text die mus­ku­lä­re Kom­po­nen­te als eine wesent­li­che Ursa­che der Bewe­gung mit in die Betrach­tung ein­be­zo­gen wer­den. Hier­bei erfolgt die Steue­rung der aus­ge­führ­ten Bewe­gung über das soge­nann­te mus­ku­lä­re Koor­di­na­ti­ons­mus­ter, mit dem syn­er­gis­ti­sche und ant­ago­nis­ti­sche Mus­keln oder Mus­kel­grup­pen durch das zen­ tra­le Ner­ven­sys­tem sys­te­ma­tisch akti­viert wer­den. Auf die­se Wei­se wird eine hohe Prä­zi­si­on der Bewe­gungs­aus­füh­rung erreicht 7. Ziel einer effek­ti­ven Bewe­gungs­aus­füh­rung ist eine mög­lichst genau aus­ge­führ­te, ziel­ge­rich­te­te Bewe­gung bei gleich­zei­tig gerin­gem Ener­gie­ver­brauch. Jeg­li­che funk­tio­nel­len Bewe­gungs­ein­schrän­kun­gen füh­ren zu Abwei­chun­gen im mus­ku­lä­ren Koor­di­na­ti­ons­mus­ter; Ver­än­de­run­gen des mus­ku­lä­ren Koor­di­na­ti­ons­mus­ters wie­der­um füh­ren zu funk­tio­nel­len Bewe­gungs­ein­schrän­kun­gen. Aus­ge­führ­te Bewe­gung und mus­ku­lä­re Koor­di­na­ti­on sind also nicht unab­hän­gig von­ein­an­der zu betrach­ten, und die kor­rek­te Inter­pre­ta­ti­on einer Bewe­gungs­aus­füh­rung bedarf auch immer der Infor­ma­ti­on über das zugrun­de­lie­gen­de mus­ku­lä­re Koor­di­na­ti­ons­mus­ter. Umge­kehrt ist aber auch eine Inter­pre­ta­ti­on des mus­ku­lä­ren Koor­di­na­ti­ons­mus­ters nicht mög­lich, wenn kei­ne Infor­ma­ti­on über die aus­ge­führ­te Bewe­gung vorliegt.

Ober­flä­chen-Elek­tro­­m­yo­gra­phie (sEMG) zur nicht­in­va­si­ven Erfas­sung des mus­ku­lä­ren Koordinationsmusters

Die Erre­gung der Mus­kel­fa­sern, die zu deren Kon­trak­ti­on und letzt­lich zur Kraft­ent­fal­tung führt, wird vom zen­tra­len Ner­ven­sys­tem durch Akti­ons­po­ten­zia­le, die sich ent­lang der Mus­kel­fa­sern aus­brei­ten, initi­iert und gesteu­ert. Das mit dem Akti­ons­po­ten­zi­al ver­bun­de­ne elek­tri­sche Feld brei­tet sich durch den Kör­per aus und ist auf der Haut­ober­flä­che als elek­tri­sches Signal abzu­lei­ten 8. Die­ses Signal wird als „Ober­flä­chen-Elek­tro­m­yo­gra­phie-Signal“ (engl. „sur­face EMG“, sEMG) bezeich­net und stellt ein eta­blier­tes Ver­fah­ren dar, die mus­ku­lä­re Akti­vie­rung eines Mus­kels nicht­in­va­siv zu unter­su­chen. Abge­lei­tet wird das sEMG mit Ober­flä­chen­elek­tro­den von der Haut­ober­flä­che, wor­aus sich eine gerin­ge räum­li­che Auf­lö­sung ergibt 8. Das kon­ven­tio­nel­le sEMG spie­gelt daher die glo­ba­le Akti­vi­tät ein­zel­ner Mus­keln oder Mus­kel­grup­pen wider, wobei die Ampli­tu­de des Signals mit der Anzahl der vom zen­tra­len Ner­ven­sys­tem akti­vier­ten Mus­kel­fa­sern kor­re­liert. Da jedoch die ein­zel­nen Mus­kel­fa­sern nicht nur unter­schied­lich weit vom Ableit­ort ent­fernt lie­gen, son­dern auch bei Erre­gung durch ein Akti­ons­po­ten­zi­al unter­schied­li­che Kon­trak­ti­ons­kräf­te gene­rie­ren, steigt die sEMG-Ampli­tu­de nicht line­ar mit der erzeug­ten Mus­kel­kraft 9. Die Ablei­tung der sEMG- Signa­le erfolgt bipo­lar und mit einem rela­tiv gro­ßen Elek­tro­den­ab­stand. Meis­tens wird das Signal nach Erfas­sung gleich­ge­rich­tet und tief­pass­ge­fil­tert, sodass eine Hüll­kur­ve („enve­lo­pe“) gebil­det wird, die dann den Grad der mus­ku­lä­ren Akti­vie­rung wider­spie­gelt. Ein inter­na­tio­na­ler Stan­dard für die Ablei­tung von sEMG-Signa­len ist für unter­schied­li­che Mus­keln im soge­nann­ten SENIAM-Pro­to­koll fest­ge­legt 10.

Da es sich beim sEMG um eine nicht­in­va­si­ve Mess­me­tho­de han­delt, ist die­se ins­be­son­de­re für Unter­su­chun­gen des mus­ku­lä­ren Koor­di­na­ti­ons­mus­ters wäh­rend der Aus­füh­rung von Bewe­gun­gen gut geeig­net. Zur Erfas­sung des mus­ku­lä­ren Koor­di­na­ti­ons­mus­ters wer­den die sEMG-Signa­le von meh­re­ren Mus­keln oder Mus­kel­grup­pen mit­tels Ober­flä­chen-Elek­tro­den gleich­zei­tig abge­lei­tet und mit der mit­tels 3D-Bewe­gungs­ana­ly­se erfass­ten Bewe­gung syn­chro­ni­siert 5. Auf die­se Art und Wei­se kann jedem Bewe­gungs­ab­schnitt ein­deu­tig ein mus­ku­lä­res Koor­di­na­ti­ons­mus­ter zuge­ord­net wer­den 111. Abbil­dung 1 zeigt exem­pla­risch die Anord­nung, wie sie zur Erfas­sung des mus­ku­lä­ren Koor­di­na­ti­ons­mus­ters beim Gang genutzt wird. Neben der quan­ti­ta­ti­ven Erfas­sung der indi­vi­du­el­len Gang­be­we­gung ergibt sich das mus­ku­lä­re Koor­di­na­ti­ons­mus­ter aus den Bei­trä­gen fol­gen­der Mus­keln bzw. Mus­kel­grup­pen: Glu­teus maxi­mus, Ham­strings, Vas­tus late­ra­lis, Rec­tus femo­ris, Soleus, Gas­tro­c­ne­mi­us und Tibia­lis anterior.

Beson­der­hei­ten bei der Bestim­mung des mus­ku­lä­ren Koordinations­musters in dyna­mi­schen Situationen

Die meis­ten in der Lite­ra­tur beschrie­be­nen Unter­su­chun­gen der mus­ku­lä­ren Akti­vie­rung bezie­hen sich auf iso­me­tri­sche Kon­trak­tio­nen. Hier­aus lei­tet sich ein umfang­rei­ches Wis­sen über die mus­ku­lä­ren Akti­vie­rungs­stra­te­gien des zen­tra­len Ner­ven­sys­tems ab. Das Pro­blem hier­bei ist, dass Bewe­gun­gen sich durch ein Wech­sel­spiel von kon­zen­tri­schen und exzen­tri­schen Kon­trak­tio­nen ver­schie­de­ner Mus­keln zusam­men­set­zen und die iso­me­tri­sche Kon­trak­ti­on in unse­rem All­tag eher die Aus­nah­me dar­stellt. Ergeb­nis­se aus iso­me­tri­schen Mes­sun­gen sind jedoch nicht unbe­dingt auf dyna­mi­sche Situa­tio­nen über­trag­bar. Hin­ter­grund ist, dass eine Mus­kel­fa­ser unter unter­schied­li­chen Rand­be­din­gun­gen bei glei­cher Erre­gung unter­schied­li­che Kräf­te gene­rie­ren kann. So ist bei­spiels­wei­se die Kon­trak­ti­ons­kraft einer Mus­kel­fa­ser von der Sar­kom­er­län­ge und damit vom Deu­tungs­grad des Mus­kels abhän­gig. Eben­so wur­de beschrie­ben, dass die Kraft, die eine Mus­kel­fa­ser bei exzen­tri­scher Kon­trak­ti­on gene­riert, höher ist als bei kon­zen­tri­scher Kon­trak­ti­on 12 und dar­über hin­aus stark von der Kon­trak­ti­ons­ge­schwin­dig­keit abhängt. Da die sEMG-Ampli­tu­de die Anzahl der Mus­kel­fa­sern wider­spie­gelt, die akti­viert wer­den müs­sen, um eine bestimm­te Kraft zu errei­chen, ist es nach­voll­zieh­bar, dass die sEMG-Ampli­tu­de von die­sen bio­me­cha­ni­schen Fak- toren abhängt 1314. Wird also das sEMG genutzt, um das mus­ku­lä­re Koor­di­na­ti­ons­mus­ter wäh­rend der Aus­füh­rung von Bewe­gun­gen zu ana­ly­sie­ren, müs­sen Fak­to­ren wie Kon­trak­ti­ons­typ, Bewe­gungs­ge­schwin­dig­keit oder Gelenk­stel­lung bei der Inter­pre­ta­ti­on des sEMG-Signals berück­sich­tigt werden.

Vor­teil einer syn­chro­nen Erfas­sung von mus­ku­lä­rer Akti­vie­rung und Bewe­gung mit­tels 3D-Bewe­gungs­ana­ly­se ist, dass die varia­blen Fak­to­ren Gelenk­stel­lung, Win­kel­ge­schwin­dig­keit und Kon­trak­ti­ons­typ direkt aus den kine­ma­ti­schen Bewe­gungs­in­for­ma­tio­nen abge­lei­tet wer­den kön­nen. Hier­aus ergibt sich der Ansatz der Kate­go­ri­sie­rung, der es erlaubt, auch in dyna­mi­schen Situa­tio­nen ver­gleich­ba­re Bedin­gun­gen zu schaf­fen und somit zu einer kor­rek­ten Inter­pre­ta­ti­on des sEMGs zu gelan­gen 14.

Bei der Kate­go­ri­sie­rung wer­den Zeit­ab­schnit­te im sEMG-Signal iden­ti­fi­ziert, bei denen glei­che bio­me­cha­ni­sche Rand­be­din­gun­gen vor­lie­gen. Die Iden­ti­fi­zie­rung der Zeit­ab­schnit­te rich­tet sich nach einem Ent­schei­dungs­baum, mit des­sen Hil­fe ein­zel­ne sEMG-Daten­punk­te bestimm­ten Kate­go­rien zuge­ord­net wer­den (Abb. 2). Dafür müs­sen ins­be­son­de­re Gelenk­stel­lung und Bewe­gungs­ge­schwin­dig­keit in Inter­val­le ein­ge­teilt wer­den, um eine hin­rei­chend hohe Anzahl von sEMG- Daten­punk­ten in jeder Kate­go­rie zu erhal­ten. Die Grö­ße der ein­zel­nen Inter­val­le kann je nach Bewe­gungs­aus­füh­rung unter­schied­lich gewählt wer­den. Da in jeder Kate­go­rie glei­che Rand­bedingungen gege­ben sind, kön­nen die sEMG-Wer­te nach Bil­dung der Hüll­kur­ve in jeder Kate­go­rie gemit­telt wer­den. Abbil­dung 3 zeigt das Ergeb­nis einer Kate­go­ri­sie­rung des sEMG-Signals des M. biceps bra­chii bei einer Flexions­bewegung des Ell­bo­gens mit unter­schied­li­cher Bewe­gungs­ge­schwin­dig­keit. Bei der Ver­suchs­durch­füh­rung wur­de das exter­ne Dreh­mo­ment kon­stant gehal­ten, sodass die Kon­trak­ti­ons­kraft, die der Mus­kel auf­brin­gen muss­te, über den gesam­ten Bewe­gungs­raum kon­stant war 6.

Da sich jede frei aus­ge­führ­te Bewe­gung aus einer Kom­bi­na­ti­on von kon­zen­tri­schen und exzen­tri­schen Kon­trak­tio­nen syn­er­gis­ti­scher und ant­ago­nis­ti­scher Mus­keln zusam­men­setzt, stellt sich die Fra­ge, ob die ein­zel­nen Mus­keln vom zen­tra­len Ner­ven­sys­tem in Abhän­gig­keit vom Bewe­gungs­typ unter­schied­lich akti­viert wer­den. Abbil­dung 4 zeigt den Unter­schied in der Akti­vie­rung der Mus­keln M. biceps bra­chii, M. bra­chiora­dia­lis und M. tri­ceps bra­chii bei kon­zen­tri­scher und exzen­tri­scher Kon­trak­ti­on exem­pla­risch für das Inter­vall 70° bis 80° Ell­bo­gen­fle­xi­on. Wie im Bei­spiel vor­her wur­de das Dreh­mo­ment im Ell­bo­gen­ge­lenk über den gesam­ten Bewe­gungs­raum kon­stant gehal­ten. Erwar­tungs­ge­mäß steigt bei kon­zen­tri­scher Kon­trak­ti­on die sEMG-Ampli­tu­de bei allen drei Mus­keln mit zuneh­men­der Geschwin­dig­keit. Hin­ter­grund ist, dass auf­grund der Geschwin­dig­keits-Kraft-Rela­ti­on die Kraft, die von einer Mus­kel­fa­ser erzeugt wird, mit zuneh­men­der Geschwin­dig­keit abnimmt. Das zen­tra­le Ner­ven­sys­tem muss daher mehr Mus­kel­fa­sern akti­vie­ren, um die vor­ge­ge­be­ne Kraft zu errei­chen. Bei exzen­tri­scher Kon­trak­ti­on ist auf­grund der Geschwin­dig­keits-Kraft-Rela­ti­on das Gegen­teil zu erwar­ten, da sich die Kon­trak­ti­ons­kraft der ein­zel­nen Faser mit zuneh­men­der Geschwin­dig­keit erhöht. Wäh­rend bei exzen­tri­scher Kon­trak­ti­on des M. biceps bra­chii der erwar­te­te Abfall der sEMG-Ampli­tu­de bei stei­gen­der Bewe­gungs­ge­schwin­dig­keit fest­ge­stellt wer­den kann, tritt bei den Mus­keln M. tri­ceps bra­chii und M. bra­chiora­dia­lis ein Anstieg im sEMG mit zuneh­men­der Bewe­gungs­ge­schwin­dig­keit auf. Die­se Tat­sa­che weist auf ein bei Ell­bo­gen­ex­ten­si­on ver­än­der­tes mus­ku­lä­res Koor­di­na­ti­ons­mus­ter hin, in dem die bei­den Ant­ago­nis­ten M. bra­chiora­dia­lis und M. tri­ceps bra­chii vom zen­tra­len Ner­ven­sys­tem co-akti­viert wer­den, um die Bewe­gung prä­zi­ser steu­ern zu kön­nen 7.

Exper­ten­sys­te­me zur Unter­stüt­zung der Inter­pre­ta­ti­on des mus­ku­lä­ren Koordinationmusters

Infor­ma­tio­nen über Ver­än­de­run­gen im mus­ku­lä­ren Koor­di­na­ti­ons­mus­ter sind nicht nur für die Bewer­tung des Bewe­gungs­ver­mö­gens wich­tig – sie bie­ten in Kom­bi­na­ti­on mit Infor­ma­tio­nen über die Bewe­gungs­aus­füh­rung auch die Mög­lich­keit, Schlüs­se auf kri­ti­sche Belas­tungs­si­tua­tio­nen und deren Prä­ven­ti­on zu zie­hen. Jedoch ist die Inter­pre­ta­ti­on des mus­ku­lä­ren Koor­di­na­ti­ons­mus­ters häu­fig schwie­rig, ins­be­son­de­re wenn meh­re­re Mus­keln oder Mus­kel­grup­pen betrach­tet wer­den, und beson­ders, wenn patho­lo­gi­sche Ver­än­de­run­gen in der mus­ku­lä­ren Koor­di­na­ti­on vor­lie­gen. Hier kön­nen Exper­ten­sys­te­me, die den Unter­su­cher in sei­ner Inter­pre­ta­ti­on der Ergeb­nis­se unter­stüt­zen, zukünf­tig eine wich­ti­ge Rol­le spie­len 8. Im Exper­ten­sys­tem ist die Infor­ma­ti­on über die Bewe­gung und das phy­sio­lo­gi­sche mus­ku­lä­re Koor­di­na­ti­ons­mus­ter ver­an­kert. Bei­spie­le hier­für sind das Wis­sen über die bewe­gungs­ab­hän­gi­ge Akti­vie­rung der Ell­bo­gen­flex­o­ren und ‑exten­so­ren, wie in den Abbil­dun­gen 3 und 4 dar­ge­stellt, oder das Wis­sen um die akti­ven Pha­sen ein­zel­ner Mus­keln im Gang (s. Abb. 1) 1516. Neben der Wis­sens­ba­sis wird ein Algo­rith­mus genutzt („Infe­renz­ma­schi­ne“), der einen Zusam­men­hang zwi­schen der Wis­sens­ba­sis und den Ein­gangs­grö­ßen (sEMG- Signa­le und Bewe­gungs­in­for­ma­ti­on) her­stellt und die­ses zu einer ein­fach inter­pre­tier­ba­ren Aus­gangs­grö­ße ver­knüpft. Als Infe­renz­ma­schi­ne wird in der Medi­zin häu­fig Fuz­zy­lo­gik ver­wen­det, da die­se seman­ti­sche und vor allem unschar­fe Aus­sa­gen ver­ar­bei­ten kann (Abb. 5).

Erst­ma­lig sind sol­che auf Fuz­zy­lo­gik basie­ren­den Exper­ten­sys­te­me zur Unter­stüt­zung der Inter­pre­ta­ti­on der mus­ku­lä­ren Koor­di­na­ti­on der Unter­schen­kel­mus­ku­la­tur wäh­rend des Gangs ein­ge­setzt wor­den 1516. Die unver­ar­bei­te­ten sEMG-Signa­le von M. tibia­lis ante­rior, M. soleus und M. gas­ tro­c­ne­mi­us wur­den mit dem Wis­sen über die phy­sio­lo­gi­sche Akti­vie­rung wäh­rend des Gangs bei selbst gewähl­ter Gang­ge­schwin­dig­keit so ver­knüpft, dass eine Aus­sa­ge über die Effek­ti­vi­tät der Sprung­ge­lenks­be­we­gung mög­lich wur­de (s. Abb. 5). Bei einem phy­sio­lo­gi­schen mus­ku­lä­ren Koor­di­na­ti­ons­mus­ter ist die Effek­ti­vi­tät der Sprung­ge­lenks­be­we­gung zu jedem Zeit­punkt im Gang­zy­klus hoch. Bei einer spas­ti­schen Ver­än­de­rung der mus­ku­lä­ren Koor­di­na­ti­on bei­spiels­wei­se wird die Bewe­gung des Sprung­ge­len­kes ins­be­son­de­re zu Beginn der Stand­pha­se inef­fek­tiv und erholt sich über die Stand­pha­se nur lang­sam. Die von dem Fuz­zy-Exper­ten­sys­tem auf der Basis des mus­ku­lä­ren Koor­di­na­ti­ons­mus­ters der Unter­schen­kel­mus­ku­la­tur vor­her­ge­sag­te Effek­ti­vi­tät der Sprung­ge­lenks­be­we­gung stimmt zu 80 % mit der kli­ni­schen Beur­tei­lung der Geh­fä­hig­keit bei Kin­dern mit Infan­ti­ler Zere­bral­pa­re­se über­ein 16. Beson­ders her­vor­zu­he­ben ist aber, dass es durch das Exper­ten­sys­tem gelun­gen ist, von den mus­ku­lä­ren Koor­di­na­ti­ons­mus­tern und deren patho­lo­gi­schen Ver­än­de­run­gen auf die resul­tie­ren­de Bewe­gungs­aus­füh­rung zu schließen.

Schluss­fol­ge­run­gen

Mus­ku­lä­re Koor­di­na­ti­on und Bewe­gungs­aus­füh­rung sind eng auf­ein­an­der abge­stimmt. Dies betrifft nicht nur phy­sio­lo­gi­sche Situa­tio­nen, son­dern ins­be­son­de­re auch Patho­lo­gien. Die kor­rek­te Inter­pre­ta­ti­on einer Bewe­gungs­aus­füh­rung bedarf daher immer der Infor­ma­ti­on über die zugrun­de­lie­gen­de mus­ku­lä­re Akti­vie­rung. Ande­rer­seits bedarf die kor­rek­te Ana­ly­se der mus­ku­lä­ren Akti­vie­rung immer der Infor­ma­ti­on über die Bewe­gungs­aus­füh­rung. Ober­flä­chen-EMG (sEMG) und 3D-Bewe­gungs­ana­ly­se sind geeig­ne­te Ver­fah­ren, um quan­ti­ta­ti­ve Infor­ma­tio­nen über die Bewe­gungs­aus­füh­rung zeit­lich syn­chron zur mus­ku­lä­ren Akti­vie­rung zu erlan­gen. Damit sind die tech­ni­schen Vor­aus­set­zun­gen gege­ben, die mensch­li­che Bewe­gung umfas­send zu ana­ly­sie­ren. Wegen der hohen Daten­men­gen und auf­grund der Viel­zahl an unter­schied­li­chen Varia­blen ist die Inter­pre­ta­ti­on der Ergeb­nis­se aber oft schwie­rig und führt häu­fig zu fal­schen Aus­sa­gen. In dyna­mi­schen Situa­tio­nen ist es daher unbe­dingt erfor­der­lich, ver­gleich­ba­re Rand­be­din­gun­gen zu schaf­fen. Will man nicht die Bewe­gung ein­schrän­ken, hilft hier der Ansatz der Kate­go­ri­sie­rung der sEMG-Signa­le. Dar­über hin­aus kön­nen Exper­ten­sys­te­me die Inter­pre­ta­ti­on unter­stüt­zen, indem sie das Wis­sen über die phy­sio­lo­gi­sche Bewe­gungs­aus­füh­rung und das zugrun­de­lie­gen­de mus­ku­lä­re Koor­di­na­ti­ons­mus­ter ver­knüp­fen und in ein­fach inter­pre­tier­ba­re Grö­ßen überführen.

Die Autorin:
Univ.-Prof. Dr. rer. nat. Cathe­ri­ne Disselhorst-Klug
Lehr- und For­schungs­ge­biet Reha­bi­li­ta­ti­ons- & Präventionstechnik,
RWTH Aachen University
Pau­wels­stra­ße 20
52074 Aachen
disselhorst-klug@ame.rwth-aachen.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Dis­sel­horst-Klug C. Die Rol­le der sEMG-Mes­sung in der Bewe­gungs­ana­ly­se. Ortho­pä­die Tech­nik. 2017; 68 (12): 30–34.

 

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