Einleitung
Um eine adäquate Versorgung des Rumpfes durchführen zu können, benötigt der versorgende Techniker umfassende Kenntnisse in den Bereichen Anatomie, Pathologie, Biomechanik, Materialkunde und selbstverständlich im Korsettbau selbst – das Verständnis des Wesens der neurogenen Skoliose legt den Grundstein für eine funktionierende Versorgung. Eingebettet in ein soziales Gefüge stellt nicht nur der Patient Anforderungen an eine mögliche Behandlung, sondern auch die ihn umgebenden Personengruppen wie zum Beispiel die Familie, die jeweiligen Einrichtungen und die Therapeuten. So können zum Beispiel aus der Sicht der Pathologie Skelettveränderungen im Bereich der Hüftgelenke Einfluss auf die gesamte Rückenstatik und die Ausprägung der Krümmung 1 nehmen. Beispielhaft für diese Patientengruppen sei das Krankheitsbild der Infantilen Zerebralparese (ICP) genannt. Die in Kooperation der Vereinigung für Kinderorthopädie und des Netzwerks Cerebralparese e. V. veröffentlichte sogenannte Wirbelsäulenampel 2 veranschaulicht hierbei, in welcher Abhängigkeit der Schweregrad der ICP zum Skoliose-Risiko steht. So weisen Patienten mit einem GMFCS 3 (das Kürzel steht für „Gross Motor Function Classification System“) ein erhöhtes Skoliose-Risiko auf, Betroffene mit einem GMFCS 4 und 5 ein Skoliose-Risiko von über 50 Prozent. Als weitere Risikofaktoren seien sogenannte Early-Onset-Skoliosen und präpubertär entwickelte Skoliosen bei spastischen bilateralen ICP-Patienten genannt. Ab dem 3. Lebensjahr kann die Wirbelsäulenampel zum Einsatz kommen, um frühzeitig Auffälligkeiten zu diagnostizieren und dann rechtzeitig zu intervenieren. Dieses Beispiel zeigt, dass für eine adäquate Versorgung ein „Gesamtblick“ auf den Patienten erforderlich ist. Diese grundsätzliche Anforderung gilt auch für den Techniker.
Funktionell betrachtet hat die Skoliose neben dem Einfluss auf die Statik auch Auswirkungen auf die Atmung: Bei hochgradigen Krümmungen wird das Lungenvolumen reduziert, und ein erhöhtes Infektrisiko entsteht; eine Häufung von Lungenentzündungen ist zu beobachten. Die veränderte Körperhaltung kann zudem auch die Nahrungsaufnahme erschweren, und die Wahrnehmung der Umwelt kann herabgesetzt sein. Ein unstetes Umherwandern der Pupillen zeigt, dass es dem Betroffenen nur schwer möglich ist, das Gegenüber zu fixieren. So sind neben biomechanischen Aspekten auch neurologische und nicht zuletzt psychosoziale Komponenten zu bedenken. Schließlich geht es je nach Schweregrad auch um Schmerzprophylaxe und im schlimmsten Fall um Schmerzreduktion. Diese Art der palliativen Versorgung sollte jedoch bereits im Vorfeld vermieden werden. Dies ist möglich durch eine enge Anbindung der Patienten an entsprechend geschulte Institutionen, wie sie zum Beispiel in Sozialpädiatrischen Zentren, Kinderorthopädischen Schwerpunktpraxen oder Krankenhäusern zu finden sind. Eine Versorgung in diesen Ausprägungsgraden stellt daher nochmals besondere Anforderungen, verglichen mit Patienten, die wenigstens noch eine Sitzfähigkeit aufweisen.
Ursachen neuromuskulärer Skoliosen
Die Ursachen für eine neuromuskuläre Erkrankung sind vielfältig. So kann eine Störung im Muskel selbst, eine Schädigung der Nerven oder auch eine Schädigung im Gehirn und/oder am Rückenmark vorliegen. Zur Gruppe der neuromuskulären Grunderkrankungen gehören unter anderem die bereits genannte Infantile Zerebralparese (ICP), Muskelatrophie/-dystrophie, MMC/Spina bifida, diverse Syndrome wie zum Beispiel das Rett-Syndrom, aber auch traumatische Querschnitte. Wirbelsäulenverkrümmungen, die in der Folge auftreten, werden als „neuromuskuläre“ oder „neurogene“ Skoliosen bezeichnet. Die neurogene Skoliose unterscheidet sich von der idiopathischen Skoliose durch ihre Entstehung, ihre Ausprägung und ihr Erscheinungsbild. Aber auch die Rahmenbedingungen, die die Patienten mitbringen, sind ein wichtiger Faktor: Neben einer hypotonen Situation bei einem Patienten mit einer spinalen Muskelatrophie (SMA), die massive Anforderungen an ein aufrichtendes Moment des Korsetts stellt, sind es bei der ICP nicht zuletzt die Probleme einer bestehenden Spastik, die deutlichen Einfluss auf das Versorgungskonzept und dessen Umsetzung nehmen. Weitere dynamische und strukturelle Deformitäten können begleitend hinzukommen und die Versorgung entscheidend beeinflussen.
An diese Gegebenheiten muss das entsprechende Konzept angepasst werden. Somit unterscheiden sich die gewählten Versorgungs- und Hilfsmittelkonzepte im Bereich der neurogenen Skoliose zum Teil erheblich vom therapeutischen Vorgehen bei einer idiopathischen Skoliose, die typischerweise neurologisch gesunde Patienten betrifft und keine zusätzlichen Einschränkungen im physischen oder gar kognitiven Sinne mit sich bringt. So stellt die neurogene Skoliose keine eigenständige Erkrankung dar, sondern ist vielmehr die Folge einer neuromuskulären Grunderkrankung. Neurogene Skoliosen zeigen eine ausgeprägte Progressionstendenz, die schon im frühen Lebensalter einsetzen kann 3. Je früher eine neuromuskuläre Störung Einfluss auf die Rumpfentwicklung nimmt, desto höher ist das Skoliose-Risiko im weiteren Verlauf 4. Durch die Erkrankung des Nerven- und Muskelsystems, die auch nach Wachstumsabschluss bestehen bleibt, kann mit einem Progredienzstopp auch nach Beendigung des Wachstums nicht gerechnet werden. Dies hat unmittelbaren Einfluss auf den Versorgungsverlauf, aber auch auf die Versorgungsplanung, da die Perspektive stets den progredienten Verlauf zu berücksichtigen hat. Der veränderte Muskeltonus lässt sich seitens der Patienten kaum willkürlich beeinflussen und somit auch nicht aktiv im Sinne einer Korrekturwirkung beüben. Verschiedentlich bestehende kognitive Einschränkungen erschweren zusätzlich die therapeutischen Interventionen und wirken sich negativ auf die Compliance aus.
Als Folge der motorischen Störungen, die teilweise die gesamte Körpermuskulatur betreffen, kann es wie eingangs beschrieben zu weiterführenden strukturellen Skelettveränderungen kommen. Eine enge Abwägung zwischen konservativen, aber auch operativen Maßnahmen ist somit unerlässlich und bedingt eine enge Kooperation zwischen operativen und konservativen Akteuren des Versorgungsteams. Aufgrund muskulärer Kraft- und Steuerungsdefizite bei den Patienten ist keine aktive Korrektur möglich. Neben der neurogenen Skoliose als Folge der neuromuskulären Grunderkrankung kann diese Patientengruppe auch unter anderen Folgeerscheinungen wie Hüftluxation, Reflux, ausgeprägter Spastik, Kontrakturen, erhöhter Dekubitusgefahr, verkürzten Muskelsträngen und der Notwendigkeit einer künstlichen Nahrungszufuhr leiden. Das klinische Erscheinungsbild weist daher deutliche Unterschiede zur idiopathischen Skoliose auf und bedingt damit auch deutliche Anpassungen in der Korsetttherapie.
Klinisches Erscheinungsbild
Im Rahmen der klinischen Untersuchung fallen typischerweise zunächst die verringerte Rumpfstabilität und Kopfkontrolle auf. Begleitend sieht man häufig einen Beckenschiefstand im Sitzen mit einem korrespondierenden Rumpfüberhang zur Seite der kranialisierten Beckenhälfte (Abb. 1). Eine veränderte Rumpf- und Körperstatik lässt sich ebenso bei einer Hyperlordose oder einer kyphosierten Haltung beobachten. In der Konsequenz ist die Sitzstabilität massiv beeinflusst, und die Patienten drohen selbige bei entsprechender Ausprägung der Fehlstellung sogar gänzlich zu verlieren. Weitere Hinweise wie zum Beispiel das Einsetzen der Arme zum Abstützen, das Ablegen des Kinns auf der Brust oder das Wegkippen des Kopfes nach hinten treten ebenfalls häufig begleitend auf. Als weiteres Charakteristikum zeigt sich in der Bildgebung eine Skoliose in zumeist C‑förmiger Ausprägung mit einer Rotationskomponente, die nicht auf ein kurzes Segment beschränkt ist, sondern über die ganze Wirbelsäule hinweg verläuft 5.
Erfordernisse der Versorgung
Abgeleitet aus den obigen Erläuterungen müssen folgende Fragen bei der Versorgung des Rumpfes beantwortet werden:
- Welche Grunderkrankung liegt vor?
- Welche Begleit- oder Folgeerscheinungen liegen neben der Skoliose vor?
- Wie ist das klinische und radiologische Erscheinungsbild?
- Welche Aufgabe und Funktion soll das Hilfsmittel erfüllen?
- Sind schon andere Hilfsmittel vorhanden oder geplant?
- Wie ist das Patientenumfeld gestaltet?
- Wie steht es um die kognitiven Fähigkeiten des Patienten?
Nach einer ausführlichen klinischen Untersuchung und der Anamnese durch den Arzt sollte gemeinsam im interdisziplinären Team ein Versorgungskonzept festgelegt werden. So sollte unter anderem von orthopädietechnischer Seite geklärt werden, welche Hilfsmittel bereits vorhanden sind und inwieweit das Korsett in das bestehende Konzept integriert werden kann – z. B. bei einem Rollstuhl mit Sitzschale, einer Stehorthese oder einem Stehständer, einem Therapiestuhl etc.
Des Weiteren muss gefragt werden, welche Anpassungen im Versorgungskonzept vorgenommen werden müssen und inwiefern sich die Komponenten gegenseitig beeinflussen. Von familiärer Seite sollte geklärt werden, wie es um die räumliche Situation im häuslichen Umfeld oder in den regelmäßig eingebundenen Einrichtungen bestellt ist, ob das An- und Ausziehen des Korsetts dort umgesetzt werden kann oder ob dort andere limitierende Gegebenheiten bestehen. Die behandelnden Therapeuten können die persönlichen Grenzen der Betroffenen häufig besser einschätzen und sollten daher eingebunden werden, wenn es um die Frage nach dem Entwicklungspotenzial des Patienten und möglichen Einschränkungen geht. Nicht zuletzt sollte auch die klinische Perspektive beachtet werden: Wie wird sich der Patient weiterentwickeln? Dabei muss ursächlich die Grunderkrankung im Vordergrund stehen. Das zu definierende Therapiekonzept steht in engem Zusammenhang mit den gewünschten Versorgungszielen und den beteiligten Personengruppen, die jeweils die sie betreffenden Aspekte einbringen.
Einer der wichtigsten Aspekte in der Korsettversorgung ist der Erhalt der Aktivitäten, um den Patienten im Alltag auch zukünftig so wenig wie möglich einzuschränken – es handelt sich angesichts des Problems der nicht endenden Progredienz um eine langfristig angelegte Versorgungssituation. Unter Berücksichtigung der vorhandenen Deformitäten und Fehlstellungen müssen die Versorgungsziele daher umso besser spezifiziert werden. Es empfiehlt sich zudem, sie in eine hierarchische Reihenfolge zu bringen, die im weiteren Verlauf angemessen berücksichtigt werden muss. Tatsächlich können Korrektur und Handling in hohem Maße konkurrierende Größen sein, die entsprechend den jeweiligen Möglichkeiten und der individuellen Situation in der Korsettplanung zu priorisieren sind. Neben der Verbesserung der Fehlstellung können so auch Sitzfähigkeit, Schmerzreduktion und Reduktion der Spastik zu einem übergeordneten Ziel werden.
Eine Stabilisierung durch das Korsett im Bereich des Rumpfes ermöglicht eine Vertikalisierung, erhöht die Sitzstabilität und verbessert die Handfunktion, wenn die Hände aufgrund der vorgenannten Aspekte nicht mehr zur Abstützung benötigt werden. Neben der Verbesserung der Handfunktion kommt es dadurch auch zu einer deutlich besseren Kopfkontrolle. Die Patienten erreichen somit eine Aufrichtung der Halswirbelsäule und können ihr Blickfeld auf diese Weise deutlich besser im Raum ausrichten – sicher ein Aspekt, der im Sinne der Teilhabe äußerst erstrebenswert ist. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass althergebrachte sogenannte Bauchpressen, wie sie zum Beispiel beim Boston Brace zum Einsatz kommen, heute keinen Platz in der Skoliosebehandlung mehr haben.
Es erfordert ein adäquates biomechanisches Grundwissen, um mit der Versorgung eine entsprechende Verbesserung zu erreichen. Wechselwirkungen zwischen der Krafteinwirkung der Orthese und der patientenseitigen Reaktion kommen hinzu. Neben der Einflussnahme auf die Statik kann mit einer Versorgung auch die Propriozeption und der Tonus reguliert bzw. beeinflusst werden; auf diese Weise werden schwache Muskelgruppen gestärkt und auftretende Spastiken minimiert. Durch die Verbesserung der bereits genannten Aspekte kommt es zu einer Erhöhung der Lebensqualität und auch zu einer besseren Teilhabe. Zudem haben es Personen, die mit der Pflege des Patienten betraut sind, dadurch mitunter leichter bei der Körperhygiene, da zum Beispiel durch das Aufbiegen der Verkrümmung ein Impingement von Rippenbogen und Beckenkamm verhindert wird. Beim Aufeinandertreffen von Becken und Rippen entsteht eine Hautfalte; die dort entstehenden Entzündungen und Druckstellen sollte man vermeiden. Muss der Patient gewickelt werden, so kann sich ein Korsett dabei als hinderlich erweisen, daher sollte bei der Gestaltung des Korsetts darauf Rücksicht genommen werden. Ein Umlagern von der sitzenden in die liegende Position kann aber nicht gänzlich vermieden werden. Dies stellt besonders bei erwachsenen Patienten eine Hürde dar.
Somit ist dem Thema „Handling“ gerade im Bereich der neuromuskulären Erkrankungen ein besonderer Stellenwert einzuräumen, da häufig mehrere, nicht immer geschulte Personen in die Pflege eingebunden sein können. Die Rahmenbedingungen der verschiedenen Einrichtungen und deren personelle Situation müssen ebenfalls eine deutliche Beachtung finden. Schließlich ist festzuhalten, dass auch das Alter und das Gewicht der Patienten maßgeblichen Anteil am Handling haben und dass eine Idealvorstellung im Sinne einer Maximalkorrektur zugunsten der Umsetzbarkeit im Alltag schon aufgrund der vorgenannten Aspekte bisweilen in den Hintergrund rücken muss.
Bei der Versorgung der Wirbelsäule können verschiedene Funktionsprinzipien zum Einsatz kommen: Neben dem als klassisch bezeichneten Drei-Punkt-Korrekturprinzip zur Aufrichtung und Entlastung der Krümmung der Wirbelsäule in allen drei Ebenen (Extension, Derotation und Flexion) können auch lordosierende und entlordosierende Elemente in die Versorgung eingearbeitet werden. Im Bereich der Brustwirbelsäule muss gegebenenfalls ein reklinierender oder kyphosierender Aspekt berücksichtigt werden. Dabei kommt es auf die jeweilige Ausprägung und das individuelle Erscheinungsbild an.
Eine Besonderheit stellen die meist sehr großen Cobb-Winkel bei neurogenen Skoliosen dar. In einer Studie von White und Panjabi 6 wurden die axialen und transversalen Korrekturkräfte in Abhängigkeit zum Krümmungswinkel gebracht. Dabei zeigte sich: Je größer der Cobb-Winkel, desto effektiver wirken die extendierenden Korrekturkräfte – also eine Traktion. In der Skoliosekorrekturorthese bei neurogenen Skoliosen findet sich dieser Aspekt in einer ausgeformten Taillierung wieder, die als Basis dient. Durch eine flächige Umfassung des Abdomens kommt es je nach Ausprägung zu einer mehr oder weniger starken intraabdominalen Druckerhöhung, die jedoch in Abhängigkeit von den oben genannten Rahmenbedingungen nicht beliebig hoch sein kann. Während des Einatmens entfaltet sich dadurch eine extendierende Wirkung auf den Körper. Es kommt zu einer nach kranial gerichteten Ausgleichsbewegung. Bei einem Patienten mit einer stark ausgeprägten spinalen Muskelatrophie kann dieser Effekt mitunter nicht genutzt werden – die vorhandene Restmuskulatur reicht nur für eine funktionierende Atmung aus; ein zusätzlich aufgebrachter Druck kann nicht bewerkstelligt werden. Hier kann ein an einem Kunststoffrückenteil angebrachtes Stoffelement Abhilfe schaffen, indem es den Druck auf den Abdominalbereich minimiert. Dies stellt eine Sonderform im Korsettbau dar und wird unten im entsprechenden Abschnitt näher beleuchtet.
Versorgungskonzepte
Skoliosekorrekturorthesen
Das Korsett stellt bei der Skoliosekorrektur das Mittel der Wahl dar (Abb. 2a–d, 3 u. 4). Will man eine Skoliose begradigen oder je nach Fall den Ausgangsbefund halten, muss körpernah gearbeitet werden. Um ein solches Korsett herstellen zu können, müssen verschiedene Arbeitsschritte durchlaufen werden. Nach der Festlegung auf ein Versorgungskonzept – hier das Korsett – führt der betreuende Orthopädie-Techniker nochmals eine klinische Untersuchung durch. Besonders wichtig ist hierbei die Überprüfung der Flexibilität und Korrigierbarkeit der Wirbelsäule, aber auch die Reaktion des Patienten – so können Korrekturkräfte bei Patienten mit einer ICP auch eine Spastik triggern, also verstärken oder das Einschießen sogar erst hervorrufen. In solchen Fällen müssen der „Abgriff“ und die Kraftangriffspunkte im Korsett überdacht werden: In welchem Ausmaß ist eine Korrektur durchführbar? Wo bestehen dynamische bzw. strukturell fixierte Deformitäten und Kontrakturen, muskuläre Verkürzungen und die bereits erwähnten ausgeprägten Spastiken?
Zur Korsettherstellung wird ein Modell benötigt. Dieses wird entsprechend der Korrigierbarkeit und der knöchernen Prominenzen bearbeitet. Das hergestellte Korsett sollte durch eine akzentuierte Taillierung zur Beckenführung und Kontrolle gekennzeichnet sein, um somit einen eventuell bestehenden Beckenschiefstand bzw. eine Vor- oder Rücklage zu korrigieren. Der Korrekturdruck sollte flächig auf den Körper einwirken, da Druckspitzen, wie bereits angeführt, Spastiken triggern können und so möglicherweise zu einer Korsettverweigerung führen. Bei hypotonen Patienten besteht zudem eine hohe Gefahr der Druckstellenbildung, da diese förmlich im Korsett „hängen“ können, wenn die neurologische Beeinträchtigung eine aktive Beteiligung des Patienten an der Aufrichtung im Korsett unmöglich macht.
Die Korrekturpunkte sind entsprechend dem Drei-Punkt-Prinzip auf den Körper aufzubringen. Hierbei sind alle drei Ebenen zu berücksichtigen, da die Skoliose eine dreidimensionale Fehlbildung darstellt. Die Materialwahl richtet sich nach dem Körperbau des Patienten. So kann bei dünnen Patienten mit sehr knöchernem Körperbau auch ein vollflächiges geschlossenzelliges Polster eingearbeitet werden und bei kleinen Personen ein flexibler und weicher thermoplastischer Kunststoff zum Einsatz kommen (Abb. 3). Je nach Weichteilzustand und notwendigem Korrekturdruck sind zudem unterschiedliche Formen einer Rahmenkonstruktion denkbar, die den Druckzonen eine zusätzliche Stabilität und Steifigkeit geben (Abb. 4). In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass eine kombinierte Rahmenkonstruktion kein Rahmenstützkorsett bedingt; es bleibt auch hier eine Skoliosekorrekturorthese.
Mieder
Ein Mieder stellt eine Textilkonstruktion aus einem Baumwolldrellgewebe dar (Abb. 5a u. b), in das partiell elastische dynamische Stoffe eingearbeitet werden können. Sie reicht in der Regel vom Becken bis zum 8. Brustwirbel. Je mehr starre Konstruktionsmerkmale eingearbeitet werden, desto stärker kommt es zu einer Bewegungseinschränkung und einer Stabilisierung des Patienten. Die starren Elemente können von zwei dorsal aufgebrachten Verstärkungsstäben unterschiedlichen Härtegrades bis hin zu einem aufgesetzten Rahmen aus Metall oder Kunststoff reichen 7. Gearbeitet wird wahlweise nach Schnittmuster oder – im Falle einer stark asymmetrischen Morphologie – auch nach Modell; dabei werden die einzelnen Elemente zu einem den Körper umfassenden Hilfsmittel zusammengefügt. Ohne ausgeprägte Taillierung und Beckenumgreifung ist mit diesem Produkt keine klassische Skoliosekorrektur durchführbar – vielmehr können Patienten mit hypotoner Rumpfmuskulatur bzw. einer muskulären Insuffizienz und damit einhergehenden muskulären Dysbalancen dadurch stabilisiert, unterstützt und fixiert werden. Sonderformen bei ausgesprochen starken Deformitäten sind sogenannte Plastazote-Mieder (Abb. 7a–c). Diese ebenfalls vornehmlich bettenden Formen erhalten innen einen Formausgleich aus Plastazote, um die meist sehr gering weichteilgedeckten Strukturen möglichst weich zu betten und von außen teilflexibel in Miederform zu stabilisieren. Die Indikation besteht vornehmlich in Fällen neurogener Skoliosen mit sehr ausgeprägtem fixiertem Cobb-Winkel und einer deutlich erhöhten Druckstellengefahr, die mit einem der oben genannten Korsetttypen nicht zu stabilisieren ist.
Softorthesen
Im Gegensatz zu den klassischen korrigierenden und bettenden Versorgungen setzt die Softorthetik auf einen anderen Therapieansatz: Die sensorische Integration sortiert, ordnet und vereinheitlicht alle sinnlichen Eindrücke und verhilft somit dem Menschen im Idealfall zu einer vollständigen und umfassenden Hirnfunktion 8. Kommt es zu krankheitsbedingten kortikalen Störungen, kann sich dies auch auf die Wahrnehmung auswirken, und der Patient nimmt seinen eigenen Körper schlechter bzw. nur noch reduziert wahr. Durch die Verbesserung der Propriozeption soll die motorische Entwicklung angeregt und unterstützt werden. Dies wird durch eine körperumgreifende Orthese wahlweise aus Neopren und/oder Lycra erreicht (Abb. 6a u. b). Durch eine zirkuläre, aber im Vergleich zu Korsetten milde Kompression werden die für die Tiefensensibilität zuständigen Rezeptoren angesprochen und die Eigenwahrnehmung offenkundig verbessert. Neben dem Basismaterial lassen sich durch gezielt aufgebrachte Zügel zusätzliche aktive Reize, aber auch mechanische Effekte setzen. Auch wenn der therapeutische Ansatz bei dieser Versorgungstechnik im Mittelpunkt steht, kann ihr eine biomechanische Stabilisierung nicht abgesprochen werden.
Überraschend hierbei ist jedoch, dass diese Art der Versorgung auch ohne feste Anteile eine aktive Aufrichtung bei diesen Patienten erreicht. Zudem ist anzuführen, dass es sich dabei nicht um Korrektur- oder Bettungsorthesen im klassischen Sinne handelt. Die Wirkprinzipien erscheinen in Ermangelung semirigider Anteile gänzlich anders als in der konventionellen Orthetik. Diese Art von Versorgungen sorgt beim Patienten für eine hohe Akzeptanz, die bei den klassischen Herangehensweisen problematischer sein kann. Das weiche Material hat ein geringes Eigengewicht und kann sehr unauffällig unter der Straßenbekleidung getragen werden. Ebenso ist das Handling leicht und unkompliziert. Durch das weiche Material und die fehlende Beckenführung kann ein solches Produkt jedoch nicht zur Korrektur des Rückens eingesetzt werden; auch starke Fehlstellungen können damit nicht behoben werden. Somit handelt es sich hierbei definitionsgemäß auch um keine Skoliosekorrekturorthese. Trotzdem unterstützt sie die Aktivität des Patienten und fördert seine Entwicklung im therapeutischen Sinne.
Sonderformen
Eine Kombination aus den oben vorgestellten Konzepten stellt in der Regel eine Sonderform dar. Bedingt durch körperliche Gegebenheiten, Einschränkungen im Handling und Akzeptanzproblemen müssen dabei Kompromisse gefunden werden. Häufig geht dies zu Lasten der maximal möglichen Korrektur. Hervorgerufen wird dieser Korrekturverlust durch die Unterbrechung des zirkulären Formschlusses, den Verlust der zirkulären Beckenführung oder die Verwendung weicherer Materialien wie Stoff beziehungsweise eines Kunststoffes mit hoher Flexibilität (Abb. 7a–c). Gebräuchliche Sonderformen hierbei sind Korsette in Zweischalenbauweise, die aus einer ventralen und einer dorsalen Kunststoffschale bestehen und damit ein deutlich vereinfachtes Handling ermöglichen, oder Kunststoffrückenschalen mit einem Leibteil aus Drell (Abb. 8a u. b).
Schlussfolgerungen
Die Qualität eines Hilfsmittels muss unmittelbar im Anschluss an die Versorgung hinsichtlich der Umsetzung der vor Beginn der Versorgung definierten Ziele überprüft werden. Daher ist es wichtig, die Ziele im Vorfeld klar zu formulieren, um später ein objektives Resümee ziehen zu können. Bei einer klinischen Untersuchung können die erreichten Aspekte Sitzstabilität, Handfunktion und Tonus beurteilt werden. Die Positionierung der Druckbereiche kann anhand von Rötungen auf der Haut überprüft und gegebenenfalls angepasst werden. Ebenso lässt sich die Korrektur durch Messen der Sitzhöhe und mittels Röntgen evaluieren. Im Alltag können eine Verlängerung der Sitzfähigkeit, eine Verbesserung der Aufmerksamkeitsspanne und eine Reduzierung von Infektionen der Atemwege und der Lunge beobachtet und dokumentiert werden. Bei lauffähigen Patienten sollte dem Erhalt der Gehfähigkeit ein besonderes Augenmerk gewidmet und eine Kombination mit anderen Hilfsmitteln ermöglicht werden.
Ein Großteil der genannten Aspekte lässt sich direkt nach der Versorgung beurteilen. Manches kann aber erst im weiteren Verlauf überprüft werden, sodass regelmäßige Kontrollen durchgeführt und das Versorgungskonzept in bestimmten Intervallen hinterfragt werden sollte. Um das jeweilige Konzept im Alltag adäquat realisieren zu können, sind neben den körperlichen Gegebenheiten auch die maßgeblichen Umweltfaktoren im Rahmen einer ausführlichen Sozialanamnese zu erheben. Dabei werden häufig zusätzliche einflussnehmende Aspekte ermittelt, die komplexe Versorgungsansätze häufig nicht zulassen.
Werden alle genannten Punkte bei der Gestaltung der Rumpfversorgung berücksichtigt, ermöglicht man dem Patienten eine bessere Teilnahme am sozialen Leben, wirkt der Progredienz entgegen und kann mitunter den Tonus reduzieren. Der Gewinn, den der Patient somit durch eine Versorgung erfährt, ist höher gegenüber den etwaigen Erschwernissen im Bereich des Handlings.
Für die Autoren:
Beate Flügel (OTM)
Universitätsklinikum Heidelberg
Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie
Abteilung Technische Orthopädie
Schlierbacher Landstraße 200a
69118 Heidelberg
beate.fluegel@med.uni-heidelberg.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Flügel B, Weichold C, Alimusaj M. Die konservative Therapie der neurogenen Skoliose aus Sicht der Technischen Orthopädie. Orthopädie Technik, 2018; 69 (2): 20–26
- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
- Anforderungen an additiv gefertigte medizinische Kopfschutzhelme — 4. Dezember 2024
- Koller H, Zenner J, Ferraris L, Leier O. Sagittale Balance und posttraumatische Fehlstellungen der Brust- und Lendenwirbelsäule. Orthopädie und Unfallchirurgie, 2009; 4 (5): 277–290
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