Einleitung
Die moderne Prothesenfußtechnik bezieht Hochleistungswerkstoffe, Mikroprozessoren und Aktoren ins Design ein. Diese haben die Leistungsfähigkeit von Prothesenfüßen stark verbessert, was sich vor allem beim Einsatz unter komplexen Bedingungen vorteilhaft zeigt 1. Qualitativ hochwertige Passteile sind jedoch weltweit – insbesondere in Entwicklungsländern – für viele Prothesennutzer gar nicht verfügbar; diese sind häufig mit ungeeigneten oder gar keiner Prothese versorgt 2. Dabei ist es wichtig, dass Prothesen neben der Erfüllung der Mobilitätsbedürfnisse auch die Teilnahme an den sonstigen Aktivitäten des täglichen Lebens ermöglichen 3. Als Antwort auf diese Nachfrage wurden weltweit große Anstrengungen unternommen, biomechanisch geeignete Füße speziell für schwieriges Gelände und die sehr unterschiedlichen kulturellen und physischen Bedingungen der Nutzer in Entwicklungsländern zu entwickeln. Jüngste biomechanische Studien haben gezeigt, dass passive Prothesenfüße das Potenzial haben, sich der Energieeffizienz des natürlichen Fußes anzunähern 45. Allerdings ist ein Vergleich der Energierückgabe eines Prothesenfußes mit einem natürlichen Fuß nicht ausreichend, weshalb Forscher vorgeschlagen haben, dass der Zeitpunkt der Energierückgabe ebenso wichtig sein könnte wie die reine Kraft 6789. Das Prothesenfuß-Konzept „Niagara“ wurde von Rob Gabourie, Gründer des kanadischen Unternehmens Niagara Prosthetics & Orthotics Corporation, als langlebiges Hochleistungsgerät entwickelt. Es handelt sich um einen erschwinglichen Prothesenfuß, der ursprünglich im Auftrag des Canadian Centre for Mine Action Technologies für die Bedürfnisse von Landminenopfern entworfen wurde. Der Prothesenfuß beruht auf einem passiven Energiemanagement, um den Zeitpunkt und das Ausmaß der mechanischen Reaktion des Systems zu steuern. Es handelt sich um einen einzigartigen Fuß, der individuell an das Gewicht und an die Mobilität seines Trägers angepasst werden kann und der für ein breites Anwenderspektrum geeignet ist. Der Artikel liefert eine kurze Zusammenfassung der Konstruktionsprinzipien und berichtet über einschlägige wissenschaftliche Studien sowie klinische Erfahrungen mit dem Niagara-Fuß.
Designübersicht
Die Grundkonstruktion des Niagara-Fußes besteht aus einem Kiel und einer Fußkosmetik, die als modulares System miteinander verbunden sind. Die Anschlussbaugruppe besteht aus einem Pyramidenadapter, einer Unterlegscheibe und einer Schraube sowie einem Druckbegrenzer. Der Kiel besteht aus dem Elastomer Hytrel® (DuPont, Inc., Wilmington, Delaware, USA) und ist ein einteiliges Spritzgussteil, das so modifiziert werden kann, dass es die spezifischen mechanischen Steifigkeitsanforderungen eines breiten Anwenderspektrums erfüllt. Der Niagara-Fußkiel, der in Abbildung 1 dargestellt ist, besteht aus fünf Hauptelementen: der oberen Platte, der C- Feder, den Hörnern, der Fersenfeder und der Vorfußblattfeder 10. Während des Gehens interagieren diese Elemente in einer Weise, dass das Hytrel®-Elastomer an verschiedenen Punkten des Belastungszyklus Energie speichert und wieder freisetzt. Zusammen werden diese Elemente als „CPEM“ (Controlled Passive EnergyManagement) bezeichnet, da sie gemeinsam den Zeitpunkt der Energiespeicherung steuern. Die CPEMKonstruktion kombiniert die Energierückgabe der beim Fersenauftritt eingeleiteten Kräfte, indem sich zuerst die Fersenfeder und zeitversetzt die C‑Feder entspannt. Diesen Transfereffekt von der frühen auf die späte mittlere Standphase beschreiben Anwender subjektiv als „rundes und harmonisches Abrollen“. Dagegen zielen andere typisch dynamische, energierückgebende Konstruktionen darauf ab, die eingeleitete Kraft punktuell bei Entlastung der Ferse wieder abzugeben.
Funktionsprinzipien
Die Wirkung des Niagara-Fußes und das Konzept des CPEM können im Hinblick auf den Gangzyklus wie in Abbildung 2 dargestellt beschrieben werden:
- Stufe 1: Wenn beim Fersenauftritt eine Kraft angewendet wird, verformt sich die Ferse nach oben. Der Fuß plantarflektiert relativ zur oberen Platte, und die C‑Feder öffnet sich.
- Stufe 2: In der frühen mittleren Standphase kehren Ferse und C- Feder in ihre Ausgangsposition zurück. Dies führt zu einem Rückstellmoment, das den Pylon aus einem hinteren Winkel in die Vertikale antreibt. Zu diesem Zeitpunkt schließt sich die CPEM-Lücke und unterstützt die mittlere Standphase, in der Ferse und Zehen zusammen belastet werden.
- Stufe 3: Mit fortschreitender Bewegung schließt sich die C‑Feder weiter über ihre neutrale Position hinaus, und beim Entlasten der Ferse werden die Zehen immer mehr belastet. Es kommt zu einem Gleitvorgang, bei dem die CPEM-Hörnchen nach hinten gleiten.
- Stufe 4: In der terminalen Standphase wird die C‑Feder in ihrer vorderen Position gehalten, bis die Verringerung der Bodenreaktionskraft ein Gleiten der Hörner nach vorn ermöglicht, wodurch die Zehen zu entlasten beginnen. Der CPEM-Spalt öffnet sich beim Entlasten der Zehen.
Optionen zur Modifikation
Es gibt drei Arten von Modifikationen, die am Niagara-Fuß vorgenommen werden können: Formänderung, Reduzierung und Teilung des Kiels. Ziel dieser Modifikationen ist es, die mechanischen Eigenschaften des Kiels so zu verändern, dass der Niagara- Fuß an die spezifischen Anforderungen des Anwenders und dessen Geländespektrum angepasst werden kann. Dazu im Einzelnen:
Formänderung
Die Fersen- und Zehenbereiche des Niagara-Fußes können für rechts oder links und an eine Reihe von Größen angepasst werden, indem er nach den individuellen Vorgaben des Anwenders abgeschliffen wird.
Reduktion
An der Ferse, an der C‑Feder und am Vorfuß können Modifikationen zur Reduzierung der Steifigkeit vorgenommen werden, um den Fuß an die Gewichts- und Aktivitätsanforderungen individuell anzupassen. Die originale Kielform umfasst drei Bereiche mit Materialschichten, die entfernt werden können (Abb. 3). Diese Modifikationen beinhalten die Entfernung dieses Materials, um die mechanischen Eigenschaften des Fußes zu verändern, was erhebliche Änderungen der Steifigkeit und der Energiespeicherung sowie Änderungen der maximalen Auslenkung bewirken kann 11. Die Rippen der Schichten dienen als Richtlinie, um die Modifikation zu kontrollieren. Diese erhöhten Rippen zeigen zwei Reduktionsstufen für die Ferse und die C‑Feder sowie fünf Reduktionsstufen für den Vorfuß an (Abb. 4a–c).
Geteilte Kiel-Modifikation
Sowohl die Ferse als auch der Vorfuß des Niagara-Fußkiels können geteilt werden, um die Sicherheit beim Gehen auf unebenem oder geneigtem Gelände zu verbessern. Diese Modifikation verbessert die Sicherheit und fördert einen besseren Bodenkontakt. Um die Ferse und/oder den Vorfuß zu spalten, wird ein Loch an einer bestimmten Stelle gebohrt. Zum Spalten werden eine Bandsäge und eine oszillierende Säge verwendet (Abb. 4d).
Fußkosmetik
Die angebotene Fußkosmetik wird von den Anwendern häufig aus kosmetischen Gründen oder für die Benutzung mit Schuhen bevorzugt. Jedoch ist eine Kosmetik für den Niagara-Fuß nicht zwingend erforderlich, denn im Allgemeinen wirken sich kosmetische Abdeckungen negativ auf die Effizienz von Prothesenfüßen aus, indem sie die Energierückgabe verringern. Low und Kollegen haben eine Studie durchgeführt, in der die Wirkung mehrerer im Handel erhältlicher Kosmetiken auf Steifigkeit und Energierückgabe des Niagara-Fußes untersucht wurde. Die Ergebnisse des Testprotokolls zeigten unterschiedliche Auswirkungen auf die Fersen- und Zehenverlagerung in Abhängigkeit von der getesteten Kosmetik. Alle Fußabdeckungen verursachten jedoch eine leichte Abnahme der prozentualen Energierückgabe an Ferse und Zehen 12.
Mechanische Charakterisierung
Der Prozess der mechanischen Charakterisierung wird zur Analyse der mechanischen Eigenschaften des Niagara-Fußes und zur Untersuchung der Auswirkungen von Modifikationen verwendet. Wie in Abbildung 5 dargestellt, ist die mechanische Charakterisierung ein standardisiertes Verfahren, bei dem der Prothesenfuß axial belastet wird und die mechanischen Eigenschaften anhand von Kraft-Weg-Kurven gemessen werden, die bei spezifischen Belastungen und Schaftwinkeln
aus ISO 22675 13gewonnen werden. Gemessen wird die vertikale Auslenkung des Fußes als Funktion des Schaftwinkels. Dies erzeugt eine Vorhersage der Verformung als Funktion der prozentualen Standzeit. Eine beispielhafte Kraft-Auslenkungs-Kurve und ein Verschiebungsprofil sind in Abbildung 6 dargestellt. Diese Auslenkungsprofile wurden verwendet, um die Auswirkung der Modifikation zu dokumentieren und um die Konstruktion mit anderen kommerziell erhältlichen Füßen zu vergleichen 1415. Klinische Erfahrungen Umfangreiche wissenschaftliche und klinische Studien haben die Grundlagen für die Verwendung des Niagara- Fußes in der Praxis gelegt, der seit über zehn Jahren weltweit zum Einsatz kommt, wie in Abbildung 7 dargestellt 1617. In der Praxis hat sich gezeigt, dass nach dem statischen Aufbau der Prothese eine dynamische Anprobe durch den Orthopädietechniker vorteilhaft ist, um den Niagara-Fuß optimal an die individuellen Bedürfnisse des Menschen mit Amputation anzupassen. Dabei erwies es sich als vorteilhaft, die stufenweise Materialabtragung mit dem Anwender an einer Rampe zu testen, da die größeren Belastungswinkel ein besseres Feedback ergeben. Mögliche Modifikationsbereiche am Prothesenfuß und deren Auswirkung auf die verschiedenen Momente der Standphase sind in Abbildung 8 vereinfacht beschrieben:
- Um die Belastungsreaktion beim Fersenauftritt weicher zu gestalten, können die Bereiche „A“ und „C“ des Fußes stufenweise abgeschliffen werden.
- Um den Vorfußwiderstand zu reduzieren, kann der Bereich „B“ stufenweise abgeschliffen werden.
Fazit
Der Niagara-Fuß bietet durch die Möglichkeit der patientenspezifischen Anpassung einen interessanten und innovativen Ansatz. Änderungen der Fersen- und der Vorfußfeder sowie der C‑Feder ermöglichen es dem Orthopädietechniker, spezifische Eigenschaften des Prothesenfußes dynamisch an den Gang des Nutzers anzupassen. Die Langlebigkeit (bei einer durchschnittlichen Nutzungszeit von 2 Jahren liegt die Schadensrate bei weniger als 1 %), Robustheit und Leistungsfähigkeit dieses Prothesenfußes machen ihn zu einer praktischen Option für ein weltweit breites Anwenderspektrum.
Danksagung
Die Autoren würdigen hiermit die Inspiration und die Unterstützung durch Rob Gabourie und das Unternehmen Niagara Prosthetics & Orthotics International für das ursprüngliche Niagara-Fußdesign. Darüber hinaus bedanken sich die Autoren für die fortgesetzte technische Unterstützung durch das Unternehmen DuPont.
Für die Autoren:
Heinz Trebbin, M. Sc., OTM
Geschäftsführer
DOI ortho-innovativ GmbH
Industriestr. 18c
87448 Waltenhofen
trebbin@ortho-innovativ.com
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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