Einleitung
Die Entwicklungsgeschichte des Rollstuhls geht im Grunde zurück bis auf die Erfindung des Rades. Von der frühgeschichtlichen Zeit an, nachdem das Rad die Kufe ersetzt hatte, wurden Nichtgehfähige rollend transportiert. Doch die Geschichte der modernen vielseitigen und leistungsfähigen Rollstühle, wie wir sie heute kennen, ist mit etwa 100 Jahren noch recht jung. Sie soll anhand der Geschichte der Firma Meyra nachgezeichnet werden, die dieses Jahr ihr 80-jähriges Bestehen feiert. Im Folgenden werden nach einer kurzen Würdigung des Unternehmensgründers besonders imposante Rollstuhlmodelle der zurückliegenden acht Jahrzehnte und ihre Besonderheiten vorgestellt. Die dazu verwendeten Abbildungen der alten Modelle sollen an Vergangenes erinnern und zumindest teilweise zum Schmunzeln anregen.
Ein Pionier der Rollstuhlentwicklung
Wilhelm Meyer wurde im September 1909 geboren. Die Kindheit, eine Zeit, die oft als „Goldene Jahre“ apostrophiert wird, war für ihn jedoch alles andere als „vergoldet“. In der Familie musste hart gearbeitet und gespart werden – das Dasein war mühsam. Später folgten die entbehrungsreichen Kriegs- und Nachkriegsjahre, die Wilhelm Meyers Jugend und sein Leben prägen sollten. Die Abbildung 1 zeigt den Firmengründer in späteren Jahren auf einem handgeknüpften Teppichbild. Der gerahmte, dicht geknüpfte Teppich war ein Gastgeschenk aus dem Iran aus der Zeit kurz vor der iranischen Revolution 1979.
Nach seiner Schlosserlehre in Vlotho wechselte der junge Mann zur damaligen Krankenfahrzeugfabrik „H. W. Voltmann, Krankenfahrzeuge, Bad Oeynhausen“. Hier erwarb er die ersten Kenntnisse über Behindertenfahrzeuge, die später Inhalt seines Lebenswerks wurden.
Im April 1936 erfolgte durch W. Meyer eine Gewerbeanmeldung und damit die Gründung der „Schlosserei und Krankenfahrzeug-Werkstätten“, Vlotho, Lange Str. 17a, aus denen dann später das Unternehmen Meyra hervorging. In einer Zeit, als die Folgen der Weltwirtschaftskrise noch deutlich zu spüren waren, gehörten zu einem solchen Schritt nicht nur Ideenreichtum und technisches Können, sondern auch eine beachtliche Portion Mut. In die Zeit der Firmengründung fällt auch seine Eheschließung, aus der ein Sohn (Wilhelm Meyer jun. †) hervorging. Durch einen Schicksalsschlag verlor Wilhelm Meyer seine erste Frau. Aus seiner zweiten Ehe wurden ihm zwei Töchter geschenkt: Elke Hartung, geborene Meyer †, und Barbara Meyer-Brakhage †.
Auf etwa 50 qm begann W. Meyer die Rollstuhlproduktion. Betrachtet man Fotos aus der damaligen Zeit, so vermitteln diese eindrucksvoll die bescheidenen Anfänge. In mühevoller Arbeit konstruierte und baute er seine ersten Rollstuhlmodelle selbst. Alle Arbeiten, ob Schweißen, Tischlern, Laufräder bespeichen, Polstern oder Lackieren, wurden eigenhändig ausgeführt. Was in den ersten Jahren an Arbeitseinsatz, Planung und unermüdlichem Streben nach Verbesserung und Erweiterung des Herstellungsprogramms und der Arbeitsvorgänge geleistet wurde, ist aus einer umfangreichen Bilddokumentation zu erkennen.
Bereits im Frühjahr 1938 wurden die Gründungsräumlichkeiten zu klein. Weitere Probleme kamen hinzu: Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges ergaben sich, wie für viele andere Unternehmen auch, Versorgungsengpässe mit Rohstoffen, zudem fehlten Arbeitskräfte. Ferner gab es eine steigende Anzahl von „Versehrten“ (damaliger Sprachgebrauch) und damit einen immer größeren Bedarf an Hilfsmitteln für behinderte Menschen, sodass eine Produktionssteigerung notwendig wurde. Daraufhin erwarb W. Meyer ein Grundstück in Vlotho. Er errichtete eine Produktionshalle und fertigte mit 20 Mitarbeitern seine Mobilitätshilfsmittel. Aus einer kleinen Werkstatt hatte sich allmählich eine Rollstuhlproduktionsstätte entwickelt. Dies war der Grundstein für die folgende Aufbauphase des Unternehmens. Die Meyra-Erzeugnisse wurden bald über den heimischen Raum hinaus bekannt, und die Nachfrage stieg ständig. Von dieser Boom-Phase zeugt die eindrucksvolle „Auffahrt“ von sogenannten Motorfahrzeugen für eine Lieferung nach Athen (Abb. 2). Einhundert Fahrzeuge sind seinerzeit von der damaligen griechischen Königin Friederike anlässlich einer Truppenparade an Kriegsverletzte übergeben worden.
Wilhelm Meyers Leistungen sind durch viele Urkunden und Auszeichnungen belegt, darunter auch das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Selbst im hohen Alter war er fast täglich in seiner Firma anzutreffen. Am 5. Oktober 2000 verstarb er nach einem erfüllten Leben.
Produkte aus acht Jahrzehnten
Zunächst verließen einfache Rollstühle wie Zimmer- und Schieberollstühle die kleine Werkstatt. Ein Beispiel eines solchen rollenden Stuhles ist in Abbildung 3 zu sehen, bremsbar war der Rollstuhl noch nicht.
Bald kamen größere Rollstühle hinzu. Die Werkstoffvielfalt hielt sich jedoch in Grenzen, es waren Stahl, Holz und Polstermaterial bzw. Korbgeflecht. Die großen Laufräder enthielten noch radial angeordnete massive Holzspeichen und erinnern an die eisenbereiften Räder von Pferdefuhrwerken. Interessant sind in dem Zusammenhang die feinen und verspielten Ziselierungen an Seitenteilen, am Fußkasten sowie an den Laufrädern. Abbildung 4 stellt eines der ersten komplexeren Modelle dar.
Die sogenannten Schiebewagen waren, teilweise zumindest, über Schrauben- oder Blattfedern gefedert und wurden drei- oder vierrädrig aufgebaut; typisches Merkmal waren die üppigen Fußkästen. Ein paar Gramm mehr Eigengewicht störten damals nicht. Modernere Laufräder erhielten schon damals Stahlspeichen, radial angeordnet, die aufgrund ihrer Dimension – im Gegensatz zu heutigen Drahtspeichen – auch Druckkräfte aufnehmen konnten. Ein solcher Rollstuhl ist in Abbildung 5 dargestellt; er ist gegenüber dem in Abbildung 4 gezeigten bereits gewichtsoptimiert. Hervorzuheben ist hier die als liebevoll geschwungenes Graugussteil gestaltete Schiebegriffbefestigung.
Selbstfahren durch Handhebelantrieb
Zu einem weiteren Produktschwerpunkt wurden bald die hebelangetriebenen Rollstühle, die sogenannten Handbetriebs-Selbstfahrer, die häufig mit Differenzial- und Schaltgetriebe ausgerüstet waren. Es handelte sich um genormte Rollstühle mit der Normbezeichnung DIN FANOK 28 1. Diese Fahrzeuge waren insbesondere bei Kriegsveteranen sehr begehrt, da mit ihnen nicht nur größere Entfernungen überwunden werden konnten, sondern auch kleinere Hindernisse, ähnlich wie mit einem Fahrrad. Neben den ausladenden Modellen, wie Abbildung 6 eines zeigt, gab es auch erste Versuche, kompaktere handhebelangetriebene Rollstühle zu entwickeln (Abb. 7).
Selbstangetriebene Rollstühle, die nicht mit Handhebeln betrieben wurden, gab es früher kaum. Die handhebelbetriebenen Modelle wurden erst in den 80er Jahren aus dem Produktionsprogramm genommen, und es gab noch lange danach Lieferanfragen. Diese Nachfragen bestehen selbst heute noch, denn die Bauart bietet einen erheblichen Vorteil: Wer diese Fahrzeuge bedienen kann, kann Arm- und Oberkörpermuskulatur trainieren und ist nicht zur körperlichen Inaktivität, ausschließlich zur Bedienung eines Joysticks am Elektrorollstuhl, verdammt. Dem Autor erschließt sich nicht, dass der Rollstuhlmarkt über nahezu keine hebelangetriebenen Rollstühle mehr verfügt, zumal nach dem aktuellen Stand der Technik hervorragende Lösungsmöglichkeiten bekannt sind.
Faltrollstühle, wie man sie heute kennt, bildeten erst relativ spät einen Produktschwerpunkt. Zunächst waren sie noch mit Flacheisenstreben (Scheren) ausgestattet (Abb. 8), die die beiden Seitenrahmen faltbar miteinander verbanden. Modelle dieser Bauart gab es damals auch häufig als Variante mit vorn angebrachten großen Rädern (Abb. 9). Aus vielen hisorischen Dokumenten geht hervor, dass diese Radanordnung bevorzugt wurde. Der Grund besteht darin, dass solche Rollstühle von der Begleitperson einfacher zu schieben und zu lenken sind.
Ein Abstecher in die Automobilproduktion
Wilhelm Meyers Pioniergeist fand seinen Niederschlag aber nicht nur in der Entwicklung von Rollstühlen. Er entwarf auch Kleinfahrzeuge, die selbst heute noch den ökonomischen und ökologischen Qualitätsanforderungen gerecht werden würden. Der Meyra 200–2, der im Jahre 1955 auf der Industriemesse in Hannover auf dem BASF-Messestand der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, war das erste Auto der Welt mit einer Vollkunststoffkarosserie aus glasfaserverstärktem Polyesterwerkstoff (Abb. 10). Heute ist das Modell ein beliebtes Sammlerstück mit musealem Wert.
Spezialanfertigungen für den Sport
Später besann sich Wilhelm Meyer wieder auf sein Kernthema, die Technologie für Behinderte. Produktionsschwerpunkte waren nun Elektrorollstühle mit automobilähnlichen Fahreigenschaften, treppensteigende Rollstühle, die auf einem Raupenfahrwerk aufbauten, und unverwüstliche Greifreifenrollstühle sowie Leichtgewichtsrollstühle. Auch für den Sport im Rollstuhl, damals hieß er noch Versehrtensport, wurden Spezialanfertigungen entwickelt. Die Abbildung 11 zeigt Meyra-Rollstühle bei den ersten „Weltspielen für Gelähmte“ in Rom im Jahre 1960.
Aus der intensiven Beschäftigung mit speziell für den Sport vorgesehenen Modellen konnten wichtige Entwicklungserkenntnisse abgeleitet werden. Ein Ergebnis war, dass ein Rollstuhl wie eine Prothese an den Körper des Nutzers angepasst sein muss, um die einzusetzende Muskelarbeit effektiv in Bewegungsenergie des Systems „Mensch/Rollstuhl“ umzusetzen. Der in diesem Zusammenhang entwickelte Sportrollstuhl „Olympia“ (Abb. 12) hatte noch sage und schreibe ein Gewicht von 29 Kilogramm. Dafür räumte das Unternehmen aber die – gemessen an der gesetzlichen Vorgabe – doppelte Zeit für die Gewährleistung ein. Man beachte bei diesem Modell den Richtungsfeststeller am linken Vorderrad und das über einen zusätzlichen Griff nach hinten schwenkbare linke Seitenteil. Ferner ist hier ein Kunststoff-Greifreifen zum Einsatz gekommen; die fehlende seitliche Stabilisierung des Drahtspeichenlaufrades durch einen Stahl-Greifreifen war wohl nicht bedacht.
Aus der obigen Erkenntnis heraus, dass besonders ein greifreifenangetriebener Rollstuhl körperangepasst sein muss, wurde die Zusammenarbeit mit vielen Zweiradhändlern beendet – Ähnlichkeiten in der Konstruktion, z. B. der Umstand, dass Fahrräder wie Greifreifenrollstühle einen Rohrrahmen und Drahtspeichen-Laufräder besitzen, hatten die Kooperation naheliegend gemacht. Zunehmend wurde den Rollstuhl-Verordnern und ‑Versorgern jedoch bewusst, dass medizinisch-orthopädisches Wissen für eine effiziente Rollstuhlversorgung unumgänglich ist. Letzteres garantierte fortan die Zusammenarbeit mit Orthopädie- und Sanitätsfachgeschäften, die sich bis in die heutige Zeit als äußerst sinnvoll erwiesen hat – besonders zur Vermeidung von Fehlversorgungen, zur Sicherstellung des persönlichen Wohlergehens Betroffener und zur Reduzierung von Kosten.
Bis zum Ende der 60er Jahre war das Großversandhaus Neckermann ein bedeutender Kunde. Aus dem Spezialkatalog „Hilfsmittel für Körperbehinderte und ältere Menschen“ (Abb. 13, Katalogdeckblatt) konnten zahlreiche derartige Produkte bestellt werden, darunter greifreifen- oder hebelangetriebene Rollstühle, Athrodesenstühle, Toilettenstühle (aus Stahl oder Holz) und Duschrollstühle in allen Varianten, Patientenlifter sowie alle Ausführungsformen von Gehhilfsmitteln. Gehgestelle (Gehböcke) wurden im Katalog sogar mit Zeichnungen der Fußstellung und der Bewegung des reziproken Gehgestells dargestellt. Vielleicht ist man verwundert, dass damals das Versandhaus keine Rollatoren im Angebot hatte, doch die gab es in Deutschland zu der Zeit noch nicht. Sie kamen erst in den 80er Jahren auf den Markt. Ferner sei bemerkt, dass in den 60er Jahren bereits erste Hilfsmittel für Contergan geschädigte Kinder im Neckermann-Katalog angeboten wurden.
Insgesamt hat die Erfahrung jedoch gezeigt, dass eine zweckmäßige Rollstuhl-/Hilfsmittelversorgung aus dem Versandhauskatalog doch nicht der richtige Weg sein konnte, um den zum Teil äußerst individuellen Bedürfnissen der Betroffenen gerecht zu werden. Somit wurde die Zusammenarbeit mit Neckermann Ende der 60er Jahre beendet.
Eines der ersten Modelle, das einen negativen Radsturz an den Hinterrädern ermöglichte, war der Sportrollstuhl mit der Bezeichnung As 84. Abbildung 14, die der Zeitschrift „Stern“ entnommen ist 2, zeigt dieses Modell im Einsatz beim Basketball.
Überwindung von Barrieren
Treppen sind seit eh und je schwer zu überwindende Barrieren für Rollstuhlfahrer. Meyra entwickelte einen der weltweit ersten treppensteigenden Rollstühle, der über ein Raupenfahrwerk verfügte und über den 1964 die BILD-Zeitung berichtete 3. Gezeigt wurde der Treppensteiger auf der Fachausstellung für Anstaltsbedarf in Hamburg. In dem Gefährt in Abbildung 15 sitzt eine Firmenmitarbeiterin.
Abbildung 16 gewährt Einblicke in den technischen Aufbau. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Bedienungsanleitung für diesen komplexen Rollstuhl, die einen Umfang von nicht einmal einer DIN-A4-Seite hat. Hier wird ein typischer Unterschied zwischen gestern und heute deutlich: Wird die damalige Bedienungsanleitung für ein so sensibles Gerät verglichen mit der heutiger Produkte, wird schnell klar, wie sehr – unter anderem durch die Produkthaftung – diese zum Schutz von Nutzern und Dritten von heutigen Ausführungen inhaltlich und umfänglich abweicht.
Getreu dem Motto „Mobilitätstechnologie für Behinderte“ wurden in späteren Unternehmensjahren Treppenschrägaufzüge entwickelt und gefertigt, die ab Ende der 80er Jahre nicht mehr hergestellt wurden, aber bei vielen heute noch im Einsatz sind. In Abbildung 17 demonstriert eine Mitarbeiterin die Funktion eines solchen Modells.
Die Motorisierung des Rollstuhls
Schon bald nach Kriegsende wurde der hohen Nachfrage nach motorangetriebenen Rollstühlen Rechnung getragen. Diese Fahrzeuge verfügten über Verbrennungsmotoren und hatten vom Rahmenaufbau viel Ähnlichkeit mit den dreirädrigen hebelangetriebenen Rollstühlen. Sie bestanden aus einer Rohrrahmenkonstruktion – man beschränkte sich auf das Notwendige –, Verkleidungen von Funktionselementen gab es nicht. Gewisse Ausführungen, besonders wenn sie einen Sozius hatten, wurden damit beworben, dass der 50 ccm Fichtel & Sachs-Motor über eine Turbo-Ventilator-Kühlung verfügte. Die Motorkühlung durch den Fahrtwind war nicht ausreichend, da die Fahrgeschwindigkeit maximal 30 km/h betrug; besonders bei Befahren von Steigungen – und dann noch besetzt mit zwei Personen – wirkte sich das aus. Abbildung 18 zeigt das Modell „Meyra 49“. Es hatte einen Kraftstoffverbrauch von immerhin 3,5 Liter pro 100 Kilometer, nicht gerade wenig für den kleinen Motor, besonders wenn bedacht wird, dass der Werbung früher wie heute an niedrigen Verbrauchswerten gelegen war.
Viele Modelle aus diesen dreirädrigen Baureihen verfügten zusätzlich über einen Handhebelantrieb zur Motorunterstützung, ferner konnte auch ohne Emissionen in begrenztem Umfang mit Muskelkraft gefahren werden (Abb. 19).
Vieles, was heute als Neuheit betrachtet wird, ist bereits einmal dagewesen. Dies gilt zum Beispiel für die Vorderradfederung am Greifreifenrollstuhl oder den Motorzusatzantrieb für Greifreifenrollstühle, damals über Reibrollenantrieb auf die großen Laufräder (Abb. 20).
Sogenannte Vorsatzräder für Greifreifenrollstühle sind ebenfalls keine Ergebnisse aktueller Entwicklungen. Sie wurden bereits in den 50er Jahren gebaut, wahlweise mit Handkurbel- oder Motorantrieb; heute findet man sie unter den Begriffen „Handbike oder Rollstuhlbike“.
Zukunftsweisende Elektromobilität
Der Name Meyra und Elektrorollstühle sind untrennbar miteinander verbunden. Das begann mit dem ersten vielgenutzten Nachkriegsmodell (Abb. 21a), dem im Produktkatalog eine amüsante Darstellung gewidmet ist (Abb. 21b).
Der Rollstuhl ist aufgebaut auf einem stabilen Rahmen, er ist mit manueller Lenkung und mit Blattfedern versehen sowie mit einem massiven Fußkasten ausgestattet. Als Option wurde ein Seilwindenantrieb angeboten für alle diejenigen, die nicht über genügend Handkraft verfügten, den Fußkasten über den Lederriemen direkt hochzuziehen. Wer also zur damaligen Zeit den üblichen Verbrennungsmotorantrieb ablehnte, wählte diesen Rollstuhl, der mit 4 × 6 Volt-Akkumulatoren ausgestattet war. Dieser Batteriesatz ermöglichte eine Reichweite von 80 Kilometern pro Batterieladung. Als unsere Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel, zu Beginn ihrer Amtszeit anlässlich der Eröffnung der Industriemesse in Hannover mahnte, der Wandel zur Elektromobilität müsse bald erfolgen, hat sie scheinbar nicht an die Fahrzeugtechnologie für Behinderte gedacht. Denn hier wurde dieser Wandel vom Verbrennungs‑ zum Elektromotor – zugegeben aus ganz anderen Gründen (Emissionen) – bereits vor 50 Jahren vollzogen. Wer weiß, wo wir im Elektroantrieb für Automobile heute stünden, hätte man damals diese Antriebstechnologie auch für Automobile übernommen und die Speicherung elektrischer Energie weiterentwickelt.
Ein späteres Nachfolgemodell des vorgenannten zuverlässigen Elektrorollstuhls zeigt Abbildung 22: ein äußerst robustes und langlebiges Fahrzeug mit je nach Batteriesatz einer Reichweite von 130 Kilometern pro Batterieladung (4 × 6 Volt, 180 Ah [5h]).
Dieser als sogenannter Straßenfahrer besonders beliebte Rollstuhl wurde bis in die 90er Jahre produziert. Er wurde liebevoll als „blaues Wunder“ bezeichnet, wohl auch weil er nur in der Grundfarbe königsblau lieferbar war. Der Rollstuhl in der Abbildung 23 ist der kompaktere Bruder des „blauen Wunders“ und wohl der Elektrorollstuhl, der weltweit in der größten Stückzahl gebaut wurde.
Er ist über mehrere Jahrzehnte nur mit leichten Veränderungen produziert worden. Er war im In- und Ausland äußerst beliebt, ebenfalls sehr robust, und seine elektrischen/elektronischen Elemente konnten auch vom Fachhandel repariert werden. Im Gegensatz dazu ist heute nur der Austausch von Platinen möglich. Ab Ende der 60er Jahre wurde er im Rahmen von Kompensationsgeschäften sogar in die DDR geliefert und galt auch dort als Maß aller „Elektrorollstuhl-Dinge“. Seine Robustheit ist unter anderem dem selbstgefertigten Stirnrad – Differenzialgetriebe (Planetengetriebe) als Leistungsverzweigungsgetriebe (technische Besonderheit) – zu verdanken.
Design und Ästhetik
1981, im internationalen Jahr der Behinderten, wurde anlässlich diverser staatlicher Forschungsausschreibungen das ästhetische Erscheinungsbild des Rollstuhls mehr in den Vordergrund gerückt. So zeigt Abbildung 24, wie mit Verkleidungen versucht wurde, einer Stigmatisierung, wie sie durch das Bild des klassischen Rollstuhls hervorgerufen werden kann, entgegenzuwirken. Die „schlanke“ (gewöhnungsbedürftige) Gestaltung trägt zudem dem Wunsch nach kompakten Abmessungen Rechnung.
Etwa zu dieser Zeit kam auch Farbe in den Rollstuhl, und es erfolgte der Abschied vom jahrelangen Rahmen in Chrom und einer Begurtung in blau.
Die Aufmerksamkeit für ästhetische Aspekte machte sich auch bei Kinderrollstühlen bemerkbar. Abbildung 25 illustriert einen Kinderrollstuhl, der noch wie ein kleiner Erwachsenenrollstuhl aussieht. Das änderte sich später, und Kinderrollstühle erhielten ein eigenständiges Design (Abb. 26).
Vielseitige Entwicklungen
Noch einmal zurück in die 60er Jahre und zu der Zusammenarbeit zwischen Meyra und der auch damals noch in den Kinderschuhen steckenden Automobilindustrie. So wurden „Versehrten-Zusatzgeräte“ für den BMW-Isetta gefertigt, um, so wörtlich, „Beschädigten“ die Möglichkeit zu bieten, das Fahrzeug verkehrssicher zu fahren. Abbildung 27 zeigt den zugehörigen Prospekt.
Wilhelm Meyer, der Unternehmensgründer, zeigte für alle Entwicklungen großes Interesse. So ließ er sich auch Produkttests – Abbildung 28 zeigt ihn mit einem elektrischen Aufrichtrollstuhl mit Reibrollenantrieb an der Vorderachse – nicht nehmen. Interessant sind an diesem Bild die Armstützen: rechts eine Unterarmgehstütze mit teilumfassender Armmanschette, links eine Achselgehstütze – eine eigenartige Konstellation.
Herausforderungen der Zukunft
Während der zurückliegenden 50 Jahre der Unternehmensgeschichte von Meyra wurden oberbegrifflich zwei Produktbereiche unterschieden: die rollende Mobilität (Rollstühle) sowie andere Hilfsmittel für Behinderte (Reha, Pflege, Alltagshilfen, Bad- und WC-Hilfen und andere). Hier konnte nur auf die Entwicklungsgeschichte der Rollstühle eingegangen werden; auf den letztgenannten Produktbereich, dessen Entwicklung ebenfalls hochinteressant ist, musste aus Platzgründen verzichtet werden.
Im Laufe der vielen Jahre ist bezüglich der Versorgung von Behinderten ein Wandel eingetreten. Während früher überwiegend nichtgehfähige „ Beingeschädigte“ mit Rollstühlen zu versorgen waren, werden heute Menschen mit schwersten Behinderungen über äußerst komplexe technische (Steuerungs‑)Systeme mobilisiert. In diesem Zusammenhang ist in den letzten Jahren auch der Kostenaspekt zunehmend in den Vordergrund gerückt. Es wird streng nach technisch wirtschaftlichen Lösungen gesucht, um das Maß des Notwendigen, wie es das SGB vorsieht 4, nicht zu überschreiten. Dabei haben auch die Fallpauschalenregelungen dazu geführt, dass technische Kriterien verändert werden mussten. Besonders gefragt sind preiswerte Systeme, selbsterklärend, einfach im Gebrauch, ohne Wartungszwang, reparaturunanfällig und trotzdem in der Qualität gesichert.
In der jüngsten Vergangenheit hat das Unternehmen eine schwere Krise durchlaufen, von der es sich seit 2014 aber wieder erholt hat und aus der es gestärkt hervorgegangen ist. Das Produktportfolio weist heute modernste Rollstühle auf, sodass die Grundlage für eine gesicherte Zukunft geschaffen ist.
Fazit
In diesem Artikel ist eines Rollstuhlpioniers gedacht worden, dessen Lebenswerk es war, mobilitätseingeschränkten Menschen ein Stück mehr Unabhängigkeit und damit Lebensqualität durch rollende, medizinische Hilfsmittel – Rollstühle – zurückzugeben. Der illustrierte Rückblick auf die 80-jährige Geschichte seines Unternehmens war gleichzeitig ein Rückblick auf die Geschichte des modernen Rollstuhls, seiner vielfältigen Formen und Einsatzmöglichkeiten und der Herausforderungen, die mit seiner Entwicklung verbunden waren.
Der Autor:
Prof. Dr. Rolf‑D. Weege
Hochschule OWL
Knickberg 3
32689 Kalletal
Weege R.-D. Der Rollstuhl – ein Rückblick auf 80 Jahre Entwicklungsgeschichte. Orthopädie Technik, 2016; 67 (9): 38–43
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