Einleitung
90 % aller Skoliosen sind idiopathisch, das heißt, die Ursache dieser Erkrankung ist noch immer nicht eindeutig geklärt. 10 % der Skoliosen haben eine neuromuskuläre Ursache. Darunter fallen neuropathische Skoliosen (z. B. Zerebralparesen und spinale Muskelatrophien), kongenitale Skoliosen (z. B. Spina bifida), myopathische Skoliosen (z. B. Muskeldystrophie und Arthrogrypose) sowie Skoliosen bei Systemerkrankungen (z. B. Neurofibromatose und Skelettdysplasie) 1. Das Versorgungskonzept bei der idiopathischen Skoliose ist klar vorgezeichnet und wird seit Jahren erfolgreich umgesetzt. Orthopädietechnisch wird dies durch das Herstellen von Derotationsorthesen nach Chêneau/Rigo erreicht. Hauptziel ist die Verringerung der Krümmungswerte durch gezielte Druckzonen und korrespondierende Freiräume 2 sowie die Derotation der Wirbelsäule. Um diese Ziele zu erreichen, muss der Träger in der Lage sein, aktiv den Druckzonen auszuweichen und durch eine tiefe Atmung die Freiräume auszufüllen. Die Korsettversorgung endet mit dem Abtrainieren nach dem Wachstum.
Bei der neuromuskulären Skoliose stellt sich die Situation anders dar als bei der idiopathischen Skoliose: Bei den zwischenzeitlich über 200 Versorgungen durch den Verfasser sind 95 % der Betroffenen nicht geh- und stehfähig und können sich nicht im Korsett aktiv auskorrigieren; 70 % sind nur mit einer Sitzschale sitzfähig. Die Atmung ist oft flach und durch die zusätzliche Kyphose stark eingeschränkt. Oftmals müssen PEG-Öffnungen oder Baclofenpumpen berücksichtigt werden. Im Regelfall ist die neuromuskuläre Skoliose zudem nur ein Teil der Behinderung, begleitet von Hüftluxationen, Kontrakturen, Krampfanfällen oder künstlicher Beatmung. Aufgrund der Progredienz der neuromuskulären Skoliose ist die Behandlung auf Dauer angesetzt.
Anforderungen an das Korsett
Im Gegensatz zur idiopathischen Skoliose, bei der ein isoliertes Krankheitsbild besteht, sind für die Versorgung der neuromuskulären Skoliose etliche Punkte zu berücksichtigen. Dabei ist die Skoliose nur ein Aspekt von vielen des gesamten Krankheitsbildes. Auch bei der Hilfsmittelversorgung ist das Korsett nur ein Teil, das in ein Gesamtkonzept integriert werden muss. Es ist sehr wichtig, auf die unterschiedlichen Bedürfnisse des Betroffenen, der Eltern, der Pfleger und Betreuer einzugehen und die daraus resultierenden Aspekte in die Hilfsmittelversorgung zu integrieren. Die folgenden Aspekte sind somit zu berücksichtigen:
- Grundvoraussetzung ist in einer Zeit des Pflegenotstandes, dass die Versorgung kinästhetisch, also von einer Hilfsperson unter Mithilfe des Patienten mit geringem Zeitaufwand zu bewältigen ist (siehe den Abschnitt unten zum Kinästhetik-Faktor).
- Die Korrekturdrücke müssen großflächig auf den Körper übertragen werden.
- Die Ränder sollten flexibel und thermoplastisch nachformbar sein.
- Der Korrekturdruck sollte so stark sein, dass der Träger das Korsett ganztägig tragen kann, ohne Druckstellen zu bekommen.
- Auf Polsterungen sollte verzichtet werden, da sich dort die Hitze staut und die Haut mazeriert.
- Das verwendete Material sollte dünn sein, damit es keinen Wärmestau gibt und es unter den Achseln nicht drückt, sodass die Arme angelegt werden können.
Das sogenannte Nemus-Korsett (abgeleitet aus „Neuromuskuläre Skoliose“) erfüllt all diese Anforderungen, da es aus einem flexiblen Inlett und einer Gießharzspange besteht (Abb. 1). Das durchsichtige Inlett hat den Vorteil, dass später beim Anziehen Falten im Unterziehshirt besser zu erkennen und zu entfernen sind.
Modellerstellung
Das Korsett wird nach Gipsabdruck gefertigt. Der Abdruck erfolgt je nach Situation im Sitzen oder Liegen. Zum Gipsabdruck sind mindestens drei, bei kyphotischen oder sehr rigiden Formen der Skoliose fünf Personen nötig: Eine Person fixiert das Becken und umgreift beidseits die Spina iliaca anterior superior. Eine zweite Person korrigiert die Skoliose in m‑l-Richtung, eine bis zwei Personen abduzieren die Arme und extendieren und rotieren die Wirbelsäule. Eine fünfte Person hält und kontrolliert den Kopf (Abb. 2 u. 3). Wenn die Situation es zulässt, wird versucht, zirkulär zu wickeln. In ca. 5 % der Fälle arbeitet der Verfasser in Longuettentechnik, wobei die Umfangsmaße beim Modellieren genau kontrolliert und eingehalten werden müssen.
Vor dem Ausgießen wird das Gipsnegativ zugeschnitten und ausgelotet. Beim Modellieren wird das Modell grob geglättet und als erstes die Spinen und der Beckenkamm aufgetragen. Die Abdrücke der korrigierenden Hände werden geglättet und leicht abgetragen. Bei kyphotischen Patienten sollten zusätzlich die Dornfortsätze im Bereich der Brustwirbelsäule aufgetragen werden. Bei weiblichen Patienten wird zusätzlich die Brust aufmodelliert, die nach der Fertigstellung im Korsett verbleibt. Sollte ein PEG vorhanden sein, muss an dieser Stelle eine Erhöhung mit einem Durchmesser von max. 6 cm und einer Höhe von 12 mm aufgetragen werden. Nach dem Modellieren muss das Modell sehr glatt poliert werden, damit später das tiefgezogene farblose Streifyflex durchsichtig bleibt.
Herstellung zur 1. Anprobe
Über das vorhandene Gipsmodell wird nun das Streifyflex gearbeitet, sodass es frontal um ca. 10 cm überlappt. Für kleinere Korsette wird 4 mm Materialstärke verwendet, die bei Bedarf auch noch etwas ausgezogen werden kann. Größere Korsette werden mit 5 mm Streifyflex gefertigt. Für die erste Anprobe wird das Inlett vom Modell abgenommen und so zugeschnitten, dass eine Hüftbeugung von mindestens 90° möglich ist. Unter den Armen sollte maximal ein Finger Platz sein. Die PEG-Öffnung wird angezeichnet und bei Bedarf ausgeschnitten. Nach der Anprobe wird auf dem Modell das Inlett durch einen Microkork-Dummy ersetzt, über den ein PVA-Folienschlauch gezogen und abgesaugt wird.
Für die Armierung wird ein Nylglass-Trikot über das Modell gezogen. Darüber werden im Verlauf der Wirbelsäule (vertikal) zwei Lagen gestreckte Faser eingelegt. Im Bereich der Seitenpelotten und der Beckenspange kommt jeweils eine horizontale Lage gestreckte Faser zum Einsatz, darüber eine Lage Kohlematte und zwei Lagen Nylglass-Trikot. Es folgen jeweils zwei Lagen gestreckte Faser vertikal und nochmals eine Kohlematte. Bei großen Kindern oder Erwachsenen sollte zusätzlich noch eine Lage gestreckte Faser in horizontaler und vertikaler Richtung eingelegt werden. Als Abschluss dient eine Lage Perlon-Trikot und Dekorstoff. Bei der Armierung ist darauf zu achten, dass der Bereich an der Wirbelsäule rigide und die seitlichen Pelotten teilflexibel gearbeitet werden. Zum Gießen kann C‑Harz oder Epoxy-Vinylester-Gießharz verwendet werden.
Beim Zuschnitt der Gießharzspange orientiert der Verfasser sich am Inlett und belässt sie rundherum ca. 15 mm kleiner, damit ein flexibler Randverlauf garantiert ist. Im Wirbelsäulenbereich werden zwei ca. 20 mm große Löcher gebohrt und sauber entgratet.
2. Anprobe
Nun kann die 2. Anprobe erfolgen. Dabei ist es wichtig, neben der Passform des Korsetts auch gleich die vorhandenen Hilfsmittel zu testen und diese nach Bedarf neu anzupassen oder umzubauen. Bei Sitzschalen ist meist ein neuer Vakuumabdruck notwendig, da sich die komplette Statik durch die Korrektur verändert. Auch wird bei einer adäquaten Korsettkorrektur der Patient um bis zu 6 cm „wachsen“. Bevor das Korsett nach ca. 30 Minuten entfernt und der Patient auf mögliche Druckstellen untersucht wird, werden die beiden Lochöffnungen der Spange auf das Inlett übertragen. Zur Fertigstellung werden am Inlett je nach Größe 3 bis 5 rücklaufende Klettverschlüsse angenäht; an den angezeichneten Löchern werden zwei Streifyflexpunkte mit 18 mm Durchmesser aufgeschweißt. Diese dienen beim Anziehen als Orientierung, wo die Spange am Inlett sitzen muss. Die Spange wird in der Regel mit 2 rücklaufenden Klettverschlüssen verschlossen. Wichtig ist, dass kein Gurt direkt über die PEG-Öffnung geführt wird und der unterste Gurt nicht das Sitzen beeinträchtigt.
Optionale Modifikationen zum Korsett
Bei den meisten Patienten kommt es durch das Tragen des Korsetts zu einer deutlichen Verbesserung der Kopf- und Armkontrolle. Wenn die Kopfkontrolle nicht ausreicht (Abb. 4), werden mit einem 3D-Scan Kinn- oder Kopfstützenabdrücke erstellt. Die Stützen werden über ein gefrästes Hartschaummodell tiefgezogen oder direkt in Schaum gefräst. Die Befestigung der Kinnstütze erfolgt mit Klettverschluss direkt am Korsett, damit sie zum Essen oder zur Logopädie entfernt oder anders positioniert werden kann. Die Kopfstütze wird über einen Führungskanal mit einem Carbonstab direkt an der Spange eingesetzt (Abb. 5).
Wenn ein ständiger Zugang zum PEG nötig ist, muss eine Öffnung geschaffen werden. Dabei ist es wichtig, in die Zunge und die Überlappung zwei U‑förmige Öffnungen zu schneiden (Abb. 6). Es sollte kein Loch ins Inlett geschnitten werden, da bei unsachgemäßem Umgang beim Ausziehen der PEG herausgerissen werden könnte. Eventuell müssen Gurte ähnlich einem Stomaring umgeleitet werden, damit sich das Inlett beim Sitzen nicht aufspreizt (Abb. 7).
Kinästhetik-Faktor
Viele Behinderteneinrichtungen haben sich auf eine kinästhetische Arbeitsweise umgestellt. Unter Kinästhetik wird die Entwicklung der eigenen Bewegungskompetenz verstanden, d. h. eines gesunden und flexiblen Einsatzes der eigenen Bewegung bei privaten und beruflichen Aktivitäten. Darunter fällt die Fähigkeit, die eigene Bewegung im Kontakt mit anderen Menschen so einzusetzen, dass diese in ihrer eigenen Bewegungskompetenz bzw. in ihrer Selbstwirksamkeit gezielt unterstützt werden 3. Für die betreuende Person bedeutet dies, dass der Betroffene nicht angehoben werden muss. Für den Betroffenen bedeutet es, dass er das Anziehen unterstützen kann und nicht völlig fremdbestimmt wird. Sehr viele Eltern besuchen Kinästhetik-Kurse und sind von dieser Arbeitsweise überzeugt. Wer tagtäglich sein Kind mehrfach windeln, umpositionieren oder transportieren muss, weiß jede Entlastung zu schätzen. Auch hier kann man klar feststellen: Je leichter ein Korsett anzuziehen ist, desto öfter wird es getragen. Und je länger ein Korsett getragen wird, umso höher ist die Effizienz der Versorgung. Die Abbildungen 8 bis 14 geben eine geeignete Anziehanleitung wieder.
Fazit
Das Nemus-Korsett ist ausschließlich für Betroffene mit einer neuromuskulären Skoliose konzipiert und eignet sich nicht zur Versorgung einer idiopathischen Skoliose. Ziel ist es, die Skoliose so weit aufzurichten, wie die Wirbelsäule es beim Gipsen auf mechanischen Druck und Extension zulässt (siehe Abb. 3). Auf eine nachträgliche Überkorrektur beim Modellieren sollte verzichtet werden, da sonst punktuelle Drücke entstehen, die das Tragen des Korsetts für den Betroffenen unmöglich machen. Das Korsett soll eine Verschlechterung der Skoliose aufhalten oder verzögern. Es dient in vielen Fällen auch zur Überbrückung für einen notwendigen OP-Termin.
Durch die Aufrichtung der Wirbelsäule kommt es zu einer deutlichen Verbesserung der Sauerstoffsättigung im Blut. Eigene Messungen ergaben einen Anstieg bis zu 5 %, aber auch klinische Messungen bei beatmeten Patienten erreichten diesen Wert. Die genaue Auswertung dieser Messergebnisse wird zurzeit in einer Studie erfasst und soll nach deren Abschluss publiziert werden. Auch hat das Einfassen der Brust bei kyphotischen Patienten keine Verschlechterung der Sauerstoffsättigung ergeben. Elastische Verschlüsse im Brustbereich haben zu keiner Verbesserung, sondern in einigen Fällen sogar zu einer Verschlechterung der Sauerstoffsättigung geführt.
In allen bisherigen Fällen konnte ein costo-iliacales Impingementsyndrom, das durch ein Aufstützen der Rippen am Beckenkamm entsteht 4, entlastet und schmerzfrei gehalten werden. Das Nemus-Korsett stabilisiert in allen Fällen Sitzposition und Kopfkontrolle (Abb. 4 u. 15). Es sorgt nach Anpassung einer Sitzschale mittels Vakuumabdruck für eine lotgerechte Sitzhaltung und trägt damit zu einer besseren Teilhabe am täglichen Leben bei. Durch die Stabilisierung der Wirbelsäule ist das Umsetzen oder der Transport des Betroffenen weit weniger aufwendig und für die Hilfsperson sicherer. Auch können Hilfsmittel wie z. B. Reha-Buggys ohne große Umbauten benutzt werden. Das leichte Anziehen hat gerade bei den betreuenden Personen einen hohen Stellenwert und sorgt für eine große Akzeptanz. Dies führt zu einer längeren Tragezeit des Korsetts.
Der Autor:
Martin Pfrommer
SC Sanitätshaus Carstens GmbH
Florianstraße 18–20, 70188 Stuttgart
m.pfrommer@sanitaetshaus-carstens.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Pfrommer M. Das Nemus-Korsett — Ein Konzept zur Versorgung der neuromuskulären Skoliose. Orthopädie Technik, 2018; 69 (4): 54–57
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- Koller H. Skoliosen: Neuromuskulär. Koller Wirbelsäule. http://www.koller-spine.de/skoliose-neuromuskulaer (Zugriff am 07.03.2018)
- Hilker R. Adulte Skoliosen. Konservative Behandlung mit Korsett. PT – Portal für Physiotherapeuten. http://www.physiotherapeuten.de/adulte-skoliosen (Zugriff am 07.03.2018)
- European Kinaesthetics Association. Was ist Kinaesthetics? https://www.kinaesthetics.net/home.cfm (Zugriff am 07.03.2018)
- Herz D, von Deimling U, Vehse B‑C et al. Die Wirbelsäulenampel – ein Instrument zur Früherkennung von Wirbelsäulendeformitäten bei Cerebralparesen (CP). Kinder- und Jugendarzt, 2016/2017; 47/48: 853–858. https://www.researchgate.net/publication/313861063 (Zugriff am 07.03.2018)