Einleitung
Die Sitzposition eines Querschnittgelähmten entscheidet über mehrere Aspekte:
- die Funktionen im Alltag,
- den Grad der Selbstständigkeit bzw. der notwendigen Hilfestellung,
- einen möglicherweise einsetzenden degenerativen Prozess wie eine Arthrose der Schultern durch Fehlhaltung,
- Wirbelsäulenveränderungen mit der Folge vegetativer Dysfunktionen wie beispielsweise Spastik sowie
- das Risiko von Dekubitalulcera.
Daher ist eine individuelle Positionierung die Basis für eine hohe Lebensqualität der Patienten. Es gibt viele Möglichkeiten der Positionierung; die zentrale und damit entscheidende Struktur ist hierbei das Becken. Das Becken bildet die Verbindung zwischen der Wirbelsäule und den Beinen; es trägt das Gewicht des Rumpfes und entscheidet, je nach Position, über die Sitzstabilität. Eine manuelle Untersuchung zur Feststellung der Beweglichkeit des Beckens sowie der benachbarten Gelenke und Strukturen erlaubt eine Aussage über die Möglichkeiten und Grenzen der Anpassung der Sitzposition. Dabei haben die Dauer der Lähmung, das Alter des Patienten, die Lebensumstände, die Compliance und das Wissen über den eigenen Körper großen Einfluss auf den Erfolg.
Rein anatomisch besteht das Becken aus drei Knochenanteilen 12: Die Darmbeinknochen formen die Beckenschaufeln und stellen über das Kreuzbein die Verbindung zur Wirbelsäule her; die paarig angelegten Sitz- und Schambeinknochen verbinden sich ventral über die Symphyse. Alle drei Anteile treffen zusammen und bilden das Hüftgelenk, den Kraftüberträger der Beine auf die Wirbelsäule.
Dem Becken werden drei Bewegungen zugeordnet: die Dorsal-/Ventralrotation (Abb. 1), die einseitige Kranial-/ Kaudalbewegung (Abb. 2) und die Rotation (Abb. 3). Diese können isoliert, aber auch in Kombination auftreten. Das Becken entscheidet über die Wirbelsäuleneinstellung 3 und somit auch über die Schultergürtelposition, die eine große Bedeutung für die Schulterbeweglichkeit und vor allem auch deren Belastung hat. Ebenso bedingt das Becken die Hüftgelenkseinstellung und deren Belastung.
Frei bewegliche Gelenke ermöglichen zwar eine vermeintlich leichtere Positionierung – sie benötigen jedoch häufig ein höheres Maß an Führung und Halt. Bei degenerativen Veränderungen, Gelenkeinschränkungen und muskulären Dysbalancen durch asymmetrische Innervation oder auch Spastik muss das Ziel einer optimalen Sitzposition zusätzlich an die körperlichen Voraussetzungen angepasst werden. Dies führt die Möglichkeiten der reinen Positionierung an ihre Grenzen und bedingt den Einsatz stabilisierender Hilfsmittel.
Fallbeispiele
In zwei Fallbeispielen wird die Komplexität des Themas Sitzpositionierung anhand der Einstellung des Beckens dargestellt. Beide Patienten verfügen über eine volle Innervation der Arme, haben keine Rumpfmuskulatur (abgesehen vom M. latissimus 4) und keine Sensibilität unterhalb der Brust. Funktionell sind sie selbstständig, was bedeutet, dass sie im Alltag auf keinerlei Hilfe z. B. beim Transfer angewiesen sind. Die Einstellung der Rollstühle war vergleichbar: Beide haben 6 cm Sitzgefälle und eine Rückenlehnenhöhe von 37 bzw. 39 cm, der jeweiligen Körpergröße angepasst.
Sitzpositionierung eines Patienten mit kürzlich erworbener Querschnittlähmung
Herr B. ist 24 Jahre alt und hat seit 6 Monaten eine komplette Querschnittlähmung unterhalb Th1. Die Gelenke sind frei beweglich, es zeigt sich eine dezente Spastik ohne Einfluss auf die Sitzposition, die Hautverhältnisse sind intakt, und es bestehen keine Nebendiagnosen.
Die spontane Sitzposition (Abb. 4) zeigt ein dorsalrotiertes Becken mit weiterlaufender Kyphose der LWS und BWS bis zum zervikothorakalen Übergang, einer Hyperlordose der HWS mit reklinierten Kopfgelenken. Die Oberschenkelauflage ist vermindert, und die oberen Sprunggelenke (OSG) sind in einer Plantarflexionsstellung. Folgende Interpretation ergibt sich daraus:
- dorsalrotiertes Becken: Sitzbelastung dorsal der Tuber, extendierte abduzierte Hüftgelenke, keine optimale Druckverteilung auf dem Sitzkissen;
- entlordosierte LWS: Kompression des Bauchraums durch sternosymphysiale Belastungshaltung, Beeinträchtigung der Atmung und der Bauchorgane;
- vermehrte BWS-Kyphose: protrahierter Schultergürtel, Kompression des Acromioclavicular- und des Sternoclaviculargelenkes, Antreiben des Rollstuhls mit innenrotiertem Humerus;
- hyperlordosierte HWS/reklinierte Kopfgelenke: muskuläre Dysbalance mit möglichen Folgen wie Kopfschmerz, Schluckbeschwerden und Kiefergelenksdysfunktionen;
- plantarflektiertes OSG: bedingt über muskuläre Züge ein dorsalrotiertes Becken.
In der Anpassung wurde das Becken nach ventral rotiert und die Sitzfläche nach dorsal ausgenutzt. Nach der Korrektur (Abb. 5) ist die Wirbelsäule deutlich aufrechter und die Druckverteilung auf dem Sitzkissen durch mehr Oberschenkelauflage verbessert. Durch die veränderte Einstellung der BWS wird die Kompression des ventralen Schultergürtels vermindert und die Belastung des Schultergelenkes physiologischer. Die angepasste Fußposition unterstützt die Becken- und Wirbelsäuleneinstellung. Die erarbeitete Sitzposition verringert allerdings die Sitzstabilität, sodass ein Hantieren nur eingeschränkt möglich ist. Daher wurde der Rollstuhl folgendermaßen angepasst: Der Anpassrücken wurde der aufgerichteten Wirbelsäule anmodelliert. Das Becken erhält so den notwendigen Raum von der Rückenbespannung, die LWS eine gute Unterstützung in Richtung Lordose durch gespannte Gurte und die BWS ausreichenden Durchhang, um ihr Führung und Stabilität zu geben. Durch diese Anpassung entsteht zusätzlich eine seitliche Führung des Oberkörpers über die Rückenrohre, um die Symmetrie der Wirbelsäule zu unterstützen.
Als Ausgleich für den nach dorsal verschobenen Schwerpunkt wurde in einem weiteren Schritt das Antriebsrad um eine Position nach hinten versetzt, um den Schwerpunkt über die Achse zu verlegen und die Fahreigenschaften des Rollstuhls wieder herzustellen.
Sitzpositionierung einer Patientin mit langjähriger Querschnittslähmung
Frau A. ist 77 Jahre alt und hat seit 28 Jahren eine komplette Querschnittlähmung unterhalb Th4. Frau A. zeigt eine freie Gelenkbeweglichkeit der unteren Extremität. Becken und Wirbelsäule sind zwar in allen drei Ebenen korrigierbar, jedoch nicht endgradig beweglich. Es zeigt sich eine dezente Spastik in den Beinen, die die Sitzposition nicht beeinflusst. Die Hautverhältnisse sind intakt. Nebendiagnosen sind Acromioclavicular-Arthrose rechts, Impingement-Syndrom beidseits sowie beidseitige Rhizarthrose.
Ihre spontane bzw. erworbene Sitzposition (Abb. 6 u. 8) zeigt Abweichungen in allen drei Ebenen: ein dorsalrotiertes Becken mit Beckenhochstand rechts und einseitiger Beckenrotation rechts nach dorsal, weiterlaufend eine Links-Konvexität der LWS und unteren BWS sowie eine kyphotische Einstellung von der LWS bis zum zervikothorakalen Übergang mit Hyperlordose und Konvexität der HWS nach rechts sowie reklinierten Kopfgelenken, ebenyso einen dezenten Schulterhochstand links, abduzierte Hüftgelenke und plantarflektierte Sprunggelenke. Hieraus ergibt sich folgende Interpretation:
- dorsalrotiertes Becken: Sitzbelastung dorsal der Tuber, extendierte abduzierte Hüftgelenke;
- Beckenhochstand rechts: Druckerhöhung linker Tuber und Einleitung der Konvexität der Wirbelsäule;
- Beckenrotation: skoliotische Fehlhaltung der Wirbelsäule, asymmetrische Belastung der Hüftgelenke, keine optimale Nutzung des Sitzkissens durch verringerte Oberschenkelauflage;
- Linkskonvexität der LWS/BWS: erfordert eine Rechtskonvexität der HWS, um die Augenlinie horizontal einzustellen;
- entlordosierte LWS: sternosymphysiale Belastungshaltung, die Kompression des Bauchraums beeinträchtigt die Atmung und die Bauchorgane;
- vermehrte BWS-Kyphose: protrahierter Schultergürtel, Kompression des Acromioclavicular- und Sternoclaviculargelenkes, Antreiben des Rollstuhls mit innenrotiertem Humerus;
- hyperlordosierte HWS/reklinierte Kopfgelenke: muskuläre Dysbalance mit möglichen Folgen wie Kopfschmerz, Schluckbeschwerden, Kiefergelenksdysfunktionen;
- Schulterhochstand links: Belastung des Schultergelenkes in Adduktionsstellung, das Gelenk arbeitet nicht zentriert, daraus resultiert mögliche Degeneration der Rotatorenmanschette oder des Acromioclaviculargelenkes;
- plantarflektiertes OSG: bedingt über muskuläre Züge ein dorsalrotiertes Becken.
In der Positionierung wurde das Becken in der Frontal- und Transversalebene zentriert und nach ventral rotiert, dadurch wird die Sitzfläche weiter dorsal und die Rückenbespannung als Führung genutzt. Die Beckenpositionierung (Abb. 7 u. 9) hat die Konvexität und Rotationseinstellung von LWS und BWS sowie die Kyphose verringert. Die Stellung der Kopfgelenke hat sich in Richtung Inklination verändert, die Protraktion des Schultergürtels ist verringert, und die Schultergelenke sind zentrierter. Die Einstellung der Hüftgelenke ist symmetrischer, und die Füße stehen unter den Knien. Dies führt zu einer besseren Druckverteilung auf dem Sitzkissen. Der Anpassrücken übernimmt seine stützende Funktion und richtet die Wirbelsäule auf. Die Rückenbespannung wurde im Bereich der LWS zur Unterstützung der Lordose und zur Aufrichtung der darüber liegenden Wirbelsäulenabschnitte mit weniger Durchhang eingestellt.
Ein wichtiges Ziel der Patientin war eine Linderung ihrer Schulterschmerzen. Die erarbeitete Position ermöglicht zwar ein schultergelenkschonenderes Antreiben des Rollstuhls, verringert jedoch die Stabilität, die zuvor durch die Position der Rückenbespannung und der kyphotischen Wirbelsäuleneinstellung erreicht wurde (Abb. 9). In diesem Fall wurde der Rollstuhl aufgrund der häuslichen Gegebenheiten nicht verändert, sondern mit der Patientin die Möglichkeiten des selbstständigen Positionswechselserarbeitet. Dadurch wird sowohl die Schulterproblematik als auch die Stabilität berücksichtigt.
Bei den Positionierungen dieser beiden Patienten mit sehr ähnlichen Lähmungshöhen und funktionellen Ständen gibt es Gemeinsamkeiten, jedoch auch einige Unterschiede, die nur durch eine individuelle Betrachtungsweise zu einer angemessenen Versorgung führen: Die Herausforderung bei Herrn B. war die Akzeptanz und das Verständnis für die veränderte Sitzposition, die der Patient wegen des besseren Erscheinungsbildes und der Wirkung auf die Umwelt als positiv bewertete; bei Frau A. hingegen war der Wunsch nach Veränderung der Sitzposition zur Schmerzlinderung der Antrieb, und zusätzlich brachte sie ein hohes Maß an Erfahrung mit ein.
Die Möglichkeiten und Grenzen einer Positionierung und des damit verbundenen therapeutischen Zieles werden bei Frau A. und Herrn B. deutlich und zeigen, dass eine reine Körperpositionierung der erste Schritt ist, jedoch nicht immer ausreichend sein kann. Dies macht den Einsatz von Hilfsmitteln (z. B. Pelotte, spezielles Sitzkissen) sinnvoll und notwendig.
Fazit
Grundsätzlich ist es wichtig, die Problemstellung des Patienten zu verstehen und gemeinsam zielgerichtet an einer Lösung zu arbeiten. Dabei ist es notwendig, einerseits die Balance zwischen Funktion und Stabilität und andererseits eine optimale Sitzposition zu ermitteln.
Um das Positionierungskonzept so gut wie möglich nutzen zu können, ist die Eigenverantwortung des Patienten unverzichtbar. Eine gute Schulung des Körpergefühls und zielgerichtete Informationen zur Durchführung der selbstständigen Positionskorrektur sind dabei wichtige Bausteine. Des Weiteren ist das therapeutische Wissen über die Mobilität und Funktion des Patienten Grundvoraussetzung.
Durch die symmetrische Einstellung des Beckens ist eine physiologischere Wirbelsäulen- und Schultergürteleinstellung möglich, durch die Sekundärschäden verhindert werden können bzw. der Zeitpunkt der Degeneration verschoben werden kann.
Die Autorin:
Tina Mathias
Physiotherapeutin
Werner Wicker Klinik – Zentrum für Rückenmarkverletzte
Im Kreuzfeld 4
34537 Bad Wildungen-Reinhardshausen
Mathias@werner-wicker-klinik.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Mathias T. Das Becken – die zentrale Struktur der Sitzpositionierung. Orthopädie Technik, 2017; 67 (5): 38–41
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- Sobotta J. Atlas der Anatomie des Menschen. Das Becken. München, Jena: Urban & Fischer Verlag, 2000: 266
- Kapandji IA. Ausrichtung von Femurkopf und Hüftpfanne. In: Kapandji IA. Funktionelle Anatomie der Gelenke. Band 2: Untere Extremität. Stuttgart: Hippokrates, 1999: 16
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- Tillmann BN. M. latissimus. In: Tillmann BN. Atlas der Anatomie. Heidelberg: Springer Medizin Verlag, 2010: 405