Dabei wird neben den besonderen Vorteilen auf die noch bestehenden technologischen, materialtechnischen und regulatorischen Risiken eingegangen und die Vision einer komplett digitalen Prozesskette vorgestellt.
Einleitung
Additive Fertigungsverfahren („Additive Manufacturing“, AM), häufig auch als „3D-Druck“ bezeichnet, gelten mittlerweile als die nächste industrielle Revolution. Auch im Bereich der Hilfsmittelversorgung gewinnt die Vision, hochkomplexe und individualisierte Produkte mit hoher Genauigkeit quasi per Knopfdruck herstellen zu können, immer mehr Anhänger. Gleichzeitig sind viele konventionell arbeitende Orthopädie-Techniker beunruhigt und befürchten, von der rasanten technologischen Entwicklung überholt zu werden. Andere bezeichnen den 3D-Druck als den nächsten „Hype“ und verweisen auf die vermeintlich revolutionären Entwicklungen aus der jüngsten Vergangenheit, die die hohen Erwartungen gar nicht – wie die Osseointegration – oder nur zum Teil – wie die industrielle Servicefertigung – erfüllt haben.
Die Zielsetzung dieses Beitrags besteht darin, die besonderen Vorteile von AM für die Technische Orthopädie aufzuzeigen und gleichzeitig auf die technologischen, materialtechnischen und regulatorischen Risiken hinzuweisen, die den Erfolg des 3D-Drucks letztendlich gefährden können. Es wird zudem ein Versuch unternommen, eine zukünftige komplett digitale Versorgungskette zu skizzieren. Dabei soll es nicht um den Einsatz von AM als eine mögliche Fertigungstechnik unter vielen gehen, sondern um ihre Rolle als essentieller Bestandteil einer weitestgehend digitalen Versorgungskette. Wenn eine OT-Werkstatt ihre Gipsabdrücke einscannt und bei Bedarf „3D-druckt“, dann löst das vielleicht die Lagerungsproblematik der Werkstatt, verändert aber die Patientenversorgung nicht grundlegend. Entsprechend ist es in der Orthopädie-Schuhtechnik letztendlich egal, ob die Leisten konventionell oder additiv produziert werden, wenn es bei den herkömmlichen Verfahren der Schuhherstellung bleibt.
Die durch AM-Verfahren hervorgerufenen Veränderungen können schneller erfolgen, als viele vermuten. Man kann hier bereits auf die Erfahrungen aus anderen Bereichen der Medizintechnik verweisen. So hat der 3D-Druck im Bereich der Versorgung mit Hörhilfen bereits zu einer Revolution geführt: Über 90 % aller Geräte werden heute angepasst an die Form des Ohres des Patienten angeboten. Das zeigt, dass die massenhafte generative Fertigung von Medizinprodukten bereits heute rentabel sein kann und im Ergebnis zu einer Verdrängung der konventionell arbeitenden Unternehmen vom Markt führt.
Additive Fertigungsverfahren
Der Begriff „3D-Druck“ wird häufig stellvertretend für alle Fertigungsmethoden verwendet, bei denen dreidimensionale Objekte aus einem CAD-Modell durch das schichtweise Auftragen eines Materials generiert werden. Diese Verallgemeinerung ist allerdings nicht ganz korrekt, da sich die verschiedenen additiven Verfahren hinsichtlich ihrer physikalischen Prinzipien, der bestehenden technologischen Herausforderungen und möglicher Defekte des Endprodukts stark unterscheiden. Eine Klassifizierung von AM-Verfahren ist anhand folgender Charakteristika möglich:
- Art (Metall, Polymer) und Form (Draht, Pulver, Paste, Flüssigkeit etc.) des Ausgangsmaterials,
- Verfestigungsmechanismus (Polymerisieren, Abscheiden, Verkleben, chemische Reaktion etc.),
- Energie-Art (Wärme, Laserstrahl, Elektronenstrahl etc.).
Exemplarisch sei hier das Selektive Lasersintern (SLS) genannt, da es bislang in der Technischen Orthopädie besonders häufig Anwendung gefunden hat. Es handelt sich dabei um ein thermisches Verfahren, bei dem ein Kunststoffpulver mit einem Laserstrahl lokal und partiell aufgeschmolzen wird, um eine Verbindung zwischen den Partikeln zu gewährleisten. Der Vorgang wird schichtweise wiederholt, bis das gewünschte 3D-Objekt entstanden ist. Verarbeitet werden vor allem thermoplastische Kunststoffe – sowohl kristalline (Nylon, Polyamid PA11 und PA12) als auch amorphe (Polystyrol, Polycarbonat). Weitere Verfahren, die derzeit zur Anwendung kommen, sind Fused Deposition Modelling (FDM) und Multi Jet Fusion (MJF).
Bedingt durch die schichtweise Fertigung grenzt sich AM deutlich von subtraktiven Verfahren, die das Abtragen von Material umfassen, und von formativen Fertigungsverfahren ab, bei denen ein formgebendes Volumen die gewünschte Geometrie definiert. AM kommt ohne produktspezifische Werkzeuge aus; die werkzeugbedingten Restriktionen entfallen. Die Fertigung der Bauteile kann zudem in jeder beliebigen Orientierung erfolgen. Der im Bereich Medizintechnik entscheidende Vorteil ist jedoch die Entkopplung der Stückkosten von der Bauteilkomplexität und vom Individualisierungsgrad.
Dadurch erhält man die Möglichkeit, innerhalb kürzester Zeit kundenspezifische, an die individuellen anatomischen Gegebenheiten angepasste Medizinprodukte herzustellen – nach Bedarf und direkt vor Ort. Gleichzeitig kommt der Konstrukteur in den Genuss bisher ungekannter Gestaltungsfreiheiten, da komplexe Geometrien mit einem hohen Maß an Funktionsintegration bei hocheffizienter Materialausnutzung in einem einzigen Herstellungsschritt produziert werden können. Einige Nachteile von AM wie das begrenzte Bauvolumen und der relativ hohe Zeitbedarf pro Stück spielen zudem in der Medizintechnik nur eine untergeordnete Rolle. Andere Nachteile dagegen wie die (noch) überschaubare Anzahl verfügbarer additiver Materialien mit bescheidenen mechanischen Eigenschaften sowie die schwierige Qualitäts- und Prozesskontrolle wiegen in einem stark regulierten Medizinproduktemarkt umso schwerer. Es ist daher zu vermuten, dass AM-Verfahren sich vorrangig in denjenigen Bereichen der Medizintechnik durchsetzen werden, in denen ihre Vorteile einen entscheidenden Vorsprung gegenüber dem jetzigen Zustand ergeben und in denen die Nachteile vernachlässigt oder überwunden werden können.
3D-Druck ist kein Selbstzweck
Das Interesse der Orthopädie- bzw. der Sanitätshäuser an additiven Technologien ist sehr groß. Wie man auf der OTWorld 2018 in Leipzig gut sehen konnte, haben viele Betriebe bereits erste Erfahrungen mit der neuen Technik gesammelt. Es wird aber auch auffallend häufig von Enttäuschungen berichtet. Die Ursachen dafür liegen nicht nur in den sehr hohen Erwartungen, sondern zum Teil auch in einer falschen Herangehensweise.
Wenn man die auf Messen, Kongressen und im Internet vorgestellten Produkte anschaut, fallen zwei Extreme auf: Auf der einen Seite sind futuristische, formschöne Entwürfe von Industriedesignern zu finden, die allerdings aus biomechanischer Sicht hinsichtlich Krafteinleitung, Achsinkongruenzen, Druckstellen etc. häufig zu hinterfragen sind. Auf der anderen Seite werden von Orthopädie-Technikern die alten, für die konventionelle Fertigung bestimmten Produktdesigns additiv nachgebaut; anschließend wird bemängelt, dass die funktionellen Eigenschaften sich verschlechtert hätten.
Beide Wege führen nicht zum Erfolg: Das schönste Design ist nutzlos, wenn die Anforderungen an Funktionalität, Passgenauigkeit und Tragekomfort nicht erfüllt werden. Da die (derzeit) verfügbaren additiven Materialien mit klassischen Werkstoffen hinsichtlich der mechanischen Eigenschaften noch nicht konkurrieren können, ist auch das Nachbauen alter Designs wenig ergiebig: Man verzichtet dabei auf die Chance, diesen Nachteil durch den Einsatz geeigneter – z. B. numerisch optimierter oder bionisch inspirierter – Strukturen zu kompensieren. Das zeigt zudem auch, dass das Verständnis, wie die Form und die funktionellen Eigenschaften mit der biomechanischen Wirkung der Orthesen zusammenhängen, häufig nicht in wünschenswertem Umfang vorliegt.
Das Gesagte macht deutlich, dass additiv zu fertigende Hilfsmittel von Grund auf neu konzipiert werden müssen. Die Möglichkeiten der Herstellung komplexer Strukturen, die erst durch die additive Fertigung eröffnet werden, müssen bereits bei der Konstruktion der Hilfsmittel berücksichtigt werden. Auch ein grundlegendes Verständnis der biomechanischen Wirkmechanismen und der funktionellen Parameter der Hilfsmittel ist für den Konstrukteur unabdingbar. Orthopädietechnische Hilfsmittel werden nicht per se besser, günstiger und schneller verfügbar, nur weil sie additiv gefertigt werden.
Additive Fertigungsverfahren in der Technischen Orthopädie
Auf der anderen Seite konnte AM in der Technischen Orthopädie mittlerweile erste Erfolge feiern: Durch gezielte Formgestaltung lassen sich bereits heute optimierte Gebrauchseigenschaften erzielen, z. B. eine verbesserte Atmungsaktivität dank perforierter Oberfläche, die mit einer Gewichtsreduktion einhergeht (Abb. 1).
Ein weiterer sehr wertvoller Aspekt ist die Möglichkeit einer kosmetischen Anpassung nach dem Geschmack des Patienten. Bei einer idiopathischen Skoliose, die – bezogen auf weibliche Patienten – in der Regel im Mädchenalter korrigiert werden muss, hängt der Behandlungserfolg direkt mit der Akzeptanz der Versorgung zusammen. Hier gibt es erste wissenschaftliche Untersuchungen, die zeigen, dass eine moderne Form der Orthese und die Beteiligung des Patienten an deren Gestaltung die Akzeptanz nachhaltig beeinflussen können1. Diese Erkenntnis ist auf andere Orthesenarten übertragbar. Exemplarisch dafür kann die „WHO-Spiral-Printorthese®“ der Firma Pohlig (Abb. 2) genannt werden, für die ein breites Spektrum an unterschiedlichen Mustern und Farben angeboten wird, die auch individuell miteinander kombiniert werden können 2.
Prinzipiell lassen sich in der Technischen Orthopädie drei Einsatzgebiete definieren, die von den potenziellen Vorteilen der additiven Fertigung profitieren können:
- additive Fertigung bisher individuell gefertigter Hilfsmittel (AFO, KAFO, Schäfte, Liner etc.),
- individualisierte additive Fertigung als Ersatz für die sogenannte Schachtelorthopädie, also Versorgungen, die bisher vorkonfektioniert nach
einem Größensystem abgegeben wurden (Lagerungsschienen, Zervikalorthesen etc.), - individualisierte additive Fertigung von bisher industriell gefertigten Systemkomponenten (Prothesenfüße, Prothesenhände, Orthesengelenke etc.).
Diese Einsatzbereiche unterscheiden sich stark hinsichtlich der beteiligten Akteure, der bisher genutzten Herstellungstechniken sowie der gültigen regulatorischen und klinischen Anforderungen.
Das erste genannte Gebiet profitiert von den Individualisierungsmöglichkeiten der AM-Verfahren nicht, da die Hilfsmittel bereits heute individuell gefertigt werden. Gleichzeitig müssen diese Produkte die schärfsten Anforderungen hinsichtlich Passform und Funktionalität erfüllen, sodass die Vorteile des AM derzeit eher in der Kosteneinsparung und in der Verkürzung der Herstellungszeit liegen. Bagaria et al. kommen in ihrem Review der bisherigen Untersuchungen zu der Schlussfolgerung, dass 3D-gedruckte Hilfsmittel aus dieser Gruppe bereits heute generell mit konventionell gefertigten Produkten vergleichbar seien 3. Allerdings widerspricht diese Einschätzung den bisherigen praktischen Erfahrungen in Deutschland.
Die Ursache dafür liegt in den untersuchten Produkten und in den Vergleichsparametern der Studien: Es wurden hauptsächlich tiefgezogene „Drop-Foot“-Orthesen aus Polypropylen zum Vergleich herangezogen und zudem nur grobe Zeit-Distanz-Parameter wie Schrittlänge und Ganggeschwindigkeit verglichen. Es gibt aber bereits erste Untersuchungen, die zeigen, dass additiv gefertigte Hilfsmittel biomechanisch gleichwertig sein können, wenn ihre funktionellen Parameter mit konventionellen Orthesen vergleichbar sind. In einer Untersuchung von Harper et al. waren additiv gefertigte AFOs den konventionellen dynamischen AFOs aus Carbon-Prepreg in der Ganganalyse ebenbürtig, wenn sie die gleiche Gelenksteifigkeit besaßen 4. Aufgrund der Materialunterschiede sind additiv gefertigte AFOs derzeit aber noch schwerer, sperriger und optisch auffälliger als eine konventionelle Versorgung.
Eine große Herausforderung beim Einsatz von AM in der Prothetik ist die Tatsache, dass optische 3D-Scanverfahren trotz der enormen Verbesserungen der letzten Jahre momentan noch keinen adäquaten Ersatz für das klassische Gipsen darstellen, bei dem der Techniker gezielt Druck auf das Gewebe ausübt, auf diese Weise die Gewebe-Eigenschaften abschätzt und das Gewebe gegebenenfalls komprimiert, um eine für die Kraftübertragung optimale Form zu erzielen. Im Bereich der Liner kann die geringere Genauigkeit der Formerfassung zum Teil durch elastische Eigenschaften des Liners ausgeglichen werden. In diesem Zusammenhang wird bereits über die ersten routinemäßigen Einsätze berichtet 5. Die additive Fertigung von Prothesenschäften bleibt derzeit trotz einiger vielversprechender Ansätze wie der Möglichkeit der gezielten Thermoregulation 6 und der Verbesserung der Passform durch Nutzung von CT- und MRT-Daten 7noch ein Gegenstand der Forschung.
Als Ersatz für die sogenannte Schachtelorthopädie bieten additiv gefertigte Hilfsmittel durch die Möglichkeit der Individualisierung den Vorteil einer besseren Anpassung an die individuelle Patientenanatomie und dadurch die Möglichkeit einer Optimierung der Kraftübertragung, einer Verringerung von Druckstellen und einer Verbesserung des Tragekomforts. Exemplarisch kann hier eine 3D-gedruckte postoperative Zervikalorthese (Abb. 3) angeführt werden, bei der eine gute Patienten-Compliance bei verbesserter Ruhigstellung zu erwarten ist. Als nachteilig sind momentan jedoch die höheren Kosten und die längere Versorgungsdauer anzusehen.
Hier müssen klinische Studien erfolgen, um die Größe der erwarteten positiven Effekte quantifizieren zu können – ohne überzeugende Kosten-Nutzen-Analyse wird es schwierig sein, eine Erstattung durch die Kostenträger zu erreichen. Allerdings sind klinische Studien wiederum mit Kosten und Aufwand verbunden; zudem sind im Zuge der anstehenden Einführung der EU-Medizinprodukteverordnung (MDR) kaum noch entsprechende Fachleute verfügbar. Es kann sich dennoch für Hersteller lohnen, diesen Weg zu beschreiten. So wurde kürzlich die erste randomisierte kontrollierte Studie veröffentlicht, die die Vorteile einer individualisierten Versorgung bei Plantarfasziitis, verglichen mit vorkonfektionierten Produkten, belegt 8.
Die individualisierte additive Fertigung von Systemkomponenten wie z. B. Prothesenfüßen hat den Vorteil einer gezielten stufenlosen Anpassung ihrer funktionellen Eigenschaften an Patientenbedürfnisse und ‑aktivitäten. Gleichzeitig lässt sich durch die Verwendung hochkomplexer last- und gewichtsoptimierter Strukturen, die in dieser Form konventionell nicht herstellbar sind, eine Gewichtsreduktion erreichen. Gerade in der Kinderversorgung haben diese Vorteile einen besonderen Stellenwert. Allerdings reichen auch hier die Eigenschaften der derzeit verwendbaren Materialien noch nicht aus, um die biomechanischen Funktionen einer ausreichenden Energiespeicherung oder Dämpfung allein anhand der Form und der Struktur zu realisieren, sodass zusätzliche Elemente wie Federn oder Dämpfer angewendet werden müssen. Ein weiterer Bereich der bevorzugten Anwendung von AM sind wasserfeste Prothesen: Die ersten 3D-gedruckten Prothesenfüße sind bereits auf dem Markt verfügbar und haben die vorgeschriebene Prüfung nach ISO 10328 bestanden 9 (Abb. 4).
Die additive Fertigung von Handprothesen steht in Deutschland bislang noch nicht im Fokus. International wird dagegen viel über entsprechende Ansätze berichtet, wobei der Schwerpunkt nicht auf der Verbesserung der Gebrauchseigenschaften, sondern primär auf der Senkung der Kosten und der Gewährleistung einer flächendeckenden Versorgung liegt. Die Geschichte des damals 17-jährigen US-amerikanischen Gymnasiasten Easton LaChappelle, der im Jahr 2012 eine 3D-gedruckte und mittels Elektroenzephalographie gesteuerte Prothese entwickelte und unter einer Open-Source-Lizenz veröffentlichte, ging weltweit durch alle Medien. Mehrere Start-ups arbeiten daran, preiswerte 3D-gedruckte Prothesen für Opfer von Landminen in Asien und Afrika zu entwickeln [10]10.
Im Bereich orthetischer Komponenten wie Gelenken oder Schienen sind bislang keine einsatzfähigen Produkte bekannt. Zwar werden hin und wieder Designstudien von KAFOs vorgestellt, bei denen die Gelenke „mitgedruckt“ werden. Ob diese Produkte den extremen Anforderungen hinsichtlich Bruch- und Verschleißfestigkeit standhalten, darf allerdings bezweifelt werden. Aufgrund der hohen Patientenvariabilität und kleiner Stückzahlen ist eine solche Herangehensweise wirtschaftlich zudem nur bedingt sinnvoll, sodass hier keine kurzfristige Entwicklung zu erwarten ist. Auch der Bereich der Badeorthesen ist wirtschaftlich nicht attraktiv, da bereits seit einigen Jahren wasserfeste carbonfaserverstärkte Gelenke auf dem Markt sind.
Anhand dieser Übersicht wird deutlich, dass AM-Verfahren derzeit vor allem dann eingesetzt werden, wenn es durch die Individualisierung zu nachweisbaren Vorteilen für den Patienten kommt oder wenn dadurch Kosteneinsparungen, eine Verkürzung der Herstellungszeit oder eine Verbesserung der Herstellungsprozesse zu erzielen sind.
Additive Fertigungsverfahren in der Orthopädie-Schuhtechnik
Die Orthopädie-Schuhtechnik zeichnet sich – verglichen mit der Orthopädie-Technik im Allgemeinen – durch eine geringere Breite der Produktpalette aus. Trotz der hohen anatomischen und funktionellen Komplexität des menschlichen Fußes ist die Anzahl der zu versorgenden Indikationen geringer, und die Randbedingungen sind zum Teil besser bekannt. Zudem hat der Einsatz von Messtechnik wie der plantaren Fußdruckmessung in der Branche seit Jahren einen festen Stellenwert. Das sind mögliche Erklärungen, warum die Entwicklung der additiven Fertigung in der Orthopädie-Schuhtechnik schneller voranschreitet.
Ging es bis vor einigen Jahren nur darum, AM als bessere Alternative bei der Fertigung von Leisten und Einlagen zu etablieren, sind heute mehrere Anbieter auf dem Markt, die einen komplett digitalen Fertigungsprozess für die Orthopädie-Schuhtechnik anbieten – von der digitalen Vermessung mittels 3D-Scan über CAD-Leistenkonstruktion und Stellungskorrektur bis zur additiven Fertigung. Die Anzahl der angemeldeten Patente für digitale Verfahren in der Orthopädie-Schuhtechnik steigt ebenfalls rasant.
Allerdings ist die Entwicklung auf dem Markt für konventionelle Schuhe noch schneller: Mehrere Schuhhersteller integrieren derzeit 3D-gedruckte Sohlen und Schnürsenkel in ihre Produktpaletten. Für das Jahr 2019 haben mehrere Unternehmen erste Serienprodukte angekündigt, die komplett mittels 3D-Druck produziert werden sollen. Es wurden komplexe messtechnikbasierte Hard- und Softwareplattformen entwickelt, die eine individualisierte Herstellung maßgeschneiderter Schuhe ermöglichen 11. Exemplarisch sei hier das mobile Messsystem der Firma Ecco genannt, das eine Kombination aus Inertial- und Mikroklima-Sensorik zur Analyse der individuellen Patientenbedürfnisse einsetzt. Die biomechanischen Messdaten werden von der Software in Geometrien für den 3D-Druck umgewandelt; die entstandenen Designs werden sodann durch FEM-Simulationen validiert. Noch bekannter ist die „FitStation“ – eine Fußmessstation der Firma Hewlett-Packard, die 2018 vorgestellt und mit dem „Product of the Year Award“ der ISPO ausgezeichnet wurde. Das System setzt im Bereich Sensorik auf eine Kombination aus 3D-Scan und dynamischen Fußdruckmessungen. Nach der Vermessung und Optimierung entsteht ein individuelles 3D-Modell; das Produkt wird anschließend per Multi-Jet-Fusion-Verfahren gefertigt. Dass es nicht bei Sportschuhen bleiben wird, war spätestens nach dem Erhalt der Zulassung als Medizinprodukt durch die U. S. Food & Drug Administration (FDA) klar. Mittlerweile ist Hewlett-Packard verschiedene strategische Partnerschaften eingegangen, darunter mit der Firma Superfeet für Schuheinlagen und mit der Firma Go 4‑D für orthopädische Schuhe und Fußorthesen.
Diese und andere Beispiele zeigen, dass mittlerweile auch große Unternehmen die digitale Fertigung in der Orthopädie-Schuhtechnik für sich entdeckt haben und sehr aktiv die Technologie vorantreiben. Es ist daher nicht ganz auszuschließen, dass es in der momentan durch kleine Unternehmen geprägten Orthopädie-Schuhtechnik zukünftig zu großen Veränderungen kommen wird.
Regulatorische Herausforderungen
Nicht die bereits angesprochenen Herausforderungen technologischer Art, sondern die regulatorischen Aspekte sind momentan als die entscheidende Hürde für den Siegeszug von AM in der Medizintechnik anzusehen. Streng genommen stellt jede individuelle Anpassung eine Konstruktionsänderung dar, deren Sicherheit durch entsprechende Risikomanagement-Maßnahmen bis hin zu einer erneuten Produktprüfung bestätigt werden muss. Dass dieser Weg aufgrund der hohen Kosten und der entstehenden Zeitverzögerung nicht praktikabel ist, ist unstrittig. Regulatorische Vorgaben, die einen praktikablen Weg zur Sicherstellung der Sicherheit individuell gefertigter 3D-gedruckter Medizinprodukte aufzeigen, fehlen jedoch derzeit noch 12.
Der Begriff der Sonderanfertigung spielt bei der momentanen regulatorischen Betrachtung von 3D-gedruckten Medizinprodukten eine zentrale Rolle, da eine Sonderanfertigung ein vereinfachtes Konformitätsbewertungsverfahren ohne Einbeziehung einer benannten Stelle und ohne CE-Kennzeichnung ermöglicht. Es ist jedoch fraglich, inwieweit die in der MDR geänderte Definition der Sonderanfertigung für additiv gefertigte Medizinprodukte überhaupt noch gilt – in den USA geht die zuständige FDA im Falle einer Produktion von mehr als fünf Sonderanfertigungen eines Typs pro Jahr von einer industriellen Fertigung mit allen regulatorischen Folgen aus.
Für die Zukunft sind daher geeignete Methoden der Sicherheitsbewertung individualisierter 3D-gedruckter Hilfsmittel gefragt, die einerseits alle neuartigen Aspekte des 3D-Drucks und existierende relevante Vorgaben wie die FDA-Leitlinie berücksichtigen und andererseits praktikabel sind – gerade für kleinere und mittlere Orthopädie-Häuser. An solchen Lösungen wird derzeit unter anderem an der Fachhochschule Münster intensiv geforscht 12. Die additiven Fertigungsverfahren ermöglichen zudem gerade im medizinischen Bereich verstärkt neue Geschäftsmodelle, die verglichen mit den bisherigen eine veränderte Rollen- und Verantwortungsverteilung zwischen den Akteuren aufweisen und zu weiteren offenen Fragen und Unsicherheiten führen.
Eine zusätzliche Herausforderung stellt die Trennung zwischen Entwicklung und Fertigung dar: Gerade kleinere Start-ups, die nach neuen Anwendungen für den 3D-Druck forschen, sind aufgrund der noch hohen Kosten für die Geräteanschaffung auf die Zusammenarbeit mit externen Dienstleistern angewiesen. Diese sind aufgrund der geringen Stückzahlen aber nur selten bereit, sich einer umfassenden Prozessvalidierung zu stellen. Eine weitere Herausforderung stellt die Software zur Steuerung der additiven Fertigungsprozesse selbst dar: Da diese Software viel mehr Aufgaben als im klassischen Fertigungsprozess übernimmt, kann sie je nach Zweckbestimmung und Funktionalität Merkmale aufweisen, die im Einzelfall zur Einstufung der Software als Medizinprodukt führen und entsprechende regulatorische Vorgaben nach sich ziehen.
Digitale Prozesskette
AM ist nur ein Bestandteil einer vollständig digitalen Prozesskette, die ihre Vorteile erst in Kombination mit digitalen Formerfassungs‑, Konstruktions- und Simulationsverfahren ausspielen kann. Einige Betriebe setzen zwar bereits heute bei unterschiedlichen Prozessschritten – vor allem bei der Formerfassung und der Konstruktion der Hilfsmittel – digitale Lösungen ein, ein vollständig digitalisierter Prozess existiert jedoch noch nicht.
Eine digitale Prozesskette wie in Abbildung 5 dargestellt muss einerseits alle neuartigen Aspekte des 3D-Drucks und existierende relevante Vorgaben wie z. B. die FDA-Leitlinie [13]13 berücksichtigen, erlaubt es aber auch, im Rahmen einer Softwareplattform regulatorisch anspruchsvolle Prozessschritte zu integrieren, mit deren Umsetzung einzelne Sanitätshäuser überfordert wären. Dazu gehören unter anderem die automatische parametrische Optimierung der Produktdesigns auf Basis der Patientendaten und die im Hintergrund ablaufende Simulation und Belastungsprüfung der entworfenen Hilfsmittel in Form eines „virtuellen Crashtests“.
Den Kernpunkt des „virtuellen Crashtests“ bildet eine in Bezug auf die vorgeschriebene Normprüfung mit messtechnischen Methoden validierte numerische Simulation, die in die Software integriert ist. Durch den Abgleich der entstandenen Simulationsergebnisse z. B. mit den Vorgaben einer existierenden Norm wird über die Zulässigkeit der Modifikation entschieden und so die Strukturfestigkeit des individualisierten Produkts sichergestellt. Dadurch gelingt es, die Anzahl der zeit- und kostenaufwendigen physikalischen Prüfungen zu minimieren.
Eine Normprüfung ist dann nur an einem „Worst-Case“-Prüfkörper durchzuführen, der anhand von kritischen Abmessungen, Konstruktionsmerkmalen und 3D-Druck-Parametern wie der Bauteilausrichtung definiert wird. Da der Plattformbetreiber für diese Schritte die Verantwortung übernimmt, müssen sich einzelne Nutzer der Plattform nicht damit auseinandersetzen. Die grundsätzliche Umsetzbarkeit dieser Herangehensweise konnte bereits in kleineren Projekten nachgewiesen werden. Ein großes Forschungsvorhaben, das die Abbildung der gesamten digitalen Versorgungskette zum Ziel hat, soll demnächst starten.
Fazit
Die zukünftigen Meilensteine auf dem Weg zum Masseneinsatz additiver Technologien in der Technischen Orthopädie sind vielfältig. Dazu gehören unter anderem die Erhöhung der Anzahl der zur Verfügung stehenden Materialien, die Klärung und Anpassung regulatorischer Vorgaben, die Festlegung einheitlicher Produktionsbedingungen und der Aufbau digitaler Prozessketten. Angesichts der dargestellten Vorteile ist es aber kaum vorstellbar, dass die additiven Verfahren in der Technischen Orthopädie in Zukunft keinen festen Stellenwert besitzen werden.
Der Autor:
Prof. Dr.-Ing. David Hochmann
Fachhochschule Münster
Fachgebiet Biomechatronik und medizinische Messtechnik
Stegerwaldstraße 39, 48565 Steinfurt,
david.hochmann@fh-muenster.de
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