Grundlagen der digitalen Fertigung
Den Auftakt der Veranstaltung machte Prof. Dr. Martin Eisemann von der Universität Braunschweig. Er gab einen Überblick über die Grundlagen der Scan-Technologien. Dies geschah sehr detailliert, aber auch sehr gut nachvollziehbar, sodass die Zuhörer:innen anschließend einen guten Einstieg in diese Thematik hatten. Prof. Dr. Frank Lobeck, Universität Duisburg-Essen, brachte den Teilnehmenden die Grundzüge der CAD-Modellierung näher und gab auch einen spektakulären Einblick in seine universitäre Arbeit. Er zeigte einen Film von der Einfahrt eines CAD-modellierten Regionalexpresses in den Hörsaal, in den man zudem interaktiv „einsteigen“ konnte. In die additive Fertigung und Materialien führte Prof. Dr. Bilal Gökce, Lehrstuhl Werkstoffe für die Additive Fertigung an der Bergischen Universität Wuppertal, ein. Prof. Gökce beließ es aber nicht nur bei einer allgemeinen Einführung, er sprach auch direkt Empfehlungen – pulverbasierte additive Fertigung zu nutzen – für die Orthopädietechnik-Branche aus. Als Grund dafür nannte er die hohe mechanische Belastung auf den Bauteilen, die mit diesem Verfahren am besten zu bewältigen sei.
Digitale Orthopädie-Technik
Den Einstieg in die fachspezifischen Seminarvorträge machte Volker Junior, Geschäftsführer Phoenix GmbH, mit seinem Beitrag „Die digitale Prozesskette in der Orthopädietechnik“. Ergänzt wurde dieser Themenblock durch Christian Hartz, Eprotec, mit seinem Vortrag: „Die Rolle der Digitalen Fertigung in der orthopädietechnischen Praxis“. Aufgrund des Ausfalls von Makram Tebbis Vortrag „Automatisation als Antwort des Fachkräftemangels in der Orthopädie-Technik“ nutzten die beiden Referenten die Zeit aus, um ihre Themen detailreich vorzustellen.
3D-Druck trifft auf Glas
Ein Thema, das „wir so auch noch nicht auf dem Schirm“ hatten, wie Dr. Ann-Kathrin Hömme am Ende des Vortrags feststellte, nahm Prof. Dr. Bastian Rapp, tätig am Institut Mikrosystemtechnik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, in den Fokus – und zwar 3D-Druck von Glas. Laut Rapp verfügt Glas u. a. über eine hohe optische Reinheit, Transparenz und angenehme Haptik, ist langlebig und – enorm stabil. Letzteres sei aber auch von Nachteil: „Glas ist nicht ohne Weiteres gut zu strukturieren“, erläuterte Rapp. Aus diesem Grund hat das Freiburger Start-up Glassomer, zu dem Rapp gehört, eine Technologie entwickelt, die die positiven Materialeigenschaften von Glas mit den Verarbeitungstechniken von Polymeren kombiniert. Als Flüssigkeit können Glassomere wie ein klassischer Kunststoff mittels 3D-Druck geformt werden, eine Wärmebehandlung verwandelt das Bauteil anschließend in hochwertiges Quarzglas. „Das Schöne bei dem Verfahren ist, man kann die Eigenschaften des Glases sehr weit einstellen. Man hat an verschiedenen Stellen die Möglichkeit, Fremdstoffe in das Glas einzubringen“, so Rapp.
Antonius Köster, Geschäftsführer der Antonius Köster GmbH, stellte Vor- und Nachteile einzelner Scanner in der Praxis vor. Dafür griff er einige Fallbeispiele aus seinem beruflichen Alltag auf und erklärte anhand derer, wie innerbetriebliche Entscheidungsprozesse für die Auswahl von Scannern ablaufen. Den „perfekten Scanner“ gibt es laut Köster nicht, sondern immer nur den passenden Scanner für den jeweiligen Betrieb und deren Einsatzgebiet. In seinem zweiten Vortrag präsentierte Köster zudem verschiedene Modellier-Softwares für die Anwendung in der Orthopädie-Technik.
Ressourceneffizienz: Fertigungsverfahren im Vergleich
Wie ressourceneffizient ist die additive Fertigung? Dieser Frage ging Manuel Weber vom VDI Zentrum Ressourceneffizienz auf den Grund. Als Beispiel zog er die vom Bundesumweltministerium beauftragte und 2019 vom VDI veröffentlichte Studie „Ökologische und ökonomische Bewertung des Ressourcenaufwands – Additive Fertigungsverfahren in der industriellen Produktion“ heran. Darin wurde untersucht, wie sich das additive Verfahren im Vergleich zum konventionellen hinsichtlich der Serienfertigung einer Dämpfergabel (Bereich Automotive) verhält. „Additive Fertigung ist nicht die alleinige Technologie. Es gibt Bereiche, wo die konventionelle Bestand hat und additive Verfahren in Ergänzung benutzt werden können“, schlussfolgerte Weber aus den Ergebnissen der Studie. Zudem könnten additive Fertigungsverfahren durch Innovationen optimiert und so weitere bzw. neue Anwendungsfelder erschlossen werden. Dadurch sei es möglich, konventionelle Verfahren im Schnittmengenbereich beider Technologien ressourceneffizient zu ersetzen. Deutlich machte Weber aber auch: „Wir haben versucht, mit dieser Studie einen kleinen Einblick zu geben, wie man eine Bewertung vornehmen kann und was es dafür braucht, um beurteilen zu können, welche Auswirkungen die Fertigungsverfahren haben können.“ Generelle Aussagen würden sich aus der Studie nicht ableiten lassen. Weber schlug anschließend die Brücke zum Bereich OT und stellte mögliche ökologische Auswirkungen des 3D-Drucks vor – vom Druckprozess über ‑materialien und Anwendungen bis hin zu Design- und Produktionsfreiheit.
Eine Neuheit präsentierte Prof. Dr. Joris Pascal, Dozent für Life Science Technologies an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Unter dem Titel „Haptisches Scannen“ zeigte er ein intelligentes Textil, das als Alternative zum Gips bei Orthesen am Fuß eingesetzt werden kann. Durch das Anlegen des Textils und die direkte Übertragung des Scans spart man sich den Schritt, den Gips noch einzuscannen. Außerdem sei die Methode viel sauberer und schneller, erklärte Prof. Pascal im Vortrag. Jens Volkmar, Ottobock, erklärte in seinem Vortragsteil, wie die Raumausstattung der digitalen Werkstatt auszusehen habe. Dabei wurde ganz praxisnah eine Modelleinrichtung gezeigt, wie ein Raum für die Patient:innen gestaltet werden sollte, in dem der Scan vorzunehmen ist. Auf die in der Diskussion gestellte Frage, wie groß so ein Raum minimal sein sollte, antwortete Volkmar: „So sechs Quadratmeter sollten reichen. Das ist zwar sehr eng, aber mit einer Liege, dem Scanner und einem Laptop wäre es zu realisieren.“ In der Idealausstattung dagegen ist mehr Platz eingeplant und vor allem auch ein Computerarbeitsplatz mit Schreibtisch, der das Arbeiten erleichtert.
Einen „doppelten“ Christian Kienzle, Geschäftsführer der Pohlig GmbH, erlebten die digitalen Teilnehmenden. Um technischen Problemen vorzubeugen, hatte Kienzle seinen Vortrag nämlich bereits zuvor aufgenommen und stand anschließend zu der Thematik der Positionierungshilfen „live“ parat, um Fragen zu beantworten.
Blick in die Gegenwart
Zahlreiche Praxisbeispiele zum Status quo der Digitalisierung in der Orthopädie-Technik wurden vorgestellt. Welchen Stellenwert die Konstruktion in der digitalen Fertigung hat, stellte Lisa Pabst vom Sanitätshaus Klinz vor. Dabei warb Pabst dafür, auch einmal neue Wege zu gehen und offen zu bleiben. Exemplarisch stellte sie zwei Versorgungen vor, bei denen Patient:innen eine Prothese gefertigt wurde, die gerade vom Design völlig von der Norm abwich. „Diese sind natürlich nicht vom Kostenträger übernommen worden“, gab sie zu, ergänzte jedoch: „Für uns war es aber auch wichtig, einmal etwas Neues auszuprobieren und Erfahrungen zu sammeln.“ Gerade diese Erfahrungen seien anschließend bei neuen Herausforderungen in der Konstruktion wertvoll.
Einen spannenden Einblick in die Fertigung von Sitzschalen lieferte OTM Fabian Thies, OT-Kiel. Er nahm die Zuschauenden Schritt für Schritt mit auf die „Fertigungs-Reise“ von der Abdrucknahme über den Scan und Konstruktion bis zum anschließenden Produktionsprozess, bei dem ein Fräsroboter neben dem Handwerk zum Einsatz kam. Mit viel Liebe zum Detail wurde die Produktion der Sitzschalen vorgestellt und begleitet. Vor allem die Vorteile in der digitalen Bearbeitung des Scans und der anschließenden Übergabe an den hauseigenen Fräsroboter stellte Thies vor. Besonders anschaulich wurde der Vortrag auch, weil der Referent mittels Videosequenzen aus dem Betrieb den „Alltag“ näherbringen konnte und so einen Einblick in einen Teilbereich der Orthopädie-Technik gewährte, den nicht jeder aus seinem Unternehmen kennt.
Ganz praktisch wurde auch der Beitrag von Eva Jungbluth, Servicefertigung Kremser, die verschiedene Materialien in der additiven Fertigung für die Orthopädie-Technik aus ihrem Arbeitsalltag präsentierte und dabei Vor- und Nachteile der einzelnen Komponenten benannte.
Individuelle Einlagen aus dem Drucker
Welche Vorteile die Kombination verschiedener Strukturen für die Einstellung der Steifigkeit mit sich bringen kann, erklärte Volker Junior in seinem zweiten Vortrag am Beispiel des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts LAUF, kurz für „Lasergestützter Aufbau von kundenindividueller Fußbekleidung“. „Zielsetzung war es, für eine diabetische Bettung eine Alternative zu schaffen, die rein additiv arbeitet und alle mechanischen Eigenschaften bereitstellt, die man dafür benötigt“, erläuterte Junior die Hintergründe. Mit Erfolg: „Wir haben es geschafft im Rahmen des Projekts die vorgegebenen Schäume so gut nachzumodellieren, dass wir damit zuverlässig strukturbasierte Einlagen lasersintern konnten, die für die Patientenversorgung geeignet waren, und zwar sowohl für die funktionale lokale Bettungspassung als auch die globale Gewichtsanpassung.“
Großvolumige additive Fertigungstechnologien
Lukas Eckhardt, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena, präsentierte vorläufige Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt zu Integrationsmöglichkeiten von großvolumigen additiven Fertigungstechnologien in Prozessketten der Orthopädie-Technik, das in Zusammenarbeit mit dem Thüringer Sanitäts- und Gesundheitshaus Carqueville durchgeführt wird. Zunächst stellte Eckhardt vor, wie großvolumiges Schmelzschichten funktioniert und welche Vor- und Nachteile dieses Verfahren mit sich bringt. „Gerade im Bereich Orthopädie-Technik gibt es viele Anwendungen, die große Bauteile erfordern. Herkömmliche Technologien kommen da schnell an ihre Grenzen“, so Eckhardt. Da großvolumige Verfahren gröber und schneller arbeiten würden und die Bauteile weniger fein aufgelöst seien, sei später jedoch eine Nachbereitung durch verschiedene abtragende, auftragende sowie umformende Finishing-Verfahren notwendig, auf die Eckhardt einzeln näher einging. Aus der Kombination der Finishing-Verfahren mit großvolumiger additiver Fertigung sollen in dem Forschungsprojekt in einem nächsten Schritt konkrete Prozessketten abgeleitet werden.
Dr. Ann-Kathrin Hömme zog am Ende des Seminars ein positives Fazit. Den Referent:innen sei es gelungen, die Brücke von den Grundlagen bis hin zur konkreten Anwendung zu schlagen und sowohl den Ist-Zustand abzubilden als auch den Blick in die Zukunft zu wagen. „Ich nehme aus diesen beiden Tagen mit, dass das Thema ‚digitale‘ Fertigung absolut präsent ist, einer stetigen Weiterentwicklung unterliegt und der Blick ‚out of the box‘ notwendiger denn je ist, um das Potential dieses zusätzlichen Werkzeugs auch für sich konstruktiv nutzen zu können.“
Heiko Cordes und Pia Engelbrecht
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