OT: Herr Hesse, die Anbieter Meevo/Craftsoles und Getsteps werben schon längere Zeit mit einer Einlagenversorgung, die handgefertigt von „erfahrenen Orthopädietechniker:innen“ sei. Ein wirklicher Aufschrei der Branche kommt aber erst jetzt. Warum?
Alexander Hesse: Der große Unterschied liegt in der ärztlichen Verordnung. Denn damit befinden wir uns im Bereich der medizinischen bzw. orthopädischen Einlagen. Hierfür haben Ärzt:innen eine deutliche Fehlstellung des Fußes festgestellt, die zu gesundheitlichen Schäden führt, sofern sie nicht durch Orthopädie(schuh)techniker:innen mittels einer Einlagenversorgung korrigiert wird. Die gefertigte Einlage muss demnach eine therapeutische und korrigierende Wirkung eines diagnostizierten Krankheitsbildes sicherstellen. Bleibt der Fuß in seiner Fehlstellung, entstehen oder verschlimmern sich Beschwerden. Daher übernimmt die Krankenkasse hier die Kosten für die medizinische bzw. orthopädische Einlagenversorgung.
OT: Im Unterschied zur Versorgung mit Sporteinlagen zum Beispiel?
Hesse: Ja, denn die Fertigung von Sporteinlagen für gesunde Freizeit- oder Spitzensportler:innen – um dieses Beispiel aufzugreifen – ist etwas grundsätzlich anderes. Dabei geht es nicht um die Korrektur einer Fehlstellung. Viele Sportler:innen möchten ihren Füßen etwas Gutes tun und geben viel Geld für entsprechendes Schuhwerk sowie die passenden Einlagen aus, um die Füße unter besonderen Belastungen zu schonen. Das Angebotsspektrum ist hier sehr breit – vom Sportfachgeschäft bis zur Kaffeerösterei Tchibo sind in diesem Markt Anbieter vertreten. Nicht zuletzt können Freizeitsportler:innen von den Erfahrungen und Kenntnissen der orthopädietechnischen Betriebe und Sanitätshäuser profitieren, die sich mit der Versorgung von Fußproblemen auskennen sowie entsprechende Messverfahren beherrschen. Wichtig ist nur, dass Verbraucher:innen wissen, dass es sich bei Sporteinlagen nicht um eine medizinische bzw. orthopädische Einlagenversorgung handelt.
OT: Hier wurde jetzt also eine Grenze zwischen diesen Bereichen überschritten?
Hesse: Ja, diese Grenze haben Meevo und die Barmer nun klar überschritten. Unter dem Namen E‑Versorgung wird ein Konzept verfolgt, das ernste Krankheitsbilder und Fehlstellungen versorgen möchte, ohne auch nur die Mindeststandards einzuhalten, die für die Versorgung mit Medizinprodukten gelten. Das geht zu weit, denn eine mangelhafte Versorgung kann gesundheitliche Schäden nach sich ziehen. Das lassen wir nicht zu.
Kritik von Experten
OT: Die Barmer Ersatzkasse ist mit rund neun Millionen Versicherten eine der größten Krankenkassen. Sie hat bereits einen Vertrag mit Meevo/Craftsoles über eine sogenannte E‑Versorgung mit „orthopädischen Einlagen“. Zudem sondiert die Techniker Krankenkasse (TK) gerade über eine Vertragsankündigung den Markt. Gemeinsam kommen diese Krankenkassen auf etwa 20 Millionen Versicherte – das sind gut 25 Prozent der gesetzlich Versicherten in Deutschland. Warum gehen Sie davon aus, dass die Krankenkassen ihren Versicherten mit einer solchen E‑Versorgung nichts Gutes tun?
Hesse: Ich bin Jurist und kein Mediziner oder Orthopädie(schuh)techniker. Daher verlasse ich mich auf die Aussagen der medizinischen Fachgesellschaften und die Expertise von Fachverbänden, welche die Qualität einer bestimmten Versorgung einschätzen und begutachten können. Inzwischen liegen nicht nur Stellungnahmen der Ärzteschaft, sondern auch verschiedener anderer unabhängiger Institutionen vor, denen ich die Kompetenz zum Urteil über Versorgungsqualität zweifellos zuspreche. Sämtliche Stellungnahmen kommen zu dem Ergebnis, dass diese E‑Versorgung ein erhebliches Risiko für Patient:innen darstellt und weder auf dem Stand der Technik ist noch die gesetzlichen Qualitätsanforderungen erfüllt, an denen sich Leistungserbringer in der stationären Versorgung jederzeit messen lassen müssen. Wenn die beiden Ersatzkassen dies vorher nicht gewusst haben sollten – jetzt wissen sie es.
OT: Haben Sie bzw. der BIV-OT mit weiteren Krankenkassen über dieses Thema gesprochen?
Hesse: Ja, wir haben mit anderen Krankenkassen gesprochen. Diese sehen die E‑Versorgung sehr kritisch und distanzieren sich klar davon. Aus rechtlicher Perspektive lässt sich festhalten, dass hier auf zahlreichen Ebenen gegen gesetzliche Regelungen verstoßen wird. So ist die E‑Versorgung unter anderem nicht mit dem Hilfsmittelverzeichnis, der Hilfsmittel-Richtlinie, dem Handwerksrecht, der kürzlich in Kraft getretenen europäischen Medizinprodukte-Verordnung (Medical Device Regulation, MDR) und nicht mit dem Wettbewerbsrecht vereinbar.
Rechtliche Schritte einleiten
OT: Als Justiziar des BIV-OT vertreten Sie die Interessen von Sanitätshäusern und orthopädietechnischen Betrieben. Die meisten dieser Häuser versorgen ebenfalls mit Einlagen. Wie werden Sie gegen die E‑Versorgung vorgehen?
Hesse: Barmer und TK haben uns und unsere Betriebe in eine Situation gebracht, in der wir rechtliche Schritte einleiten müssen – sofern die E‑Versorgung nicht aus dem Verkehr gezogen wird. Wir haben derzeit einen Vertrag mit beiden Krankenkassen über den Bereich Orthopädie-Technik. Hierzu zählt ebenso die Versorgung mit Einlagen. Wir haben gemeinsam mit den Krankenkassen wirklich sehr viel Aufwand betrieben, um in diesem Vertrag die Qualität der Versorgung messbar zu machen. Damit wurde für die knapp 20 Millionen Versicherten ein sehr guter Versorgungsstandard definiert. Wir sind daher nicht nur den Versicherten gegenüber verpflichtet, hier einzuschreiten. Genauso müssen wir eine Benachteiligung jener Marktteilnehmer bekämpfen, die sich gewissenhaft an die rechtlichen Rahmenbedingungen halten. Die uns bekannte E‑Versorgung ist ob ihrer Unvereinbarkeit mit den gesetzlichen Vorgaben keine Option für unsere Betriebe. Das haben wir auch der Barmer und Techniker gemeldet. Wir können und dürfen aufgrund der rechtlichen Bewertung deshalb kein Vertragsangebot aussprechen. Würden die Betriebe einem solchen Vertrag beitreten, dann würde dies für sie die Gefahr bergen, sich rechtsbrüchig zu verhalten. Diesen Zustand halten wir für untragbar.
OT: Steht der BIV-OT mit seiner rechtlichen Einschätzung allein – oder wird diese von anderen Organisationen des Fachs geteilt und es gibt eine gemeinsame Vorgehensweise?
Hesse: Wir befinden uns in sehr engem Austausch mit den anderen Verbänden und Vertreter:innen. Die Situation bewegt uns ja alle und wirft grundlegende Fragen in unserem Fach auf. Denn wie ist es möglich, dass eine Krankenkasse alle Qualitätsstandards von einem Tag auf den anderen über Bord wirft? Wir kennen TK und Barmer eigentlich als faire Vertragspartner, die eine hohe Qualität der Versorgung für ihre Versicherten wünschen. Wir diskutieren die rechtlichen Fragen ebenfalls zwischen den Verbänden. Es gibt diesbezüglich einen regen Austausch von Ansichten und Argumenten. Sonst tritt ja oft die Situation ein: mehrere Juristen, noch mehr Meinungen. Deshalb finde ich unsere Einigkeit in diesem Fall wirklich sehr bemerkenswert. Entsprechend gut aufgestellt sind wir.
Innovationen ausgebremst
OT: Für rechtliche Schritte braucht es meist einen langen Atem. Haben Sie den?
Hesse: Ja, ein langer Atem ist vonnöten. Insgesamt ist die Situation für viele Betriebe nicht zufriedenstellend und sorgt für einen beträchtlichen Schaden. Meevo/Craftsoles bringen zusammen mit der Barmer sicherlich beträchtliche Beträge in die Bewerbung ihres Rezept-Geschäftes ein, die sie in Social-Media-Kanäle etc. pumpen. Noch mehr PR-Geld wird beispielsweise in Awards gesteckt. Das spricht Kund:innen an, die sich in Sicherheit wiegen. Denn wenn mit dem Logo einer Krankenkasse geworben wird, suggeriert das Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Nicht zuletzt ärgert es viele Betriebe massiv, dass durch diese Art E‑Versorgung die eigentliche Digitalisierung massiv ausgebremst wird, die ja tatsächlich einen Fortschritt in der Versorgung abbildet.
OT: Wie meinen Sie das?
Hesse: Die Patient:innen nehmen zum Beispiel eine Selbstvermessung per Kohleabdruck vor. Doch wenn wir heute von Innovationen bei Messverfahren sprechen, dann reden wir von digitaler Pedografie! Neben der Klärung des weiteren Vorgehens auf rechtlicher Ebene werden daher Strategien entworfen, wie man die Öffentlichkeit darüber informiert, dass diese Art der Versorgung weder fortschrittlich noch „digital“ ist. Wir wollen die Warnungen der Fachverbände zu den Verbraucher:innen bringen.
Die Fragen stellte Michael Blatt.
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