Epidemiologie/Prävalenz von Vorfußbeschwerden
Fußschmerzen zählen zu den häufigsten Beschwerden in der orthopädischen Versorgungspraxis und nehmen mit ansteigendem Alter der Patienten zu. Etwa 33 % der Bevölkerung im Alter von über 65 Jahren haben regelmäßig Fußschmerzen, die negative Auswirkungen auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität der Patienten haben. Dabei treten Beschwerden am häufigsten im Bereich des Vorfußes auf 12.
Im klinischen Kontext von Vorfußschmerzen trifft man häufig auf den Begriff der Metatarsalgie. In Wirklichkeit handelt es sich dabei um einen sehr weit gefassten Begriff, der eine Reihe klinischer Situationen verschiedener Ätiologie einbezieht. In der Regel wird der Begriff der Metatarsalgie bei akuten oder chronischen Schmerzen in Bezug auf ein Metatarsophalangealgelenk (MTP) oder mehrere Metatarsophalangealgelenke (MTPs) verwendet. Die Schmerzen werden durch Schädigung (gleichgültig ob mechanischen Ursprungs oder aufgrund anderer Ursachen) der anatomischen Gelenkstrukturen (Knochen, Knorpel, Kapseln und Bänder, Gefäße, Nerven, Sehnen, Schleimbeutel, Unterhautgewebe und Haut) hervorgerufen. Die exakte Identifizierung der Schmerzen und ihrer Ursachen ist für eine adäquate Versorgung der individuellen Beschwerden des betroffenen Patienten notwendig, aber auch meist schwierig 34. Darüber hinaus stellen Fußschmerzen bei älteren Patienten einen großen Risikofaktor für die Entwicklung von Bewegungs- und Gleichgewichtsstörungen während alltäglicher Aktivitäten und ein erhöhtes Sturzrisiko für die Betroffenen in der Altersgruppe ab 70 Jahren dar 56.
Versorgungsziele der TO respektive der Orthopädie-Schuhtechnik
Mit den einzelnen orthopädieschuhtechnischen und orthopädietechnischen Hilfsmitteln – z. B. orthopädischen Einlagen (Fußorthesen), orthopädischen Schuhzurichtungen und orthopädischen Konfektions- und Maßschuhen – müssen für eine zielgerichtete und adäquate Versorgung spezielle Versorgungsziele verfolgt und umgesetzt werden. Klassisch würde man die Versorgungsziele wie folgt unterteilen:
- Entlastung: Ein grundsätzliches und elementares Versorgungsziel bei unterschiedlichen orthopädischen, aber auch systemischen Erkrankungen ist Entlastung. Im Kontext von Vorfußbeschwerden wird dieses Ziel durch unterschiedliche belastungsreduzierende Maßnahmen in der täglichen Praxis wie Polsterungen, Profilierungen (Bettung, Tief- oder Hochlegung), die Optimierung von Hebelverhältnissen (Position der Scheitelpunkte bei Rollen) und veränderte Widerstandsmomente (versteifende Maßnahmen) umgesetzt. Versorgungsbeispiele sind retrokapitale Erhöhungen wie Pelotten, Tieflegung der Mittelfußköpfchen, unterschiedliche Vorfußpolster (auf Einlagen oder als Schuhzurichtung), Sohlenrollen zur Reduzierung des Vorfußhebels und nicht zuletzt diabetesadaptierte Fußbettungen in Kombination mit den dafür geeigneten Schuhen 7.
- Unterstützung (Stabilisierung): Mit dem Begriff der Unterstützung werden verschiedene Maßnahmen zusammengefasst, die der Reduktion, Korrektur oder dem Stützen einer Deformität, der Kontrolle (Reduktion oder Erhalt) der Ausrichtung eines Gelenkes und der Kontrolle (Reduktion oder Erhalt) des Bewegungsausmaßes eines Gelenks dienen. Beispiele aus der Praxis bezogen auf Vorfußbeschwerden und ‑pathologien sind im Einlagenbereich unter anderem retrokapitale Erhöhungen wie Pelotten, Vorfuß-Pronationskeile, Rigidus-Federn oder andere bewegungseinschränkende Maßnahmen und bei orthopädischen Schuhen (Maß oder Konfektion) und Schuhzurichtungen unter anderem verschiedene Sohlenrollen, sogenannte Sohlenversteifungen 8.
- Ruhigstellung: Eine Ruhigstellung kann nur über die Kombination von optimaler Stützung und exaktem Formschluss zwischen Hilfsmittel und Extremität erreicht werden. Umgesetzt wird dieses Ziel unter anderem bei Feststellabrollschuhen oder Zwei-Schalen-Orthesen 9.
- Stimulation: Mittels sensomotorischer Fußorthesen wird über Elemente, die eine Druckerhöhung (Reiz) in spezifischen plantaren Fußarealen hervorrufen, das Versorgungsziel der Stimulation verfolgt. Beispielsweise soll eine Tonusminderung von Muskeln über die Applikation eines Drucks zur Aktivierung von Golgi-Sehnen-Reflexen und die autogene Hemmung des Zielmuskels hervorgerufen werden. Die beugeseitige plantare Zehenmuskulatur ist hierbei gut adressierbar 10.
Grundsätzlich werden in der orthopädischen Praxis verschiedene der oben erwähnten Versorgungsziele in Kombination verfolgt. Für die Umsetzung einer adäquaten Versorgung gilt aber, sich darüber bewusst zu sein, mit welchen Komponenten oder welchen Konstruktions- und Fertigungsdetails eines Hilfsmittels ein Ziel adressiert werden kann.
Biomechanische Belastung und Beanspruchung
Wenn man von Entlastung im Kontext orthopädischer Versorgungsziele spricht, ist es zwingend notwendig, die externen Belastungen, die während alltäglicher und sportlicher Aktivitäten auf die menschlichen Bewegungssysteme einwirken, zu kennen, um dann mit dem jeweiligen Hilfsmittel in der Versorgung auf die individuelle Belastbarkeitssituation der Patienten zielgerichtet eingehen zu können. Die Bodenreaktionskraft (BRK) ist die typische externe Belastung, die durch die Interaktion von Mensch und Boden auf den Körper wirkt. Der vertikale BRK-Anteil ist im Vergleich zur anterior/posterior und medio-lateral gerichteten Komponente am stärksten ausgeprägt 11 (Abb. 1).
Aus der Größe der BRK und ihrem Abstand zu den jeweiligen Gelenkdrehpunkten ergibt sich während der Bewegung eine weitere externe Belastungsform, die auf die harten und weichen Strukturen vor allem der unteren Extremitäten wirkt: das Drehmoment. Drehmomente haben bei Drehbewegungen die gleiche Rolle wie eine Kraft für geradlinige Bewegungen: Drehmomente beschleunigen oder bremsen Drehbewegungen von Körpern oder Teilkörpern um eine Drehachse, z. B. an den MTPs 12.
Aus den beschriebenen extern auftretenden Belastungsformen (Kraft und Drehmoment) resultieren in den einzelnen Strukturen des Bewegungssystems verschiedene Arten von Beanspruchungen. Kräfte, die z. B. senkrecht bezogen auf eine Belastungsfläche wirken, erzeugen als Beanspruchungsform Druck. Beanspruchungen, die durch Kräfte hervorgerufen werden, die tangential zur Belastungsfläche wirken, werden als Schub- oder Scherbeanspruchungen bezeichnet. Biege- oder Torsionsbeanspruchungen resultieren aus den auftretenden Drehmomenten, d. h. aus Kräften und deren senkrechten Abständen zu den Drehpunkten. Drehmomente sind somit für die Verbiegung (Biegemoment) oder Verwindung (Torsionsmoment) von Strukturen maßgeblich 13.
Bisher lassen sich in der täglichen Praxis Druck‑, Biege- und Torsionsbeanspruchungen z. B. mittels Innensohlensystemen zwischen den unteren Extremitäten und den Hilfsmitteln erheben 14. Druckmesssysteme haben in den letzten Jahren eine weite Verbreitung in der täglichen Praxis gefunden und werden zur Überprüfung verschiedener druckreduzierender oder ‑umverteilender Hilfsmittel eingesetzt. Relativ neu sind Biege- und Torsionsmessungen mittels Innensohlensystemen. Dawin und Kollegen zeigen in ihrem Artikel von 2016 das breite Spektrum von Anwendungsfeldern dieses Systems auf 15. Ergebnisse plantarer Druckmessungen bei gesunden Personen, aber auch bei Patienten mit unterschiedlichen orthopädischen Beschwerdebildern am Vorfuß zeigen, dass die höchsten Druckbeanspruchungen im Vorfußbereich in der späten Standphase auftreten 16171819 (Abb. 2).
Betrachtet man die Biege- und Torsionsbeanspruchungen, so sieht man, dass die höchsten Beanspruchungen an den MTPs (Dorsalextension und Innenrotation) zum Ende der Standphase auftreten und die MTPs eine Wechselbelastung in zwei Ebenen (Plantarflexion vs. Dorsalextension; Außenrotation vs. Innenrotation) erfahren 2021. Die Interphalangealgelenke hingegen erfahren eine Dorsalextensions- und Innenrotationsbeanspruchung über die gesamte Standphase (Abb. 3).
Auch wenn die Beanspruchungen auf den ersten Blick ähnlich erscheinen, sind sie völlig verschieden und nicht durch die andere zu ersetzen. Einerseits ist beim Druck die Beanspruchung senkrecht zur Belastungsfläche gerichtet, wohingegen z. B. bei der Biegebeanspruchung die Belastung (Kraft) an der sogenannten Randfaser tangential ausgerichtet ist. Vergleicht man andererseits den zeitlichen Verlauf z. B. während des Gangzyklus, so sieht man auch hier ganz deutlich die Unterschiede (Abb. 4): Der plantare Druck an den unterschiedlichen Regionen des Vorfußes steigt von Beginn der Standphase kontinuierlich an und erreicht das Maximum bei ca. 50 % des Gangzyklus 22. Betrachtet man den Biegebeanspruchungsverlauf z. B. an MTP I, so erkennt man zunächst eine Abnahme, d. h. eine Beanspruchung in Plantarflexionsrichtung, die dann in der späten Standphase in eine Dorsalextensionsbeanspruchung wechselt und ihr Maximum bei ca. 60 % des Gangzyklus erreicht 23.
Biomechanische Aspekte im Kontext der Umsetzung von Versorgungszielen
Beachtet man Obengenanntes und wendet die biomechanischen Kriterien im Zusammenhang der Umsetzung orthopädieschuhtechnischer und orthopädietechnischer Versorgungsziele in der Praxis an, so lässt sich dies an zwei einfachen, aber aussagekräftigen Versorgungsbeispielen beschreiben.
Beispiel 1: Versorgung mit retrokapitalen Abstützungen
Indikationen für eine Versorgung mittels retrokapitaler Abstützungen sind verschiedene Formen der Metatarsalgie wie flexible, bewegliche Spreizfüße, Hallux valgus und Hammer- oder Krallenzehen. Kontraindikationen für retrokapitale Abstützungen wie Pelotten sind alle kontrakten und versteiften Vorfußdegenerationen und das Diabetische Fußsyndrom. Mit retrokapitalen Abstützungen werden im Wesentlichen folgende Versorgungsziele angestrebt:
- das Anheben der Mittelfußköpfchen II bis IV (MFK II–IV) oder anderer sogenannter durchgetretener Areale,
- die Entlastung überbeanspruchter, schmerzhafter Bereiche des Mittelund Vorfußes 24 und
- beim Einsatz retrokapitaler Elemente auf sensomotorischen Fußorthesen die Detonisierung der Zehenbeugemuskulatur und der Plantarfaszie 25.
Bisher gibt es keinen wissenschaftlichen Nachweis, der den Einfluss retrokapitaler Abstützungen auf die Vorfußkinematik, z. B. Verhinderung des Absinkens der MFK II–IV, belegt 26. In verschiedenen Studien konnte aber gezeigt werden, dass retrokapitale Elemente den Vorfuß bei Metatarsalgie durch eine Druckreduktion entlasten 2728. Somit kann unter Berücksichtigung des Stands des aktuellen Wissens festgestellt werden, dass das nachweisbare Versorgungsziel retrokapitaler Elemente die Entlastung ist und dass die Unterstützung bisher nicht nachgewiesen wurde. Beim Einsatz retrokapitaler Elemente ist unter anderem die richtige Positionierung zu beachten. In den oben erwähnten Arbeiten konnte auch gezeigt werden, dass mit der klassischen Positionierung (5 mm proximal der MFKs) die besten Ergebnisse erzielt werden (Abb. 5).
Bei der Versorgung von Vorfußbeschwerden ist auch auf die Rückfußstellung zu achten, da es einerseits einen Zusammenhang von Rückfußstellung und Vorfußbeschwerden gibt 29; andererseits haben Vorfußbeschwerden wie Hallux valgus oder Metatarsalgien Einfluss auf die Fußstabilisierung in der späteren Standphase 30.
Beispiel 2: Versorgung mit Ballenrollen
Einsatz findet die Ballenrolle in der orthopädieschuhtechnischen Praxis bei den unterschiedlichsten Beschwerden am Vorfuß. Typische Indikationen sind Hallux valgus, Hallux limitus und rigidus, Metatarsalgie, Diabetisches Fußsyndrom und viele mehr. Betrachtet man die mit dieser Schuhmodifikation verfolgten Versorgungsziele, so stehen diese Ziele im Vordergrund:
- Erleichterung der Fußabrollung und Zehenablösung während des Schrittzyklus,
- Entlastung des Mittelfußbereichs,
- Reduzierung der Vorfußbeanspruchung am Ende der Standphase,
- Kürzen des Vorfußhebels und
- Verringerung der Dorsalextension an den MTPs zum Ende der Standphase.
Geht man nun einen Schritt weiter und überlegt, welche biomechanischen Größen durch Ballenrollen hauptsächlich beeinflusst werden sollen, um die Versorgungsziele adäquat umzusetzen, so gelangt man schnell zu Veränderungen der Drehmomentbelastung an den MTPs (Abb. 6). Wie oben erwähnt sind Drehmomente die Ursache von Drehbewegungen, physikalisch beschrieben als Produkt aus Kraft und senkrechtem Hebelarm, und die Belastung, die zu Biegebeanspruchungen, d. h. Verbiegungen, führt. All dies findet sich in den Formulierungen der Versorgungsziele von Rollentechniken wieder, z. B. „Kürzen des Vorfußhebels“ oder „Verringerung der Dorsalextension an den MTPs zum Ende der Standphase“. Betrachtet man nun Abbildung 6, so erkennt man, dass der Abstand d, d. h. der Hebelarm zwischen Gelenkdrehpunkt und Bodenreaktionskraftvektor, durch die Ballenrolle reduziert und somit das auftretende Moment um diesen Faktor verringert wird 31.
Wie wird dies nun in der Praxis umgesetzt? Durch einzelne wichtige, wenn auch oft banal erscheinende Konstruktionsmerkmale wie:
- die Position der Scheitelpunkte und der Winkel der Scheitellinie,
- die Sohlendicke,
- die Sohlenfestigkeit und
- die Stärke der Konvexität der Rolle 32.
Peikenkamp und Kollegen konnten mit ihrer RCT-Studie zeigen, dass die Biegebeanspruchung an MTP I nur durch die Umsetzung einer Ballenrolle und nicht durch die verfestigenden Eigenschaften des eingesetzten Materials hervorgerufen wird 33.
Will man die Wirkung und die Umsetzung der Versorgungsziele von Ballenrollen in der Praxis oder von Schuhen (orthopädischer Maßschuh oder Konfektionsschuh), die diese Modifikation als wesentlichen Bestandteil aufweisen, überprüfen, so muss man das dafür geeignete Werkzeug (Messsystem) einsetzen. Gleiches gilt in der orthetischen Versorgung der unteren Extremitäten: Bei einer adäquaten Orthesenversorgung muss ebenfalls eine optimale Abrollung gewährleistet sein und die Hebelverhältnisse von Vor- und Rückfuß angepasst und mit objektiven Messmethoden erfasst werden.
Fazit
Bei der Anwendung orthopädischer Hilfsmittel nach Festlegung und unter Beachtung der adäquaten und notwendigen Versorgungsziele und unter Berücksichtigung der richtigen biomechanischen Kriterien der Versorgung, die immer auf die individuellen Probleme bzw. Beschwerdebilder und Belastungssituationen der Patienten abgestimmt sein müssen, können unter den medizinisch notwendigen Voraussetzungen gute Ergebnisse in der Praxis erzielt werden. Vor dem Einsatz biomechanischer Messtechnik wie Druckmesssystemen oder Ähnlichem oder besser noch bei der Versorgungsplanung muss festgelegt werden, welche Messtechnik Anwendung findet und welche Messgrößen erhoben und interpretiert werden. Beides – die Auswahl der Messtechnik wie auch die Bestimmung der Messgrößen – muss sich an den umzusetzenden Versorgungszielen orientieren. Nur so kann die Umsetzung einer Versorgung auch und vor allem in der täglichen Praxis unter biomechanischen Aspekten zielgerichtet und effizient überprüft werden.
Biomechanische Betrachtungen und Messtechnik können und müssen die Ergebnisse in der Praxis verbessern. Essentielle Voraussetzungen hierzu sind einerseits der richtige Einsatz der richtigen Technik, die in ein gutes und schlüssiges Versorgungskonzept integriert sein muss, und andererseits Anwender, die über das notwendige Know-how und die Bereitschaft verfügen, Zeit in ein gutes Versorgungsergebnis zu investieren. Wichtig ist bei allen wirtschaftlichen, theoretischen und biomechanischen Überlegungen und dem Einsatz von Technik, den individuellen Patienten nicht aus den Augen und Händen zu verlieren. Kurzum: Versorgungsziele und ‑kriterien individuell und kompetent festzulegen und zu überprüfen schafft Sicherheit und Klarheit.
Der Autor:
Dipl.-Ing. Thomas Stief
Justus-Liebig-Universität Gießen
Institut für Sportwissenschaft
Kugelberg 62
D‑35394 Gießen
thomas.stief@sport.uni-giessen.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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