Mehr als 80 Teilnehmer:innen verfolgten die Online-Veranstaltung via Zoom und beteiligten sich mit Fragen und Anmerkungen an der Diskussion, die Michael Blatt, Programmleiter im Verlag OT, moderierte. Die beiden Schriftleiter des Kompendiums OSM Michael Möller, Geschäftsführer Möller Orthopädie-Schuh-Technik, und Dr. Hartmut Stinus, Orthopäde und Unfallchirurg Orthopaedicum Northeim, gewährten einen Einblick in den Aufbau, die Inhalte und die Hintergründe zur Entstehung des im Oktober veröffentlichten Werks. Klare Linien in einem bislang chaotischen System von Indikationen, Versorgungskonzepten und Verordnungen zu schaffen – das sei die Motivation aller beteiligten Akteur:innen gewesen, so Möller. Nur kurz habe Stinus damals gezögert, als Möller ihn für die Mitwirkung am Kompendium gewinnen wollte. Und die sei arbeitsintensiver gewesen als anfangs gedacht, zahle sich nun aber aus. „Wir haben die Inhalte mit hoher Expertise aus den Bereichen Orthopädie-Schuhtechnik sowie medizinische Orthopädie und Unfallchirurgie aufgearbeitet und mit Literatur hinterlegt“, sagte Stinus. Insbesondere dort, wo wissenschaftliche Nachweise fehlten – wie zum Beispiel im Bereich sensomotorische Einlagen – haben die Autor:innen intensiv diskutiert, um auf einen Konsens zu kommen. „Ich glaube, wir haben etwas Gutes geschaffen“, ist Stinus überzeugt. Eine Bestätigung sehen die beiden auch in denen zum Großteil positiven Rückmeldungen. Bedenken gebe es aber auch, so Möller: „Je sauberer und härter wir einen Mindeststandard definieren, desto schwieriger ist es innovativ zu sein“. Möller machte in diesem Zusammenhang deutlich, dass das Kompendium „nicht einmal geschrieben und die nächsten hundert Jahre verbindlich“ sei, sondern den aktuellen Stand, die Basis, auf der weiter aufgebaut werden könne, abbilde. Perspektivisch sollen neue Technologien und damit neue Möglichkeiten der Versorgung ebenfalls berücksichtigt werden. Stinus rief dazu auf, Fragen und Anmerkungen an das Autorenteam weiterzugeben, damit diese im Expertengremium diskutiert und in einer erweiterten Auflage berücksichtigt werden können. „Wenn wir alle an einem Strang ziehen – die handwerkliche und die ärztliche Orthopädie – dann wird das Kompendium langfristig zum Standardwerk werden.“
Arbeit auf Augenhöhe
Mit Blick auf die gemeinsame Zusammenarbeit von Mediziner:innen und Orthopädieschuhmacher:innen hat sich laut OSM Michael Volkery, Geschäftsführer Technische Orthopädie Volkery, in den vergangenen Jahren viel getan. Über Jahrzehnte habe sich der Austausch intensiviert und nun arbeite man auf Augenhöhe und mit gegenseitigem Vertrauen. „Jetzt ist die große Kunst aus diesem Vertrauen einen Versorgungsalgorithmus zu machen, der auf beiden Seiten gelebt wird“, betonte Volkery. Eine transparente Versorgung – am Ende auch ein Gewinn für den Kostenträger. Für den OSM ist das Kompendium mit Blick auf die Ausbildung Gold wert, da es Ängste nimmt. „Passt die Verordnung zu dem, was ich vor mir habe? Da sind sich gerade jüngere Kollegen oft unsicher.“ Welche Versorgung die passende ist, könne nun mit einem Blick nachgeschaut werden.
„Versorgungsstandard Einlagen“ als Ergänzung
Als einen wichtigen Schritt für die Qualitätssicherung bezeichnete Dr. Annette Kerkhoff, Projektleiterin des Kompetenzzentrums Orthopädieschuhtechnik (KomZet O.S.T.), das Kompendium. Einen Beitrag dazu soll der „Versorgungsstandard Einlagen“ leisten, den eine Expertengruppe um Kerkhoff erarbeitet hat. Erstmals wurde dieser im Rahmen der „Versorgungswelt Einlagen“ auf der OTWorld 2022 vorgestellt. Bei der Entwicklung sei schnell deutlich geworden: Im Bereich der Prozessschritte einer Einlagenversorgung gibt es bislang keinen aktuellen veröffentlichten Standard. Aufbauend auf einem Prozess von OSM Thomas Stief wurde daher ein solcher Standard – mit den drei Hauptprozessschritten „Datenerhebung und Beratung“, „Herstellung der Versorgung“ sowie „Auslieferung und Versorgungskontrolle – entwickelt, der auf der OTWorld auf so großes Interesse stieß, dass dem Expertenteam eine Veröffentlichung unumgänglich schien. Den Versorgungsstandard sieht Kerkhoff als Ergänzung zum Kompendium. Während das Werk alle Bereiche der OST und alle am Prozess Beteiligten abdecke, sei der Versorgungsstandard kompakter und beziehe sich lediglich auf die Abläufe in den Betrieben. Das Ziel sei aber das gleiche: die Komplexität der Einlagenversorgung verdeutlichen. Auch wenn die Versorgungskontrolle bei den Ärzt:innen liege, sieht Kerkhoff die Notwendigkeit, ebenfalls den Techniker:innen das Wissen an die Hand zu geben, um vor Ort die Qualität der Versorgung verbessern zu können. Die relativ einfache Darstellung der Prozessschritte soll dabei eine Hilfe sein.
Gemeinsam die Studienlage verbessern
Ziel der Versorgungswelt war es auch, einen Überblick über die bislang dürftige Evidenzlage für verschiedene Indikationen zu liefern. „Das Thema Forschung wird bei uns in der Branche eher stiefmütterlich behandelt“, sagte Kerkhoff. „Die orthopädieschuhtechnische Versorgung in Deutschland gehört weltweit zu den qualitativ hochwertigsten. Das zeigt sich aber leider nicht in der wissenschaftlichen Studienlage. Das heißt, die meisten Studien im Bereich Einlagenversorgung kommen nicht aus Deutschland. Wir werden also mit Ergebnissen konfrontiert, die gar nicht Einlagen auf unserem Versorgungsstandard bewerten und dementsprechend die Wirksamkeit oder Nichtwirksamkeit von Einlagen belegen.“ Laut Kerkhoff ist es notwendig, dass die Branche gemeinsam randomisierte Kontrollstudien auf den Weg bringt und dabei Interdisziplinarität als Chance sieht, um Wissen und Ideen zu bündeln, und ebenso, dass die Branche Daten selbst erhebt. Dafür könnte beispielsweise der „Versorgungsstandard Einlagen“ genutzt werden. Für Kerkhoff wichtige Schritte, bei denen das Kompetenzzentrum tatkräftig unterstützen möchte.
„Der Vertrag wurde ausgesetzt und nicht beendet“
Auch Rechtsanwalt Nico Stephan, Geschäftsführer der OT-Innung Sachsen/Thüringen, sieht das Kompendium als Bereicherung für seinen beruflichen Alltag. „Ich finde es toll, dass jetzt ein Papier auf dem Tisch ist, an dem man sich auch als Jurist orientieren kann“, betonte er und bedauert, dass das Werk noch nicht vorlag, als es darum ging die Klage gegen das Versorgungskonzept der Barmer Ersatzkasse zur Online-Einlagenversorgung zu formulieren. Um den Sachverhalt bewerten zu können habe Stephan sich aus einer Vielzahl von Gesprächen mit Mediziner:innen und Orthopädieschuhmacher:innen mühsam selbst eine Leitlinie für die Versorgung zusammenstellen müssen. Für ihn ist das Kompendium „ein wunderbares Instrument“, auf das er bei weiteren Verstößen von Krankenkassen von nun an zurückgreifen könne.
Stephan gewährte beim Livetalk auch einen Blick auf den aktuellen Sachstand bezüglich der Verhandlungen zur Online-Einlagenversorgung. Ist das Thema vom Tisch? „Der Vertrag wurde ausgesetzt und nicht beendet“, verneinte Stephan. Mehrere Klagen von verschiedenen OT- und OST-Betrieben seien eingereicht worden und liegen mittlerweile gebündelt dem Sozialgericht in Berlin vor. „Wir werden die Verhandlungen bis zum Ende führen“, versicherte Stephan, auch im Falle eines negativen Urteils. Dann werde der Fall in die nächste Instanz gebracht. „Wir sind aber guter Dinge, dass wir mit unserer Argumentation durchdringen.“
„Der Fuß gehört in die Filiale und muss angeschaut werden“, so Stephan – da konnten die Gäste nur einstimmig nicken. Das Kompendium verdeutlicht die Notwendigkeit und gibt den Maßstab vor – zumindest den aktuellen. Für die Gäste steht außer Frage, dass es mehr evidenzbasierte Studien braucht, um den Versorgungsprozess weiter zu verbessern und das Kompendium fortzuschreiben. Ein Prozess, „da muss man sich keine Illusionen machen“, so Kerkhoff, der lange dauern wird. Der Schlüssel zum Erfolg – und das lebt sowohl die Arbeit am Kompendium als auch die Talkrunde vor – ist Interdisziplinarität, mit einem Austausch auf Augenhöhe.
In voller Länge ist der Live-Videotalk auf dem Youtube-Kanal des Verlags Orthopädie-Technik zu finden.
Pia Engelbrecht
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