Laut der Fachgesellschaften, darunter die Deutschen Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung (DGIHV), der Zentralverbandes für Orthopädieschuhtechnik (ZVOS) und die Vereinigung Technische Orthopädie der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) könne ein orthopädisches Hilfsmittel bei nicht fachgerechter Herstellung und Anwendung Gesundheitsschäden verursachen, wie es in der gemeinsamen Stellungnahme heißt. Zur sachgerechten Hilfsmittelversorgung seien die genaue Anamnese und Untersuchung der Patient:innen durch den verordnenden Arzt und auch den Techniker notwendig. „Auf Basis dieser Informationen erfolgt die Festlegung des zu korrigierenden funktionellen Defizites, die Auswahl des geeigneten Maß- und Modellverfahrens, die handwerkliche Herstellung sowie Abgabe und Kontrolle des Hilfsmittels. Nur so lassen sich die therapeutischen Möglichkeiten von Einlagen ausschöpfen und Gesundheitsschäden vermeiden.“
Fachgesellschaften sehen erhebliche Risiken
Ein Versorgungsweg ohne die individuelle Anpassung und Kontrolle eines Orthopädie(schuh)technikers führe zu einem erheblichen Risiko für die Patientensicherheit, so die Fachgesellschaften. Dies beginne bereits bei der Erfassung der Fußdaten (Maßnehmen), welche für die Patient:innen in der Regel eine völlige Überforderung darstelle. Sämtliche in der PG 08 aufgeführten Verfahren zur Erfassung der Fußdaten seien in der Abnahme durch Laien hoch fehleranfällig und müssten daher von Fachleuten durchgeführt werden. Teilweise sei es grundsätzlich unmöglich, dass Patient:innen bei sich selbst entsprechende Daten erheben, teilweise bedürfe es elektronischer Geräte. Diese wiederum sollten nur von Fachleuten bedient werden, damit verlässliche Ergebnisse daraus entstünden. „Die Fehler, die bei der laienhaften Durchführung des Fußabdruckes entstehen, sind im Nachhinein aber meist nicht korrigierbar und führen dabei unweigerlich zu schlechten Versorgungen“, schreiben die Fachgesellschaften in ihrer Stellungnahme. Zudem sei die Abgabe des Hilfsmittels mit individuell durchzuführender Therapieerfolgsprüfung ein weiterer wichtiger Bestandteil der Versorgung – sowohl durch Techniker:innen selbst als auch durch verordnende Arzt:innen. Die Überprüfung der korrekten Adressierung des Funktionsdefizites oder der Fehlform, die Kontrolle der Passform bei der Abgabe, das Einpassen in das patientenindividuelle Schuhwerk, die Kontrolle von Passform und genügendem Platz für den Fuß im Schuh, einschließlich zum Beispiel einer Gangbildkontrolle seien von Laien nicht durchführbar. Bei der Online-Versorgung entfalle zudem die Möglichkeit einer direkten Korrektur des Hilfsmittels durch Techniker:innen bei der individuellen Abgabe. Dies führe zu einer wesentlichen Verschlechterung der bisherigen Versorgungspraxis.
Völlig inakzeptabel und jeder nationalen und internationalen Leitlinie widersprechend wäre demnach eine Versorgung bei Hochrisikopatient:innen – beispielsweise bei Diabetiker:innen mit diabetischem Fußsyndrom (DFS) mit Diabetes-adaptierten Fußbettungen und Diabetesschutzschuhen ohne die Anwesenheit von überwachenden Orthopädie(schuh)techniker:innen. „Hier handelt es sich immer um Patienten mit einem extrem hohen Risiko für eine Reulzeration beziehungsweise gegebenenfalls folgende Minor/Majoramputation“, wie in der Stellungnahme abschließend betont wird.
Alternative Versorgung: Kein Qualitätsunterschied
Die Barmer Ersatzkasse sieht hingegen bei der neuen Online-Variante keinen Qualitätsabfall bei der Versorgung mit orthopädischen Einlagen gegenüber den bisherigen Verfahrensweisen: Der seit dem 1. August dieses Jahres in Kraft getretene Vertrag mit der Firma Craftsoles zur Versorgung mit orthopädischen Einlagen ermögliche den Versicherten der Barmer Ersatzkasse – alternativ zum traditionellen Weg – eine innovative und digitale Versorgung mit hochwertigen, maßgefertigten orthopädischen Einlagen, wie Thorsten Jakob, Pressesprecher der Krankenkasse, gegenüber der OT-Redaktion erklärt. „Diese werden von Orthopädietechnikerinnen und ‑technikern von Hand in der hauseigenen Meisterwerkstatt des Innungsbetriebes ‚Sanitätshaus Meevo‘ in Hamburg angefertigt“, sagt Jakob. „Es gelten alle im Hilfsmittelverzeichnis des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherung festgelegten Qualitätsstandards (gemäß § 139 Fünftes Sozialgesetzbuch), die auch für den stationären Handel verbindlich sind.“ Die Einlagen würden aus hochwertigem Material gefertigt und auf jeden Fuß individuell abgestimmt. „Unterschiede zu Einlagen, die im stationären Handel gefertigt und abgegeben werden, bestehen nicht“, erklärt Jakob. „Dies bestätigen uns auch unsere Versicherten, die wir im Rahmen eines Pilotprojektes vor Vertragsabschluss mit Craftsoles über ihre Erfahrungen befragt haben.“
Beratung der Patient:innen per Chat, Telefon und Video
Ob orthopädische Einlagen benötigt werden, hänge von der medizinischen Beurteilung der Ärztin oder des Arztes ab. Voraussetzung für die Versorgung sei demnach eine entsprechende Verordnung. Diese könne online bei Craftsoles hochgeladen werden. Daraufhin verschicke das Unternehmen ein Vermessungsset an die Patientinnen und Patienten. „Mit diesem kann bequem und unkompliziert ein entsprechender Maßabdruck nach den Anforderungen des Hilfsmittelverzeichnisses abgegeben und an Craftsoles gesendet werden“, beschreibt Jakob. Auf die Argumente der Fachgesellschaften, dass Patient:innen mit der Selbsterfassung ihrer Fußdaten überfordert seien, geht er nicht ein. „Unser Vertrag mit Craftsoles beinhaltet allerdings nicht die Versorgung mit orthopädischen Einlagen bei schweren Fußfehlformen. Zudem prüft unser Vertragspartner, ob unter den Besonderheiten jedes Einzelfalles eine optimale Versorgung gewährleistet ist.“
Erstmals Vertragsbestandteil: Abfrage der Zufriedenheit
Bereits vor Vertragsabschluss habe sich die Krankenkasse „sehr intensiv von der Qualität der von Craftsoles maßgefertigten Einlagen überzeugt“, argumentiert Jakob weiter. Darüber hinaus hätten zahlreiche Versicherte vor Vertragsabschluss die Einlagen des Unternehmens im Rahmen eines Pilotprojektes umfangreich getestet. „An dem Pilotprojekt nahmen bewusst Versicherte teil, die in der Vergangenheit bereits orthopädische Einlagen über die herkömmlichen Versorgungswege erhalten haben. Sie waren somit in der Lage, sowohl die Beratung als auch Passgenauigkeit und Qualität der Einlagen entsprechend zu vergleichen und zu beurteilen. Die Rückmeldungen waren eindeutig. Die Pilotteilnehmerinnen und ‑teilnehmer waren durchweg zufrieden mit dem Ablauf der Versorgung und von der Qualität überzeugt“, unterstreicht der Pressesprecher.
Online-Angebot soll ausgebaut werden
„Unser Ziel ist es, unseren Versicherten innovative, digital unterstützte und qualitativ hochwertige Versorgungsangebote alternativ zum etablierten Versorgungsweg anzubieten“, erläutert Jakob weiter. Für viele Versicherte sei dies interessant, weil sie ihre Einlagen zeitlich flexibel und bequem von zu Hause aus per Smartphone oder Computer bestellen könnten. Dies könne beispielsweise für Berufstätige oder für Menschen, die pflegebedürftige Angehörige haben, eine attraktive Alternative sein.
Schweigen beim Spitzenverband
Auf die Fragen, wie der GKV-Spitzenverband das Angebot der Barmer Ersatzkasse beurteile und wie er auf den Aufschrei der Fachgesellschaften reagiere, erhielt die Redaktion die knappe Antwort: „Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir uns zum Versorgungsangebot einzelner Krankenkassen nicht äußern“, erklärt die Pressestelle des GKV-Spitzenverbandes auf Anfrage der Redaktion. Keinerlei Reaktion erhielt die Redaktion bis dato vom Sanitätshaus Meevo, das die Online-Versorgung für die bei der Barmer Versicherten ausführt.
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