Einführung
Erstmals in der Praxis bietet der „Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der oberen Extremität” dem Techniker einen definierten Versorgungspfad an, der das Versorgungsziel definiert, Meilensteine auf dem Weg dorthin nennt und den Techniker auf diese Weise dabei unterstützt, eine hochwertige, zeitgemäße Prothetik zu erstellen.
In diesem Artikel werden die einzelnen Schritte zur Erstellung einer myoelektrischen Oberarmprothese skizziert. Grundsätzlich handelt es sich dabei um allgemeine Überlegungen. Lediglich an einigen Stellen des Artikels wird auf den konkreten Fall der Versorgung eines jungen Mannes nach traumatischer Amputation rekurriert, wenn dies hilfreich ist, um den allgemeinen Ablauf an einem Beispiel zu verdeutlichen.
Dem genannten Prothesenträger wurde vor 8 Jahren nach einem Verkehrsunfall der rechte Arm transhumeral mit mittellangem Stumpf abgesetzt. Er ist heute 20 Jahre alt und studiert Informatik. Im Jahr nach der Amputation wurde er mit einer ersten myoelektrischen Prothese versorgt. Über die Jahre wurden verschiedene notwendige Arbeiten an den Schäften durchgeführt, um dem Wachstum des Prothesenträgers Rechnung zu tragen. Seit einigen Monaten hatte er die Prothese aufgrund von Druckstellen und Funktionseinschränkungen nicht mehr tragen können und meldete sich nun zur Erneuerung der Prothetik.
An aktiven Devices bot die bisherige Versorgung lediglich einen elektronisch verriegelbaren Ellbogen und eine System-Elektrohand. Mit dieser Vorgeschichte stellte sich der Kunde in der orthopädietechnischen Werkstatt vor und gab damit gleichsam den Startschuss für den Versorgungsablauf. Dieser orientiert sich eng an den Vorgaben des „Qualitätsstandards im Bereich Prothetik der oberen Extremität”.
Patientengespräch/Rehabilitationsziele
Es gibt allgemeine Anforderungen an prothetische Versorgungen, deren Erfüllung stets unsere Aufgabe als Experten für prothetische Versorgungen der oberen Extremität ist. Diese werden in jedem Versorgungskapitel des „Qualitätsstandards im Bereich Prothetik der oberen Extremität” zu Beginn aufgelistet und lauten für diesen Versorgungsfall wie folgt:
„Gleichziehen mit einem Nicht-Amputierten, Wiederherstellung des äußeren Erscheinungsbildes und der Funktion, Inklusion und Reintegration in das soziale Umfeld durch:
- Angleichung an das physiologische Erscheinungsbild (Körpersymmetrie) und die natürliche Greiffunktion
- sichere Umsetzung der Greifbewegung
- Vermeidung von Haltungsschäden
- Ermöglichung des bimanuellen Greifens
- Sicherstellung/Ermöglichen von Alltagsaktivitäten
- Vermeidung/Reduzierung von unphysiologischen Kompensationsbewegungen
- Vermeidung/Reduzierung der Überbeanspruchung der erhaltenen Extremität”
Um sicherzustellen, dass die individuellen Anforderungen des einzelnen Prothesenträgers bei der Auslegung und Fertigung der Prothese Berücksichtigung finden, beginnt die Versorgung mit einem ausführlichen Patientengespräch.
In diesem Fall konnte der Amputierte, der sich bereits im Vorfeld des Termins mit der Erneuerung seiner Prothese auseinandergesetzt hatte, seine Anforderungen an die zukünftige Prothese präzise beschreiben. Er hatte ja bereits über mehrere Jahre eine Prothese genutzt und so Erfahrungen sammeln können. Die Steuerung über die Elektroden fiel ihm leicht. Allerdings musste er bisher zur exakten Positionierung der Prothesenhand in den meisten Fällen seine kontralaterale erhaltene Hand nutzen. Die vorhandene Beugehilfe im bisherigen Ellbogen erlaubte zwar eine Grobpositionierung durch Schwung, aber der gewünschte Winkel war so immer nur näherungsweise zu erreichen. Auch die Drehung der Systemhand, um in die optimale Griffposition zu gelangen, musste bisher stets durch die kontralaterale Hand erfolgen.
Der Patient wollte dies nicht länger akzeptieren. Er wollte den Ellbogen dosiert und exakt positionieren und die Hand drehen können, ohne erst seine erhaltene Hand frei machen und für diese Aufgaben einsetzen zu müssen. Somit war er sich sicher, dass er einen elektrisch angetriebenen Ellbogen und eine elektrische Rotation in seiner Prothese benötigte.
Klinische Anamnese und Fotodokumentation
Nach diesem Gespräch war klar, welche Anforderungen der Patient an seine Prothese stellte. Nun wurden im Rahmen einer Untersuchung die körperlichen Voraussetzungen des Prothesenträgers zum aktuellen Zeitpunkt geklärt. Der Stumpf wurde palpiert. In diesem Fall handelte es sich um einen mittellangen Stumpf ohne Weichteilüberhang, mit guter Deckung auch am Stumpfende, endbelastbar, ohne Narbeneinzüge, ohne Neurome, unauffällig.
Die Maße des Armstumpfes wurden aufgezeichnet, die Schmerz- und Phantomsituation abgefragt (unauffällig, keine Besonderheiten), Muskelstatus (4–5 in allen Richtungen) und Bewegungsumfang im Schultergelenk (nicht signifikant eingeschränkt) geklärt. Der Prothesenträger nimmt derzeit keine Medikamente ein.
Der Muskelfunktionstest bestätigte am PC gute, getrennte Muskelsignale sowie die Fähigkeit des Prothesenträgers, eine Co-Kontraktion auszuführen. Dies war nicht weiter überraschend, da er über Jahre mit diesen Signalen seine bisherige Prothese gesteuert und über die Co-Kontraktion den bisher genutzten Ellbogen verriegelt bzw. freigesetzt hatte.
Versorgungsempfehlung, Versorgungsplanung und Schafttechnik
Nach dem Beratungsgespräch, und bestätigt durch die Ergebnisse der klinischen Anamnese, stand fest, dass die anzustrebende Versorgung für diesen Patienten vollkommen mit den Empfehlungen aus dem „Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der oberen Extremität” übereinstimmte. Diese lauten für einen Amputationsfall wie den hier beschriebenen:
„Myoelektrisch gesteuerte Armprothese mit Greiffunktion der Hand, elektrische Pro- und Supination, elektrisches oder mechanisches Ellbogengelenk (je nach Aktivitätsanspruch und ‑möglichkeiten des Patienten)”
Aufgrund des im Gespräch beschriebenen und durch persönliche negative Erfahrung mit einem mechanischen Ellbogengelenk begründeten Anspruchs des Prothesenträgers, die Prothesenhand unabhängig von der erhaltenen Hand exakt positionieren zu können, stand fest, dass dieser Amputierte einen elektrisch angetriebenen Ellbogen anstrebte und gemäß den Ergebnissen der bisherigen Untersuchungen auch würde nutzen können.
Der „Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der oberen Extremität” geht darüber hinaus auf weitere wichtige Details der Versorgungsausführung ein. Dies sind – neben der Schafttechnik, auf die im Folgenden noch genauer eingegangen wird – auch die Steuerungsmöglichkeiten (für den hier behandelten Prothesenträger eine proportionale Steuerung aller Devices, was auch der ersten Wahl laut „Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der oberen Extremität” entspricht), die Ausführung der Prothesenhand (in diesem Fall eine schnelle, proportional steuerbare Hand mit Schnellverschluss) und der prothetischen Handgelenksfunktion. In diesem Fall wurde eine elektrische Pro- und Supination vorgesehen, jedoch kein multiartikulierendes oder flexibles Handgelenk, da der Prothesenträger dies auch nach der Information über diese Möglichkeiten nicht anstrebte und sich in seiner Schilderung des Anspruches an die Prothese bzw. seiner Freizeitaktivitäten auch kein unmittelbarer Gebrauchsvorteil dieser Option erkennen ließ.
Nach einhelliger Expertenmeinung – und somit auch im „Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der oberen Extremität” gefordert – ist für einen Versorgungsfall wie den hier beschriebenen in jedem Fall eine bandagenfreie Versorgung durchzuführen. Alternative Schafttechniken nach dem Stand der Technik sind hierbei eine Versorgung mit einem HTV-Liner oder ein Schaft in HTV-Silikon-Technik. Auch hierfür liefert der „Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der oberen Extremität” die Begründung. Dort wird erläutert:
„Nur ein dauerhaft form- und volumenkongruentes Schaftsystem mit semiflexiblem Adaptionsverhalten, härtevariablen Bettungsmöglichkeiten, hoher Adhäsion und Hautverträglichkeit und guten hygienischen Eigenschaften kann den Versorgungserfolg sicherstellen.”
Des Weiteren:
- „Versorgung mit konfektioniertem Liner wegen starker Konturierungen (Umfangdifferenzen) am Stumpf und nicht runder Form des Stumpfendes kontraindiziert
- Grundsätzlich ist die Verwendung von HTV-Silikonen, flexiblen und adhäsiven Thermoplasten und dauerhaften FVK-Materialien erforderlich
- Sichere Anbindung des Liners durch ein Lock-System, einen Klett-Verschluss oder eine andere moderne Verfahrenstechnik erforderlich”
Der Prothesenträger war auch in der Vorversorgung bereits mit einem maßgefertigten Silikonliner versorgt, war mit dieser Technik gut zurechtgekommen und wollte auch dabei bleiben. Somit war die Prothesenkonfiguration festgelegt: Myo-Oberarmprothese mit schneller, proportionaler Hand, elektrischer Drehung, elektrischem Ellbogengelenk und einem Oberarmschaft mit maßgefertigtem HTV-Silikon-Liner. Als Verriegelungssystem soll ein Velcroverschluss zum Einsatz kommen.
Wichtige Frage: Handelt es sich um eine Erstversorgung oder um eine Folgeprothese?
Neben dem wichtigen Ziel, für den Prothesenträger eine gute, zeitgemäße und leistungsfähige Prothese zu planen und zu bauen, stellen sich in der täglichen Praxis entscheidende betriebswirtschaftliche Fragen: Wie ist die Erstellung einer solchen Prothese kostenmäßig zu erfassen, zu kalkulieren und anzubieten?
Ein wichtiges Kriterium, um den notwendigen Zeitaufwand einschätzen zu können, ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob es sich um eine Folgeversorgung oder um eine Erstversorgung, die mit einem höheren Zeitaufwand geplant werden muss, handelt. Der Arbeitskreis von Experten, der sich mit dem Erstellen des „Qualitätsstandards im Bereich Prothetik der oberen Extremität” befasst hat, ist in diesem Punkt zu folgender Auffassung gelangt:
Handelt es sich bei der zu erstellenden Prothese
- um eine Prothese, die in Form, Ausstattung und Aufbau von der bisherigen Versorgung abweicht, weil sie z. B. eine andere Schafttechnik oder andere Prothesenbauteile mit neuen Leistungsmöglichkeiten bietet,
- oder entsprach die bisherige Prothese nicht den Anforderungen des „Qualitätsstandards im Bereich Prothetik der oberen Extremität”,
so ist die neu zu erstellende Prothese als Erstversorgung (einer solchen Prothese) anzusehen. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Probe- und Testphasen ausführlich genutzt werden und dass die notwendigen Zeiten für das Prothesengebrauchstraining umfangreich sein werden, um den Prothesenträger den optimalen Nutzen der Prothese erfahren zu lassen und ihm zugänglich zu machen.
Handelt es sich bei der zu erstellenden Prothese dagegen
- um eine Prothese, die in Form, Ausstattung und Aufbau der bisherigen Versorgung entspricht,
- und entsprach auch die bisherige Prothese bereits den Anforderungen des „Qualitätsstandards im Bereich Prothetik der oberen Extremität”, wurde sie also von einem Experten erstellt, der sich an die Vorgaben dieses Kodex gehalten hat,
so ist die neu zu erstellende Prothese als Folgeprothese anzusehen. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Probe- und Testphasen sowie die notwendigen Zeiten für das Prothesengebrauchstraining nicht so umfangreich sein wmüssen wie bei einer Erstversorgung.
Beim hier dargelegten Versorgungsverlauf sind zwei entscheidende Faktoren maßgeblich dafür, dass es sich hierbei um eine Erstversorgung mit diesem Prothesentyp handelt:
- Der Patient ist seit der Erstellung der vorherigen Versorgung naturgemäß gewachsen. Der Schaft der bisherigen Versorgung passt nicht mehr. Das Schaftdesign muss neu ausgelegt werden.
- Die Prothese wird, abweichend von der vorher genutzten, mit einem „Dynamic Arm” ausgestattet. Dies ist ein leistungsstarkes zusätzliches Prothesendevice, das alleine bereits ausschließt, von einer Folgeversorgung auszugehen.
Die Einstufung in die Leistungsart der Erstversorgung hat, wie oben bereits beschrieben, deutlichen Einfluss auf die einzuplanenden Zeiten für Proben, Testaufbauten und Prothesengebrauchstraining.
Diagnoseschaft, Testschaft und Testprothese
Damit ist das Design der Prothese festgelegt. Es soll mit einem Liner aus HTV-Silikon gearbeitet werden. Diese Technik nutzt die besonderen Materialeigenschaften wie Haftung und Elastizität, um einen sowohl hoch funktionellen als auch komfortablen Sitz des Schaftes am Armstumpf zu erreichen. Diese wichtigen Eigenschaften machen es unmöglich, in der Testphase mit einem anderen Material als HTV-Silikon das richtige Volumen und die Passform zu überprüfen.
Somit wird nach Anzeichnen des Randverlaufes und der Elektrodenpositionen ein Gipsabdruck des Stumpfes genommen, der Abguss gefertigt und daraus das Modell so modifiziert, dass durch eine adäquate Volumenreduktion der später auf diesem Modell zu fertigende Liner genau mit der richtigen Dehnung – und damit mit dem optimalen Druck und Halt – am Armstumpf sitzt.
Dieser HTV-Liner wird dann gefertigt, probiert und – insbesondere wenn es keine vorangegangene Linerversorgung gibt – ggf. für einige Tage zur Probe getragen. Erst nach positiver Erprobung folgt der nächste Schritt der Fertigung.
Es wird auf dem Liner der Gipsabdruck für den Schaft genommen, auch hiervon wieder ein Abguss gefertigt, dieser modifiziert und so das Modell für den Innenschaft hergestellt. Hierauf wird dann ein Diagnoseschaft gefertigt, um vor den nächsten Schritten noch einmal das Volumen des Schaftes und den Sitz der Elektroden prüfen zu können. In diesem Diagnoseschaft wird dann noch einmal ein Muskelfunktionstest zur Kontrolle der Myosignale durchgeführt. Gegebenenfalls werden das Volumen, der Schaftrandverlauf und die Elektrodenpositionen entsprechend dem Testergebnis korrigiert und dann ein weiterer Testschaft auf dem modifizierten Modell gefertigt. Diagnoseschaft und Testschaft sind in der Regel rigide und transparente Tiefziehschäfte, um den vollflächigen Sitz und die Druckverteilung am Arm gut kontrollieren zu können. Auf diesem Testschaft werden dann die Aufbaulinien (Lot frontal und lateral) angezeichnet und die Länge bis zum Ellbogen (Vergleich zur kontralateralen Seite bei waagerechter Stellung beider Schultern zueinander) bestimmt.
Im nächsten Schritt wird die Testprothese gefertigt. Hierzu wird zunächst ein Verbindungssegment zur Adaption des Ellbogens erstellt und dieses dann entsprechend den Aufbaulinien und unter Berücksichtigung der ermittelten Länge bis zum Ellbogen mit dem Testschaft verbunden. Nach diesem statischen Aufbau bis zum Eingussring des Ellbogens wird der Ellbogen montiert und der Eingussring der Hand zunächst trennbar in den Ellbogen eingesetzt. Die elektrischen Komponenten werden installiert, und der Testaufbau ist bereit für die erste statische Anprobe.
Der Orthopädie-Techniker zieht dem Prothesenträger die Prothese an, die Schaftform unter Belastung wird noch einmal geprüft, ebenso die Position des Ellbogengelenkes und die Länge des Armes insgesamt (Schultern in Waage). Notwendige Modifikationen des Schaftes und des Aufbaus werden durchgeführt. Es wird ein Muskelfunktionstest unter Last durchgeführt.
Dynamische Anprobe der Testprothese
An dieser Stelle erhält der Prothesenträger eine erste Einweisung in den Gebrauch der Prothese, insbesondere in die Anziehtechnik. Dieses Anziehen wird dann zunächst geübt, bis der Prothesenträger es sicher und reproduzierbar selbstständig durchführen kann. Das erste Setup des Ellbogens für den Nutzer wird durchgeführt, und der Prothesenträger probiert und übt erste einfache Steuerungsversuche unter Beobachtung. Hierbei wird noch einmal der Aufbau der Prothese in der Dynamik kontrolliert. Notwendige Modifikationen der Technik werden festgelegt und durchgeführt.
Prothesengebrauchsschulung im Werkstattbereich
Damit der Prothesenträger vollen Nutzen aus der Prothese ziehen kann, wird er nochmals umfassend in deren Gebrauch eingewiesen. Alle Funktionen und Optionen werden nach der Erläuterung vom Prothesenträger probiert, bis er sie sicher und reproduzierbar beherrscht. Wichtige Punkte hierbei sind Besonderheiten und Pflege von Schaft und Liner, Akkusystem und Ladegerät, Lage und Funktion von Ein-/Aus-Schaltern z. B. am Ellbogen und in der Hand sowie die enthaltene Sensorik und deren Ansteuerung.
Ferner wird er unterrichtet in hygienischen Fragen (Stumpf- und Schafthygiene) und notwendigen Maßnahmen zur Pflege der Prothese. Zudem erhält er allgemeine und Gefahrenhinweise zum Einsatzbereich und zur Limitierung der Prothese sowie zu Service und Wartungsintervallen. So soll der Prothesenträger die Verantwortung für seine Prothetik übernehmen und in die Lage versetzt werden, die Prothese selbstständig zu nutzen und zu pflegen.
Im nächsten Schritt beginnt der Prothesenträger mit ersten Steuerungsversuchen unter Belastung und in verschiedenen Körperhaltungen, zum Teil auch in Zwangsstellungen. Dabei wird unter Nutzung der systemseitigen EMG-Wiedergabe das Setup des elektronischen Systems weiter für den Prothesenträger optimiert. Das Prothesengebrauchstraining wird intensiviert und mit vertiefenden, sich wiederholenden Übungen und schließlich der Simulation von Alltagssituationen fortgesetzt. Kontinuierlich werden auch dabei Modifikationen an der Prothese vorgenommen und regelmäßig das Setup des Systems optimiert.
Fortführen der Prothesengebrauchsschulung extern
Gerade bei Erstversorgungen muss die Erprobung der Prothese mit entsprechender Prothesengebrauchsschulung umfangreich durchgeführt werden. Da in dieser Phase kontinuierlich Modifikationen zur Verbesserungen der Compliance und der Leistungsfähigkeit der Prothese durchgeführt werden, ist es sinnvoll, einen möglichst großen Anteil des Prothesengebrauchstrainings mit der Testprothese durchzuführen, da die Möglichkeiten zu Änderungen an der späteren Definitivprothese eingeschränkt sein werden.
Dabei ist der Einsatz der Prothese im „normalen Alltag” des Patienten ebenfalls sehr sinnvoll und sollte einen entsprechenden Zeitrahmen bekommen. Um die Testprothese außerhalb der Werkstatt zum Einsatz kommen zu lassen, muss die bisher nur intern genutzte Testprothese so stabilisiert werden, dass der externe Einsatz ohne Gefahr für den Patienten und auch ohne Gefahr für die eingesetzte Technik möglich wird. Der stabilisierte Testaufbau erlaubt dem Prothesenträger dann die Erprobung der sogenannten ADL (Activities of Daily Living) im privaten und häuslichen Umfeld. Für den Orthopädie-Techniker gilt es hierbei zu beachten, dass eine Sonderfreigabe der Testprothese für den externen Gebrauch erfolgen muss.
Übertragen der Testergebnisse in die definitive Versorgung
Erst nach dem Abschluss der Prothesengebrauchsschulung und der Umsetzung aller hieraus resultierenden Modifikationen wird dieses Ergebnis in die definitive Prothese übertragen. Nach Anfertigung, Endmontage und Funktionskontrolle auf der Werkbank kann die fertige Prothese dann an den Kunden ausgeliefert werden, allerdings nicht ohne nochmalige Instruktion und Kontrolle. So wird noch einmal die Anziehtechnik des Prothesenträgers kontrolliert, es werden einige Steuerungstrainings sowie einige patientenspezifische Tätigkeiten unter Beobachtung durchgeführt, die Funktionaliät der Prothese wird dokumentiert und schließlich werden die wichtigsten Punkte zu allgemeinen Hinweisen, Reinigung sowie Service- und Wartungsintervallen nochmals besprochen. Erst dann kann die Versorgung mit Abnahmeprotokoll, Empfangsbestätigung, Fotodokumentation und der notwendigen Dokumentation gemäß MPG abgeschlossen werden.
Dokumente und Abnahmekriterien
Im „Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der oberen Extremität” findet man eine Reihe von Formularen, die helfen, den Vorgaben sowohl des Qualitätsstandards als auch des Qualitätsmanagementsystems entsprechend alle relevanten Daten und Prozesse zu dokumentieren. Es werden Erhebungs-/Anamnesebögen, Maßblätter und Protokolle des Versorgungsverlaufes ebenso bereitgestellt wie ein Vorschlag zur Sonderfreigabe für die externe Testprothese und Therapieprotokolle.
Mit den ebenfalls im Rahmen des „Qualitätsstandards im Bereich Prothetik der oberen Extremität” zur Verfügung gestellten Abnahmekriterien bietet das Werk allen an der Versorgung Beteiligten zu den jeweiligen Versorgungsarten passende Kriterien, anhand derer der Erfolg der Versorgung beurteilt werden kann. Diese liefern die Basis für das jeweilige Abnahmeprotokoll und bieten somit Arzt, Kostenträger, Techniker und Therapeut die Möglichkeit einer relativ objektiven Beurteilung des Versorgungserfolges.
Zusammenfassung
Der „Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der oberen Extremität” ist kein Lehrbuch, aus dem heraus sich ein interessierter Techniker autodidaktisch die Kenntnisse und Fertigkeiten verschaffen könnte, die notwendig sind, um aus ihm einen Experten für Prothetik der oberen Extremität zu machen. Für den Experten aber zeigt er einen reproduzierbaren und evaluierbaren Weg auf, der vom ersten Kundenkontakt bis zur fertigen Prothese darlegt, wie Qualität in der Prothetik der oberen Extremität erreicht werden kann.
Dabei unterstützt der „Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der oberen Extremität” von Anfang an mit seinen Arbeitshilfen und Formularen und erlaubt zum Abschluss, die Qualität und Funktionalität der Prothese so zu beschreiben und zu dokumentieren, dass dies für andere „Wissende” transparent und nachvollziehbar ist. Eine definierte und dokumentierbare Qualität bietet dabei allen Beteiligten eine gemeinsame Plattform und erleichtert so die Kommunikation zwischen Ärzten, Kostenträgern, Therapeuten und Technikern.
Zudem wird auch der Aufwand nachvollziehbar, den es zu betreiben gilt, um diese Qualität für den Prothesenträger zu erarbeiten. Letztlich wird das helfen, nicht nur die Versorgungsqualität in diesem Bereich zu verbessern, sondern auch Verständnis dafür zu wecken, dass dieser Aufwand notwendig ist und honoriert werden muss – jedenfalls dann, wenn das Ergebnis, die Qualität der prothetischen Versorgung, dem aktuellen Stand der Technik entspricht und dem Prothesenträger die angestrebten Gebrauchsvorteile bietet.
Der Autor:
Dieter Kretz
Orthopädie-Techniker-Meister
Orthopädietechnik von Bültzingslöwen GmbH
Am Unkelstein 8, 47059 Duisburg
dieter.kretz@otsvb.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Kretz D. Anpassung einer myoelektrischen Oberarmprothese – Versorgungsverlauf nach dem „Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der oberen Extremität“. Orthopädie Technik, 2014; 65 (8): 36–41
In Auszügen wurde zitiert:
Verein zur Qualitätssicherung in der Armprothetik e. V. (Hg.). Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der oberen Extremität. Dortmund: Verlag Orthopädie-Technik, 2014
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