Einleitung
Patienten mit einer oder mehreren angeborenen Fehlbildungen der oberen Extremität sind eine besondere Klientel. Der überwiegende Teil angeborener Fehlbildungen ist unbekannter Genese 1. Somit besteht primär kein Zusammenhang zwischen der Fehlbildung und einer systemischen Erkrankung, die einer spezifischen Therapie bedarf. Während Patienten mit einer Erkrankung oder einer traumatischen Amputation neben dem Verlust ihrer körperlichen Integrität auch einen Verlust erlernter Fähigkeiten erfahren und verarbeiten müssen, wachsen Patienten mit einer Fehlbildung damit auf und entwickeln im Laufe ihres Lebens Strategien, um den Alltag in einer Welt zu bewältigen, die auf die Nutzung zweier voll ausgebildeter Arme ausgerichtet ist. Dabei bedienen sie sich ihrer natürlichen Ressourcen und erledigen die Aufgaben mitunter mit vollem Körpereinsatz. Unerfahrenen Außenstehenden mangelt es hierbei häufig an Vorstellungskraft, und sie vermuten Einschränkungen, die nicht existieren. Überdies wird vergessen, dass die Extremität nicht funktionslos ist und dass auch eine Minderzahl an Fingern meist über das gleiche Gefühl verfügt wie eine fünffingrige Hand. Eine Abweichung von den Schaubildern eines Anatomieatlas bedeutet daher nicht automatisch ein unerfülltes Leben voller Entbehrungen. Dennoch ist es legitim, Hilfsmittel einzusetzen, um sich in einer Welt für zwei Arme den Alltag zu erleichtern, sich damit Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit zu erhalten und nicht zuletzt potenziellen Überlastungserscheinungen durch Kompensationsbewegungen oder Überbeanspruchung früh zu begegnen und damit eine langfristige Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.
Ohnhänderhilfsmittel
Longitudinale Fehlbildungen gehen mit einer teils erheblichen Verkürzung der Extremitäten einher, während die physiologischen Strukturen grundsätzlich angelegt sein können. Nicht selten verfügen davon betroffene Menschen über gute motorische Fähigkeiten und eine gute Kraftentfaltung. Als hervorstechendste Einschränkung ist die reduzierte Reichweite aufgrund des Längendefizits zu nennen (Abb. 1). Als Ausgleich bieten sich spezielle Werkzeuge und Anpassungen alltäglicher Gebrauchsgegenstände an: Anziehhaken, Fixierungshilfen für Hygiene-produkte oder Greifadaptionen ermöglichen Patienten mit einer longitudinalen Fehlbildung, selbstbestimmt und tätigkeitsspezifisch die benötigten Objekte zu erfassen bzw. zu führen (Abb. 2a–c). Sie nutzen dabei ihre eigenen körperlichen Ressourcen und sind nicht durch angebrachte Vorrichtungen eingeschränkt.
Neben der Option orthopädietechnischer Hilfsmittel sind auch geringfügige Anpassungen mit Haushaltsmitteln oder das Umfunktionieren handelsüblicher Gebrauchsgegenstände möglich. Sonderanfertigungen bedeuten neben dem wirtschaftlichen auch einen zeitlichen Aufwand für die Patienten. So gibt es Patienten, die – basierend auf ihrer Vorstellungskraft – Griffverdickungen mit Isoliermaterial aus dem Baumarkt in Eigenregie oder handelsübliche Lenkerhörnchen zum Ausgleich eines Bewegungsdefizits einsetzen. Auch hier besteht die Möglichkeit zur nachhaltigen Versorgung mittels Sonderanfertigung, sei es anhand bestehender Standards oder ganz individuell.
Prothesen
Transversale Fehlbildungen ähneln optisch im ersten Moment häufig einer Amputation (Abb. 3). Entsprechend fehlen in diesen Fällen typischerweise mindestens die vollständig ausgebildeten Finger. Obwohl dadurch eine physiologische Greiffunktion unmöglich wird, kann die Extremität dennoch zur Fixierung von Gegenständen aktiv genutzt werden: Neben dem Einklemmen von Gegenständen gegen den Oberkörper oder in der Achsel sind häufig auch sehr feinmotorische Fixierungen in den Beugefalten der Handfläche, des Handgelenks oder des Ellenbogens zu beobachten (Abb. 4a u. b).
Wenn all diese Tätigkeiten offenbar so gut kompensiert werden können – weshalb stellt sich dann überhaupt die Frage nach einer prothetischen Versorgung 2? Dafür gibt es mehrere Gründe: Ersatzstrategien nehmen unter Umständen mehr Zeit in Anspruch und erfordern Kompensationsbewegungen, die langfristig bei aller Gesundheit die körperlichen Strukturen überlasten können. Hinzu kommt die altersgemäße schleichende, aber doch stetige Abnahme der allgemeinen Mobilität, die die einstigen Muster einschränken oder sogar unmöglich machen kann 3. Schließlich stellt die Wettbewerbsfähigkeit in der Gesellschaft bestimmte Anforderungen an die Geschwindigkeit einer Verrichtung, eine langfristige Leistungsfähigkeit oder schlichtweg ein unauffälliges Erscheinungsbild. Vereinfacht gesagt kann die Nutzung von Prothesen dazu beitragen, dass ein physiologischer Bewegungsablauf die körperlichen Strukturen schont und dass dadurch gleichzeitig mehr Aufgaben in kürzerer Zeit bewältigt werden können. In besonderer Exposition bedarf es zudem eines ausgeprägten Selbstbewusstseins und des Verständnisses des Umfelds für das von der Norm abweichende Erscheinungsbild – diese Voraussetzungen sind jedoch nicht immer gegeben.
Zweifellos ist die Entscheidung zur Nutzung von Prothesen an Kompromisse gebunden: Zwar ermöglicht eine Prothese durchaus eine größere Griffweite oder Griffkraft, die unterschiedlichsten Fixierungsmöglichkeiten oder eine geschickte Kaschierung des Erscheinungsbildes – sie bedeutet aber auch augenblicklich den Verlust des Tastsinns, möglicherweise einen Wärmestau und zusätzliches Gewicht. Für Betroffene, die ihre Leistungsfähigkeit gut einschätzen können, ist eine solche Entscheidung somit oftmals nicht leicht. Es ist daher wichtig, Prothesen nicht als „Handersatz“ zu begreifen, sondern als „Hilfsmittel“ im Wortsinne, als Werkzeug zur Verrichtung spezifischer Aufgaben oder – je nach Ausführung der Prothese – für eine Vielzahl an Aufgaben. Der Anspruch, die Prothese im gesamten Tagesverlauf nutzen zu müssen, sollte nicht bestehen, sondern es vielmehr zu können, wenn es erforderlich ist, und die Prothese ansonsten für spezifische Anwendungsfälle vorzusehen. Schließlich ist auch die subjektive Lebensqualität ein wichtiges Entscheidungskriterium 4: Wenn Lebensumstände oder die allgemeine Compliance den Versorgungserfolg signifikant beeinträchtigen, so ist dies zu respektieren und trotz objektiv klarer Indikationsstellung zum entsprechenden Zeitpunkt von einer Versorgung abzusehen. Die Randbedingungen können sich im weiteren Verlauf jedoch ändern und sind dann neu zu bewerten.
Unterschiede in den Gestaltungskriterien
Bei primär gesunden Menschen ist das Gewebe einer in eine Prothese zu bettenden Extremität unter anderen Kriterien zu betrachten als bei amputierten Patienten. Typischerweise ist die Drucktoleranz nicht gleichzusetzen, da aufgrund eines intakten neurovaskulären Systems andere Empfindungs- und Durchblutungssituationen herrschen. Klassische Be- und Entlastungszonen und Randverläufe müssen angesichts der abweichenden Morphologie angepasst werden, auch können sich Sehnenverläufe und Gelenkexkursionen abweichend darstellen (Abb. 5). Zudem erhöht sich der Anspruch an die Gestaltungskriterien, da eventuell vorhandene Rudimente berücksichtigt werden müssen. Nicht zuletzt ist die Toleranz gegenüber Bewegungseinschränkungen und einer Reduzierung der Taktilität geringer als bei amputierten Patienten, die dem Hilfsmittel typischerweise eine größere Bedeutung als seinen Werkzeugcharakter beimessen. Hier müssen umso mehr alle Mittel ausgeschöpft werden, um durch die Verwendung der Prothese keine zusätzlichen Behinderungen zu provozieren.
Prothetische Versorgungskonzepte
Zunächst bedient man sich der gleichen Komponenten und Materialien wie bei amputierten Patienten und verfolgt anfangs die einschlägigen Versorgungskonzepte und ‑pfade (z. B. gemäß „Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der oberen Extremität“) 5 . Die Einteilung anhand der Kriterien „passiv“, „mechanisch“ und „elektronisch“ gilt auch hier und orientiert sich an den individuellen Anforderungen der Patienten. Eine Erweiterung der in Frage kommenden Bauteile ergibt sich aus der besonderen Berücksichtigung von Schalterelementen: Während Elektrodensteuerungen eine zuverlässige Möglichkeit darstellen, ist die Verwendung von Druck‑, Zug- und Kippschaltern eine Variante, bei der stabile funktionelle Rudimente im Sinne einer intuitiveren Steuerung genutzt werden können. Dadurch fällt es den Anwendern leichter, die Steuerung umzusetzen, und vorhandene Funktionen der Extremität werden genutzt, anstatt sie nur funktionslos einzubetten (Abb. 6). Druckempfindlichen Tastern kann dabei eine besondere Bedeutung beigemessen werden, da sie ein gewisses Maß an Rückmeldung suggerieren: Der empfundene Anpressdruck ähnelt der Griffkraft der Prothesenhand. Die Einbindung von Rudimenten im Schaft, passiv oder aktiv, stellt dabei gegenüber der klassischen prothetischen Versorgung einen nennenswerten Mehraufwand dar.
Unter Berücksichtigung der besonderen Anforderungen an die Bettung der Extremität kommen bei Dysmelieversorgungen vermehrt Rahmenkonstruktionen zum Einsatz. Diese berücksichtigen die reduzierte Drucktoleranz, während die mechanische Kraftübertragung zwischen Schaft und Extremität gewährleistet bleibt. Im Falle prominenter oder weichteiliger instabiler Rudimente stellen Rahmenkonstruktionen häufig dann eine unabdingbare Voraussetzung zur Versorgungsfähigkeit dar (Abb. 7), wenn diese eine signifikante Achsabweichung erzeugen, aufgrund ihrer Instabilität das An- und Ablegen der Prothese erschweren oder die Taktilität besondere Berücksichtigung finden muss 6. An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Auseinandersetzung mit der Biomechanik und der Versuch, Wirkprinzipien der Schaftkonstruktion auf gezielte Bereiche zu fokussieren, eine unbezahlbare Lehrstunde auch zugunsten komfortabler Versorgungen amputierter Patienten darstellt.
Rudimente können aber auch eine Herausforderung in der Kommunikation darstellen. Denn industrielle Passteile lassen sich in der Regel nur sehr eingeschränkt modifizieren. Sonderlösungen, mögliche Modifikationen oder schlichtweg Achsverschiebungen müssen eindeutig mit den Anforderungen des Patienten abgeglichen und besprochen werden. Ob die Ellenbogenachse der „Überlänge“ des Oberarmes folgen oder doch externe Schienengelenke zum Einsatz kommen sollen, ob der Achsaufbau orthograd zur Bewegungsrichtung des Ellenbogengelenks oder zugunsten der Kosmetik dem kurvierten Verlauf des Unterarmes folgt, inwiefern eine Überlänge der Prothesenseite in Kauf genommen werden muss oder inwiefern Prominenzen Einfluss auf das Erscheinungsbild haben: Dies sind Fragestellungen, die sich bei Dysmelieversorgungen im direkten Vergleich häufiger stellen und eine umfassende Beratung bereits zu Versorgungsbeginn erfordern. In manchen Fällen kann die Morphologie sogar dazu führen, dass eine funktionelle prothetische Versorgung zu Schwierigkeiten beim Tragen von Kleidung führt, wodurch eine Nutzung im gesamten Tagesverlauf geradezu ausgeschlossen werden kann. Dabei ist festzuhalten, dass „stumpfverbessernde Maßnahmen“ zugunsten einer vereinfachten prothetischen Versorgung typischerweise keine Option darstellen: Eine Amputation von Rudimenten verletzt möglicherweise erstmals die körperliche Integrität und hat neben dem Operationsrisiko einen Verlust der Taktilität und möglicherweise sogar psychische Konsequenzen zur Folge. Letzten Endes ist heute auch kaum absehbar, welche technischen Möglichkeiten in Zukunft gewinnbringend auf der aktuellen Morphologie aufbauen können.
Spezifische Hilfsmittel
Neben der Option klassischer prothetischer Versorgungen existiert selbstverständlich auch bei Vorliegen transversaler Fehlbildungen die Möglichkeit – wie in der Betrachtung longitudinaler Fehlbildungen –, anwendungsspezifische Hilfsmittel einzusetzen. Besonders Kinder profitieren von der Berücksichtigung von Sonderlösungen. In diesem Alter ist die mentale Plastizität hoch – ein Grund, weshalb vielerorts eine frühe prothetische Versorgung angestrebt wird, um deren Einsatz schneller in den Alltag integriert zu sehen. Es ist aber mindestens ebenso wichtig, Kindern den Freiraum zu gestatten, Ersatzstrategien zu entwickeln, um keine zu große Abhängigkeit von einem Hilfsmittel zu generieren. Verwachsene Schäfte und Defekte führen immer wieder zu Episoden, in denen die Prothese nicht genutzt werden kann und auf andere Strategien zurückgegriffen werden muss. Gleichzeitig ist der Funktionsanspruch an ein Hilfsmittel, wenn es genutzt wird, sehr hoch, und es soll nach Möglichkeit alle alterstypischen Aktivitäten unterstützen. Da diesem Anspruch technisch kaum Genüge getan werden kann, stellen Sonderlösungen eine Ergänzung für spezifische Aufgaben dar (z. B. Schwimmen, Turnen) oder unterstützen gezielt bei Aktivitäten (z. B. Musizieren, Radfahren), während in anderen Fällen noch keine Notwendigkeit zur dauerhaften Hilfsmittelnutzung besteht (Abb. 8a–c).
Fazit
Die Hilfsmittelversorgung bei angeborenen Fehlbildungen der oberen Extremität stellt besondere Herausforderungen an den Leistungserbringer und das gesamte Versorgungsteam. Bewährte Konzepte der Prothetik reichen dabei oftmals nicht aus und müssen an die spezifischen Anforderungen der Anwender angepasst werden. Gleichzeitig bedeutet die Diagnose einer Dysmelie nicht automatisch die Notwendigkeit hochkomplexer technischer Lösungen oder einer umfangreichen Sammlung von Hilfsmitteln für alle erdenklichen Anwendungsfälle. Leistungserbringern fällt in diesem Zusammenhang eine große Verantwortung zu: Betroffene müssen ausführlich über die Möglichkeiten, aber auch über die Einschränkungen der Hilfsmittel aufgeklärt werden, da ihre Erfahrungen mit anderen Strategien die Versorgung andernfalls ungenutzt verbleiben lässt. Besonders Eltern von Kindern mit einer Dysmelie müssen darin bestärkt werden, dass es sowohl technische als auch persönliche Lösungen für die jeweiligen Anforderungen gibt und dass das Potenzial der Kinder größer ist, als es im ersten Moment den Anschein hat. Nur so kann sichergestellt werden, dass der Aufwand und das Engagement positiv angenommen und in einen tatsächlichen Mehrwert verwandelt werden.
Der Autor:
Boris Bertram, OTM
Universitätsklinikum Heidelberg
Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie
Technische Orthopädie
Schlierbacher Landstraße 200a
69118 Heidelberg
boris.bertram@med.uni-heidelberg.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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