OT: OT- und OST-Betriebe haben mit einem angestaubten Image zu kämpfen. Woran liegt das deiner Meinung nach?
Anastasia Anastasiadou: Sanitätshäuser haben keine Persönlichkeit. Warum? Weil im Hintergrund meist ein BWLer arbeitet. Und auch die Menschen, die darin arbeiten, haben keine Persönlichkeit. Sie müssen sich mit dem Betrieb identifizieren und sich dafür eine CI (Corporate Identity, Anm. der Red.) anziehen, ohne davon überzeugt zu sein. Dabei wird aber vergessen, dass wir mit Individuen arbeiten und unsere Mitarbeiter auch Individuen sind. Das sehe ich aus heutiger Sicht als völlig verstaubt an. Oder auch die Art der Werbung. „Wir bilden Fachkräfte aus. Wir haben tolle Produkte.“ Das sollte für jeden Betrieb selbstverständlich sein, mit solchen Sprüchen werbe ich nicht. Was auch hier fehlt, ist die Persönlichkeit.
OT: Womit wirbst du?
Anastasiadou: Das, womit ich werbe, ist meine Persönlichkeit. Ich bin verrückt. Ich bin der Rockertyp. Ich mag Metal. Bei uns läuft auch den ganzen Tag Metal. Das kaufen mir die Leute ab. Egal ob 78 oder 38. Es kann sein, dass eine Omi reinkommt und sagt: „Die Musik ist aber ein bisschen hart.“ Dann sagt sie aber im selben Atemzug: „Das war bei uns in der Jugend auch so, ein bisschen gediegener, aber nicht anders.“ Das ist das größte Lob für mich. Und genau das ist es, was viele Sanitätshäuser verpassen. Ich habe auf Facebook viele Kollegen, die gerade umbauen. Wenn ich nach sechs Monaten nachschaue, was sich verändert hat, frage ich mich oft: Sind sie noch nicht fertig? Und erfahre dann: Achso, das ist jetzt ein anderer Kollege. Gleicher Stil, gleiche Möbel, absolut kein Abhebungswert. Alles austauschbar. Was aber nicht austauschbar ist, ist Persönlichkeit.
OT: Hat das auch Einfluss auf deine Mitarbeiterauswahl?
Anastasiadou: Auf jeden Fall. Der schwierigste Punkt in meiner Firmenführung ist es, Persönlichkeiten zu finden. Ich stelle nicht jeden ein. Ich habe 287 Bewerbungen erhalten seit der Eröffnung meines Betriebs im November 2019. Und die meisten fallen durch, weil sie keine Persönlichkeit haben. Das haben sie verlernt. Meine Mitarbeiter haben die Möglichkeit, unsere Footopia-Shirts zu tragen, aber sie müssen es nicht. Sie werden nicht von mir assimiliert. In einem Betrieb, in dem ich früher gearbeitet habe, wurde mir gesagt, dass ich nicht so viel lachen soll. Das komme unprofessionell rüber. Mir, die den ganzen Tag lacht, verbietet man das Lachen und damit, wer ich bin. Ich habe festgestellt: Wenn ich die Mitarbeiter so lasse, wie sie sind, dann können sie sich mit meinem Laden und Konzept am besten identifizieren. Meine Mitarbeiter müssen Mensch sein.
OT: Wie wirkt sich das auf eure Kund:innen aus?
Anastasiadou: Nur mit einem guten Arbeitsklima ist man leistungsstark. Denn: Mitarbeiter repräsentieren ein Unternehmen auch nach außen. Ein Mitarbeiter, der unzufrieden ist, trägt diese Unzufriedenheit an den Kunden weiter. Und: Wenn ein Mitarbeiter nicht so sein kann, wie er ist und sich verstellen muss, wie kann ich dann als Chef erwarten, dass der Kunde ihm das abnimmt? Wenn ein Kunde pampig ist, dann dürfen meine Mitarbeiter auch pampig antworten. Ich sage ihnen aber auch: Ihr müsst unterscheiden zwischen: Geht es ihm schlecht, weil er gerade vielleicht von einer Beerdigung kommt, oder ist er generell pampig.
OT: Klingt, als würde das Sprichwort „Der Kunde ist König“ nicht auf euch zutreffen.
Anastasiadou: Der Kunde ist Mensch bei uns. Es kann nicht sein, dass ein Kunde in einem OST-Betrieb König ist. Ein König entscheidet, was er haben möchte. Und in diesem Fall entscheide ich das als Fachkraft. Und ich entscheide, den Kunden menschlich und fair zu beraten. Wir geben unser Bestmögliches, den Kunden so schnell wie möglich zu bedienen und zufriedenzustellen und das lösungsorientiert und zielgerecht. Aber – und diese Freiheit nehme ich mir heraus – wenn uns jemand von oben herab behandelt, dann schicke ich ihn weg. Das gilt für mich als Chefin und genauso für jeden meiner Mitarbeiter und Azubis.
Die coole Orthopädie
OT: Welches Image wollt ihr repräsentieren?
Anastasiadou: Wir wollten die coole Orthopädie sein. Und das sind wir mittlerweile auch. Wir sind so bekannt geworden, dass wir sagen können: Wir sind der coolste Laden „in town“.
OT: Woran bleiben die Blicke der Passant:innen von außen hängen?
Anastasiadou: Durch die Glasfront kann man direkt reinschauen. An der linken Seite ist eine Wolke, in der für uns wichtige Begriffe stehen – im Mittelpunkt das Wort „wohlfühlen“. An der rechten Seite steht ein Spruch. Und es gibt Bilder. Eins mit einem Zauberer und ein Bild von mir im Gemüse. Wir arbeiten viel visuell. Aber nicht mit normalen Bildern. Bereits bei der Konzeption habe ich darauf geachtet, dass mein Betrieb nicht mit der typischen Orthopädie-Schuhtechnik in Verbindung gebracht wird. Deswegen auch unser Firmenname Footopia. Mir war es wichtig, erstmal Verwirrung zu stiften, um dieses angestaubte Bild wegzukriegen. Wenn wir merken, dass jemand vor dem Laden stehen bleibt und reinschaut, dann fangen wir gern auch mal an zu tanzen – und draußen wird applaudiert.
OT: Und wie lebt ihr den Lifestyle im Geschäft?
Anastasiadou: Hier läuft den ganzen Tag Metal. Und wir haben viel Spaß, wenn wir schief und laut singen. Unser Maßraum heißt Folterkammer. Und wir rufen die Kunden auf mit „Das nächste Opfer, bitte“. Was uns von anderen stark unterscheidet, ist, dass in unserem Wartebereich keine Werbung und keine Produkte zu finden sind. Unser Wartebereich ist ein Wohnzimmer. Bei uns gibt es immer frisches Obst, Schokolade, Kekse und etwas zu trinken. Wir haben überschwänglich und sehr gemütlich dekoriert. Manche Kunden legen sich, während sie warten müssen, auf das Sofa und lesen. Es gibt auch Kunden, die kommen einfach nur für ein Tässchen Kaffee oder Tee vorbei und gucken, wie wir arbeiten. Das ist toll. Wir haben erreicht, dass die Kunden keine Berührungsängste mehr haben. Auch deswegen war es mir ein Anliegen, eine offene Werkstatt zu haben, um die Kunden so an unserer Arbeit teilhaben zu lassen.
„Die Kunden bewerten mich als Menschen“
OT: OST und Rock: Wie passt das zusammen? Holt ihr damit einen Jugendlichen genauso ab wie eine alte Dame?
Anastasiadou: Ja, wir haben Kunden aller Altersklassen hier. Aber – und ich denke das liegt an unserem besonderen Umgang mit den Kunden – alles junggebliebene.
OT: Wie fallen die Rückmeldungen aus?
Anastasiadou: Durchweg positiv. Das sehen wir auch in unserem Gästebuch. Da schreiben sowohl Kinder als auch ältere Menschen rein (blättert durch die Seiten). „Dich kennenzulernen, macht mich glücklich“. „Mich hier umzuschauen, erfüllt mich mit Neugier und Staunen“, schreibt hier einer. Und was mich besonders freut: Die Bewertungen richten sich nicht auf die Ware. Die Kunden bewerten mich als Menschen.
OT: Du bist schnell beim Du. Gehört das zu deinem Konzept?
Anastasiadou: Ich bin ein lockerer, empathischer Typ, der auf die Leute zugeht. Deswegen das Du. Das war aber keine bewusste Entscheidung. Das Du hat sich eingebürgert, nachdem meine Kunden mich ständig geduzt haben, wenn sie mich auf der Straße getroffen haben. Und das kam und kommt gut an.
OT: Was ist dir im Umgang mit den Kund:innen besonders wichtig?
Anastasiadou: Authentizität. Wenn ich mal Mist gebaut habe, sage ich das auch. Ich lege höchsten Wert darauf, dass der Kunde den bestmöglichen lösungsorientierten Service bekommt. Ich versuche alles möglich zu machen. Kommt der Kunde in den Laden, wird er direkt wahrgenommen. Ich lege Wert darauf, dass jedem die Tür beim Rausgehen aufgehalten wird – dafür wird die Arbeit stehengelassen. Außerdem werden dem Kunden die Schuhe an- und ausgezogen. Mir war es von Anfang an wichtig, dass wir beratungsstark sind. Wenn mich ein Mitarbeiter fragt, wie viel Zeit er sich für einen Kunden nehmen darf, dann sage ich: So viel du brauchst. Deswegen arbeiten wir ohne Termine. Der Kunde kann jederzeit kommen – mit Wartezeit. Aber er weiß, wenn er drankommt, bekommt er die gleiche Zeit, die die anderen Kunden auch hatten. Und das alles wuppen wir mit vier Leuten.
OT: Wie schafft ihr das?
Anastasiadou: Wir haben den Prozesswahn runtergefahren und interne Abläufe digitalisiert und optimiert. Wenn ein Kunde reinkommt, schicken wir den Kostenvoranschlag nahezu beim Messen schon an die Krankenkasse. Wir haben keine Abteilung, die dazwischen sitzt und das erledigt – dafür geht in anderen Betrieben ein Tag drauf. Zeit sparen wir auch durch unser Angebot der „Einlage to go“. Wir fertigen die Einlage vor dem Kunden an und er kann sie direkt mit nach Hause nehmen. So sieht er, wie wir arbeiten und dass es sich um ein Individualprodukt handelt.
Handwerk statt Digitalisierung
OT: Setzt ihr auch in der Werkstatt auf Digitalisierung?
Anastasiadou: Mein Betrieb ist einer der digitalsten, was die Prozesse, aber nicht was das Handwerk angeht. Da bin ich völlig „old-school“ unterwegs. Und zwar, weil ich ein Handwerk gelernt habe, um Handwerk zu machen. Meiner Meinung nach ist die Technik noch viel zu unausgereift und für die OST völlig ungeeignet. Wir sind auf das handwerkliche Arbeiten und auf die Flexibilität des Materials angewiesen. Das ist unsere Waffe.
OT: Kann man damit in der heutigen Zeit noch die Kund:innen erreichen? Viele wissen vermutlich, dass in der Branche verstärkt digital gearbeitet wird.
Anastasiadou: Digitalisierung ist nur dann Thema, wenn ein Kunde zu uns kommt und nicht laufen kann. Und zwar deswegen, weil es sich um ein 3D-gedrucktes Produkt handelt. Ich kann dann begründen warum: Der Erbauer dieser Einlage hatte keine Ahnung vom Handwerk und keine Ahnung davon, was adaptiert bedeutet. Adaptiert bedeutet bei einem Diabetiker nicht, ich korrigiere bis zum Geht nicht mehr, sondern ich verteile den Druck um. Der nächste Punkt ist: Wie sieht der Service danach aus? Wenn eine Einlage bricht – was ist dann? Muss ich die Einlage nochmal komplett neu herstellen? Ja, muss ich. Ich kann eine solche Einlage nicht bekleben, sie würde immer wieder brechen. Und ich glaube, am Ende des Tages wissen unsere Kunden unser Handwerk und unsere Arbeit zu schätzen.
OT: Sehr wohl digital unterwegs seid ihr auf Social Media. Wie nutzt du diese Plattform zur Kundenansprache?
Anastasiadou: Wir berichten über Neuigkeiten aus dem Betrieb wie Auszeichnungen oder geben Einblick in die Werkstatt. Ebenso Entwicklungen in der Branche greifen wir auf. Unter anderem damit die Kunden ein Gefühl dafür bekommen, vor welchen Problemen wir aktuell stehen. Auch auf Social Media geht es uns um Authentizität. Werbung dafür, wie toll unsere Produkte sind, wird man hier nicht finden. Für mich geht es auch darum, meine Meinung als Mensch zu vertreten und für das – meiner Meinung nach – Richtige Farbe zu bekennen. Wofür wir Instagram auch nutzen: Unsere Kunden werden per Hashtag benachrichtigt, wenn ihre Schuhe fertig sind und können diese dann bei uns am Schuhparkplatz abholen. Verpackt werden sie mit Schleifen und Schokolade – als Freude für die Kunden und als Wertschätzung für die Arbeit, die wir machen. Unsere Kunden finden das Konzept toll.
OT: Wie versucht ihr auf eurer Website die Aufmerksamkeit der Besucher:innen zu gewinnen?
Anastasiadou: Die kurzen Texte, in denen meine Mitarbeiter vorgestellt werden, haben sie selbst geschrieben. Auch unsere Praktikanten sind auf der Website zu finden. Das ist bei uns eine „Hall of Fame“! Das sind Menschen, die nicht nur Bagatellarbeiten gemacht, sondern Taschen und Einlagen gefertigt, also auch etwas geleistet haben. Die Besucher sehen also, dass wir Wert auf die Menschen legen. Über die Website bieten wir Merchandise an, zum Beispiel Shirts mit Footopia-Schriftzug und witzigen Sprüchen. Mich freut es so sehr, wenn Kunden mit einem Footopianer-Shirt reinkommen – weil das für sie eine Marke ist, mit der sie sich identifizieren. Auf unserer Homepage gibt es auch Gebrauchsanweisungen für Einlagen und Co. – einmal in offizieller Sprache und einmal in cooler Footopia-Sprache.
Kundenbindung interaktiv
OT: Auf der Startseite finden die Besucher:innen einen Comic. Was hat es damit auf sich?
Anastasiadou: Mir war es wichtig, in meiner Stadt auch meine Stadt zu präsentieren. Pro Comicseite, die wir alle zwei bis drei Monate neu veröffentlichen, steht deswegen eine Attraktion in der Stadt im Fokus – mit meinen Mitarbeitern und mir in den Hauptrollen. Jetzt sind wir sogar noch einen Schritt weitergegangen: Es wäre doch toll, wenn wir den Comic interaktiv aufziehen und die Kunden miteinbinden könnten. Also haben wir die Comicrolle ausgeschrieben. Von den 500 Coupons kamen 500 wieder zurück. In der nächsten Folge ist nun also der Gewinnerkunde zu sehen. Die aktuelle Comicfolge hängt immer bei uns im Schaufenster und ist auf unserer Website zu finden. Interaktiv sind wir auch mit unseren Werbefotos unterwegs.
OT: Inwiefern?
Anastasiadou: Unsere Idee war es, unsere Kunden mit in die Werbung einzubinden. Also haben wir hier ein Foto-shooting mit Kompressionsstrümpfen gemacht. Dafür habe ich optisch verrückte Vögel in der Stadt gefragt. Und davon haben wir hier viele.
OT: Die coole Orthopädie – das soll sich auch in euren Produkten widerspiegeln. Wie trefft ihr bei den Kund:innen damit den richtigen Nerv?
Anastasiadou: Viele Menschen kommen in unseren Laden und sind behaftet mit diesem völlig verstaubten Bild der OST. Sie stellen sich den Schuh so vor: schwarz und so wenig auftragend wie möglich. Meine Aufgabe ist es dann, dem Kunden zu sagen, was für Möglichkeiten es gibt. Denn viele wissen gar nicht, was alles möglich ist. Mir ist es wichtig, die Persönlichkeit des Menschen in dem Schuh widerzuspiegeln. Wir bieten Lifestyle an. Ein orthopädischer Maßschuh von uns ist völlig anders als der von Kollegen. Ich lackiere viel, male, besetze die Schuhe mit Swarovski-Kristallen. Wir haben abgefahrene Schnitte, sind auch beim Sohlenbau einzigartig, haben ungewöhnliche Struktursohlen, die wir selbst bauen – mit unterschiedlichen Einkerbungen und Gravuren. Die Sache ist ja die: Wenn jemand in einen Schuhladen geht, dann kauft er den Schuh, der ihm gefällt, der gut sitzt, in seine Garderobe passt und im Trend liegt. Und da frage ich mich: Wo liegt das Problem bei einigen Betrieben? Wir sind Handwerker. Wir sind Individualbauer. Wenn man schon einen Schuh bauen muss, warum dann nicht einen Schuh, den der Kunde auch in einem Geschäft kaufen könnte? Das ist natürlich auch eine Kostenfrage. Aber der Großteil meiner Kunden ist bereit, den Preis dafür zu zahlen.
OT: Dein Betrieb heißt Footopia, angelehnt an Utopia. Eine Utopie, also ein Idealbild eines OST-Betriebs, hast du dir mit deinem Konzept selbst erschaffen. Was wünschst du dir für die gesamte Branche?
Anastasiadou: Ich würde mir wünschen, dass wir Social Media verstärkt verwenden, um mehr Lärm nach außen zu machen. Die Orthopädie-Schuhtechnik wird im Gegensatz zur Orthopädie-Technik viel weniger wahrgenommen. Es kann nicht sein, dass die Arbeit nur auf Verbände und Innungen geschoben wird. Das bedeutet auch viel Eigenverantwortung. Einer meiner größten Wünsche ist, dass sich die Sanitätshäuser von den Handwerkern abspalten und dass vor allem die Krankenkassen erkennen, dass eine Sanitätshauseinlage nicht das Maß der Dinge ist. Ich wünsche mir auch, dass wir – also Orthopädieschuhmacher, Orthopädietechniker, Ärzte und Therapeuten – uns endlich vereinen, nicht gegeneinander, sondern miteinander arbeiten und das interdisziplinär und auch innerhalb der Berufsgruppen. Und ich wünsche mir, dass wir den Mut haben auch mal etwas anders zu machen. Ich sage nicht, dass mein Konzept das richtige ist, ich sage nur, dass ich damit erfolgreich bin und auch ich als Person damit glücklich bin.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
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