Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung bei Amyo­tro­pher Late­ral­skle­ro­se (ALS) – eine Ana­ly­se der Ver­sor­gungs­si­tua­ti­on in Deutschland

A. Funke, S. Spittel, Ch. Münch, Th. Meyer
Die Amyotrophe Lateralsklerose ist eine degenerative Erkrankung der Motoneurone, die durch fortschreitende Muskellähmungen charakterisiert ist und mit einem hohen Hilfsmittelbedarf zum Erhalt von Selbstständigkeit, Kommunikation und lebenswichtigen Funktionen wie Atmung und Ernährung einhergeht. In der Hilfsmittelversorgung sind Rollstühle und Orthesen am häufigsten vertreten.

Die Ver­sor­gungs­ra­te für alle Hilfs­mit­tel liegt bei 70,2 %; für kom­ple­xe Hilfs­mit­tel zei­gen sich deut­lich gerin­ge­re Ver­sor­gungs­ra­ten. Eine Ableh­nung durch Kos­ten­trä­ger ist der häu­figs­te Grund für das Nicht­zu­stan­de­kom­men einer Ver­sor­gung – mit deut­li­chen Unter­schie­den bei Ableh­nungs­ra­ten und ‑laten­zen zwi­schen Kos­ten­trä­gern und Hilfs­mit­tel­grup­pen. Die hier vor­ge­stell­ten Stu­di­en adres­sie­ren den hohen Bedarf an sys­te­ma­ti­schen Ver­sor­gungs­da­ten und hel­fen, die sym­pto­ma­ti­sche und pal­lia­ti­ve Behand­lung der Amyo­tro­phen Late­ral­skle­ro­se zu optimieren.

Ein­lei­tung

Die Amyo­tro­phe Late­ral­skle­ro­se (ALS) ist eine neu­ro­de­ge­nera­ti­ve Erkran­kung der Moto­neu­ro­ne, die durch eine fort­schrei­ten­de Läh­mung der Will­kür­mus­ku­la­tur ein­schließ­lich der Sprech‑, Schluck- und Atem­mus­ku­la­tur sowie durch einen zuneh­men­den Ver­lust an moto­ri­schen Fähig­kei­ten cha­rak­te­ri­siert ist. Die ALS ist eine unheil­ba­re Erkran­kung. Es ist davon aus­zu­ge­hen, dass in Deutsch­land bis zu 8.000 Men­schen an einer ALS erkrankt sind, wobei pro Jahr ca. 2 bis 3 neue Erkran­kun­gen pro 100.000 Ein­woh­ner auf­tre­ten. Das mitt­le­re Erkran­kungs­al­ter liegt bei 67 Jah­ren, wobei auch deut­lich jün­ge­re und älte­re Mani­fes­ta­ti­ons­al­ter auf­tre­ten kön­nen 1. Einer der pro­mi­nen­tes­ten Erkrank­ten war der 2018 ver­stor­be­ne Phy­si­ker Ste­phen Hawking.

Auf­grund der zuneh­men­den erkran­kungs­be­ding­ten Ein­schrän­kun­gen ent­wi­ckeln sich bei den Betrof­fe­nen im Erkran­kungs­ver­lauf zuneh­men­de Bedürf­nis­se zum Erhalt der Selbst­stän­dig­keit, der Kom­mu­ni­ka­ti­on sowie lebens­wich­ti­ger Funk­tio­nen wie Atmung und Ernäh­rung, die unter ande­rem durch den Ein­satz bestimm­ter Tech­no­lo­gien abge­deckt wer­den. Neben Hilfs­mit­teln zum Erhalt der Mobi­li­tät kön­nen dies Hilfs­mit­tel zur Sicher­stel­lung der Kom­mu­ni­ka­ti­on und der Atem- und Hus­ten­funk­ti­on sein (mecha­ni­sche Hus­ten­hil­fen, Beatmungs­ge­rä­te). Die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung bei ALS hat einen hohen Stel­len­wert bei der Sicher­stel­lung der Lebens­qua­li­tät und der sozia­len Teil­ha­be der Pati­en­ten 2 3 4 5 6. Auf­grund des fort­schrei­ten­den Cha­rak­ters der Erkran­kung ist die ALS eine bei­spiel­haf­te Erkran­kung für die Ver­sor­gung mit Hilfs­mit­teln und den Ein­satz von Tech­no­lo­gien zur Kom­pen­sa­ti­on krank­heits­be­ding­ter Defi­zi­te. Die kom­ple­xe Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung bei ALS ist von ver­schie­de­nen Fak­to­ren wie dem Geneh­mi­gungs­ver­hal­ten der Kos­ten­trä­ger, den per­sön­li­chen Res­sour­cen der Betrof­fe­nen, den psy­cho­so­zia­len Bedin­gun­gen und den unter­schied­li­chen tech­ni­schen Eigen­schaf­ten der Hilfs­mit­tel geprägt. Unter­su­chun­gen in ver­schie­de­nen Gesund­heits­sys­te­men zei­gen, dass eine adäqua­te Ver­sor­gung mit Hilfs­mit­teln unter ande­rem durch den hohen admi­nis­tra­ti­ven Auf­wand in der Ver­sor­gung und im Kos­ten­über­nah­me­pro­zess erschwert wird 7 8 9 10 11. Es lie­gen bis­her nur weni­ge sys­te­ma­ti­sche Unter­su­chun­gen zur Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung bei ALS vor; ins­be­son­de­re exis­tie­ren kaum sys­te­ma­ti­sche Ana­ly­sen, die die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung inner­halb des deut­schen Gesund­heits­sys­tems abbil­den 9 12 13 14 15. Zum Ver­sor­gungs­grad und zum Geneh­mi­gungs­ver­hal­ten der zustän­di­gen Kos­ten­trä­ger sowie zur zeit­li­chen Latenz von der Indi­ka­ti­ons­stel­lung bis zur Lie­fe­rung lie­gen kei­ne Unter­su­chun­gen vor.

Metho­den und Ergebnisse

Das Ambu­lanz­part­ner-Ver­sor­gungs­netz­werk (Ambu­lanz­part­ner, AP) ist ein mul­ti­zen­tri­sches Fall­ma­nage­ment-Netz­werk, das ein sozi­al­me­di­zi­ni­sches Fall­ma­nage­ment mit einem inter­net­ba­sier­ten Manage­ment­por­tal (http://www.ambulanzpartner.de) kom­bi­niert. Nach dem infor­mier­ten Ein­ver­ständ­nis der Pati­en­ten wird der Hilfs­mit­tel­be­darf im direk­ten Arzt­Pa­ti­en­ten-Kon­takt ermit­telt (Indi­ka­ti­ons­stel­lung), an ein Daten­ma­nage­ment wei­ter­ge­lei­tet und digi­ta­li­siert. Der ent­stan­de­ne Daten­satz wird in einer digi­ta­len Ver­sor­gungs­ket­te erfasst und einem Hilfs­mit­tel­ver­sor­ger zuge­ord­net. Mit der Zuord­nung eines Bedarfs an einen Leis­tungs­er­brin­ger erhält der Ver­sor­ger Zugang zu den ver­sor­gungs­re­le­van­ten Daten und ver­ein­bart mit dem Pati­en­ten eine Bera­tung und die Erpro­bung eines Hilfs­mit­tels. Auf die­ser Basis wird eine ärzt­li­che Ver­ord­nung erstellt und dem Kos­ten­trä­ger zur Prü­fung ein­ge­reicht. Die­ser geneh­migt das Hilfs­mit­tel oder lehnt es ab. Bei Geneh­mi­gung wird das Hilfs­mit­tel vom Hilfs­mit­tel­ver­sor­ger an den Pati­en­ten gelie­fert. Die ein­zel­nen Ver­sor­gungs­schrit­te wer­den auf dem Ambu­lanz­part­ner­Por­tal digi­tal doku­men­tiert 1617.

Seit 2011 wur­den deutsch­land­weit Pati­en­ten mit ALS an aktu­ell 12 spe­zia­li­sier­ten ALS-Zen­tren in das AP-Netz­werk ein­ge­bun­den und Daten zur gesam­ten Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung bei ins­ge­samt 1.494 Pati­en­ten mit ALS retro­spek­tiv aus­ge­wer­tet 18. Erfasst wur­den sämt­li­che Hilfs­mit­tel, die im Beob­ach­tungs­zeit­raum inner­halb des Ambu­lanz­part­ner-Netz­wer­kes ver­sorgt wur­den. Neben demo­gra­fi­schen und krank­heits­spe­zi­fi­schen Daten wur­den die Kate­go­rie und die Spe­zi­fi­zie­rung des indi­zier­ten Hilfs­mit­tels sowie das Datum der Anfor­de­rung und der Lie­fe­rung bezie­hungs­wei­se der Ableh­nung des Hilfs­mit­tels erfasst. Die Kate­go­ri­sie­rung der Hilfs­mit­tel­grup­pen erfolg­te in Anleh­nung an den Hilfs­mit­tel­ka­ta­log der GKV. Ins­ge­samt wur­den von 11.364 Hilfs­mit­tel­pro­zes­sen nach Aus­schluss aller unvoll­stän­di­gen Daten­sät­ze 9.072 Hilfs­mit­tel­pro­zes­se aus­ge­wer­tet, bei denen vom Zeit­punkt der Indi­ka­ti­ons­stel­lung bis zur Lie­fe­rung bezie­hungs­wei­se zur Ableh­nung mit Erfas­sung der Ableh­nungs­grün­de der gesam­te Ver­sor­gungs­vor­gang doku­men­tiert war. Der Anteil der tat­säch­lich gelie­fer­ten Hilfs­mit­tel wur­de als „Ver­sor­gungs­ra­te“ defi­niert. Die Ableh­nung wur­de in einem geson­der­ten Sta­tus­schritt doku­men­tiert (Datum, Ableh­nung durch Pati­ent oder Kos­ten­trä­ger, Grün­de der Ableh­nung). Der Anteil der abge­lehn­ten Hilfs­mit­tel im Ver­gleich zur Gesamt­heit der ärzt­lich indi­zier­ten Hilfs­mit­tel wur­de als „Ableh­nungs­ra­te“ bezeich­net. Berück­sich­tigt wur­den aus­schließ­lich end­gül­ti­ge Ableh­nun­gen. Ableh­nun­gen durch Kos­ten­trä­ger, die durch Wider­spruchs­ver­fah­ren revi­diert wur­den, wur­den nicht als abge­lehnt gewer­tet. Als „Ver­sor­gungs­la­tenz“ wur­de die Zeit zwi­schen der Mel­dung eines Hilfs­mit­tel­be­darfs und dem doku­men­tier­ten Zeit­punkt der Lie­fe­rung definiert.

Für vier aus­ge­wähl­te Hilfs­mit­tel­grup­pen wur­de bei 479 ALS-Pati­en­ten zwi­schen 2011 und 2014 an vier deut­schen ALS-Zen­tren (Berufs­ge­nos­sen­schaft­li­che Uni­ver­si­täts­kli­nik Berg­manns­heil Bochum, Cha­ri­té – Uni­ver­si­täts­me­di­zin Ber­lin, Medi­zi­ni­sche Hoch­schu­le Han­no­ver, Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum Jena) die Ver­sor­gung im Hin­blick auf die Kos­ten­über­nah­me­ra­ten der Kos­ten­trä­ger und Lie­fer­zei­ten aus­ge­wer­tet 19. Die Aus­wahl der ana­ly­sier­ten Hilfs­mit­tel­grup­pen ori­en­tier­te sich an Rele­vanz, Häu­fig­keit und Kos­ten­in­ten­si­tät 10 11 1213 14 20:

  • Gesamt­heit von Arm‑, Bein- und Zervikalorthesen,
  • „Bewe­gungs­trai­ner“ der unte­ren und obe­ren Extre­mi­tä­ten mit Elek­tro­an­trieb zur pas­si­ven Bewe­gung pare­ti­scher Extremitäten,
  • Hilfs­mit­tel der unter­stütz­ten Kom­mu­ni­ka­ti­on ein­schließ­lich Tablet­Com­pu­tern sowie hand‑, kopf- und augen­ge­steu­er­ten Kommunikationshilfen,
  • Elek­tro­roll­stüh­le ein­schließ­lich Leicht­ge­wicht- und Mul­ti­funk­ti­ons­roll­stüh­len mit elek­tri­scher Schiebehilfe.

In der Ana­ly­se wur­den die fünf häu­figs­ten Kos­ten­trä­ger der gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung (GKV) berücksichtigt:

  • AOK – Die Gesund­heits­kas­se (AOK)
  • Tech­ni­ker Kran­ken­kas­se (TK)
  • Bar­mer GEK (Bar­mer)
  • DAK-Gesund­heit (DAK)
  • BKK

Auf­grund der gerin­gen Pati­en­ten­zah­len der ein­zel­nen Betriebs- und Innungs­kran­ken­kas­sen wur­den die­se Ver­si­cher­ten in der Grup­pe BKK (mit IKK) zusam­men­ge­fasst. Ana­log wur­de mit Ver­si­cher­ten der pri­va­ten Kran­ken­ver­si­che­run­gen (PKV) ver­fah­ren (Grup­pe PKV).

Abbil­dung 1 zeigt die erfass­te Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung. Die größ­ten Hilfs­mit­tel­grup­pen sind die der Roll­stüh­le, der All­tags- und Bade­zim­mer­hil­fen und der Orthe­sen; Bewe­gungs­trai­ner und Geh­hil­fen sind deut­lich weni­ger häu­fig ver­tre­ten. Die mitt­le­re Anzahl von Hilfs­mit­tel­pro­zes­sen pro Pati­ent liegt bei 7,6. Etwa 55 % der Pati­en­ten benö­ti­gen fünf oder mehr Hilfs­mit­tel; bei 6,5 % der Pati­en­ten lie­gen über 20 Hilfs­mit­tel­ver­sor­gungs­pro­zes­se vor. Die Gesamt­ver­sor­gungs­ra­te für alle Hilfs­mit­tel kann mit etwa 70 % ange­ge­ben wer­den. Die gerings­ten Ableh­nungs­ra­ten ent­fal­len auf die Grup­pen der Geh­hil­fen, der Orthe­sen und der All­tags­hil­fen, wäh­rend sich in den kom­ple­xen Hilfs­mit­tel­ka­te­go­rien deut­lich höhe­re Ableh­nungs­ra­ten zei­gen. Inner­halb der Grup­pe der Roll­stüh­le zei­gen sich signi­fi­kan­te Unter­schie­de bei den Ableh­nungs­ra­ten zwi­schen manu­el­len und elek­tri­schen Roll­stüh­len (Abb. 2). Ableh­nungs­grün­de und Ver­sor­gungs­la­ten­zen wur­den für die Hilfs­mit­tel­grup­pen Elek­tro­roll­stüh­le, Orthe­sen, motor­un­ter­stütz­te Bewe­gungs­trai­ner und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­hil­fen unter­sucht. Eine Ableh­nung durch den Kos­ten­trä­ger ist der häu­figs­te Grund für die Ableh­nung bzw. das Nicht­zu­stan­de­kom­men einer Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung. Wei­te­re häu­fi­ge Grün­de sind die Ableh­nung einer Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung durch den Pati­en­ten und der Tod des Pati­en­ten vor der Versorgung.

Auf­fäl­li­ge Unter­schie­de bestehen zwi­schen den Ableh­nungs­ra­ten einer ver­ord­ne­ten Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung durch die Pati­en­ten selbst. Orthe­sen hat­ten eine hohe Akzep­tanz; die Ver­sor­gung mit Elek­tro­roll­stüh­len war jedoch mit einer hohen Ableh­nungs­ra­te durch Pati­en­ten ver­bun­den (Abb. 3). Auf­fäl­lig war die deut­lich höhe­re Ableh­nung der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung bei Ver­si­cher­ten der PKV im Ver­gleich zur GKV (Abb. 4).

Von den ana­ly­sier­ten Hilfs­mit­teln wur­den 26,3 % von den Kos­ten­trä­gern abge­lehnt, wobei sich zwi­schen den Kos­ten­trä­gern deut­li­che Unter­schie­de bei den Ableh­nungs­ra­ten erga­ben: TK und DAK zei­gen im Ver­gleich die gerings­ten Ableh­nungs­ra­ten, die Grup­pen PKV und BKK die höchsten.

Für Orthe­sen zeigt sich mit 16,2 % eine rela­tiv gerin­ge Ableh­nungs­ra­te durch Kran­ken­kas­sen, wäh­rend in den Hilfs­mit­tel­grup­pen der unter­stütz­ten Kom­mu­ni­ka­ti­on (30,4 %), der the­ra­peu­ti­schen Bewe­gungs­ge­rä­te (34,8 %) und der Elek­tro­roll­stüh­le (35,6 %) die Ableh­nungs­ra­ten höher lie­gen. Die AOK zeigt eine höhe­re Ableh­nungs­ra­te bei Orthe­sen (25,4 %) im Ver­gleich zur DAK (10,6 %). Im Gegen­satz dazu fin­det sich für die unter­stütz­te Kom­mu­ni­ka­ti­on bei der AOK die gerings­te Ableh­nungs­ra­te (19,2 %), wäh­rend die DAK einen hohen Ableh­nungs­wert zeigt (32 %). Bei den the­ra­peu­ti­schen Bewe­gungs­ge­rä­ten er geben sich ins­ge­samt hohe Ableh­nungs­ra­ten. Den­noch sind auch hier Unter­schie­de zwi­schen den Kos­ten­trä­gern nach­weis­bar (BKK 52,2 %, TK 22,1 %). Bei Elek­tro­roll­stüh­len besteht die höchs­te Ableh­nungs­ra­te mit erheb­li­chen Unter­schie­den zwi­schen den Kos­ten­trä­gern (BKK 50,3 %, TK 18,3 %). Zwi­schen den Hilfs­mit­tel­grup­pen bestehen deut­li­che Unter­schie­de bei der mitt­le­ren Ver­sor­gungs­la­tenz (Abb. 5). Zwi­schen ein­zel­nen Kos­ten­trä­gern fin­den sich bei der unter­stütz­ten Kom­mu­ni­ka­ti­on und der Orthe­tik signi­fi kan­te Unter­schie­de in den Laten­zen. Bei Elek­tro­roll­stüh­len und the­ra­peu­ti­schen Bewe­gungs­ge­rä­ten bestehen kei­ne signi­fi­kan­ten Unterschiede.

Dis­kus­si­on

In die­ser Über­sichts­ar­beit wer­den die ers­ten sys­te­ma­ti­schen Ana­ly­sen zur Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung bei ALS in Deutsch­land vor­ge­stellt. Bis­her vor­lie­gen­de Ana­ly­sen ein­zel­ner Kos­ten­trä­ger, z. B. des „Hilfs­mit­tel­re­ports“ der Bar­mer, beru­hen über­wie­gend auf Kos­ten­da­ten und berück­sich­ti­gen kei­ne pati­en­ten- und arzt­sei­ti­gen Fak­to­ren sowie Daten zu Pro­zes­sen und Zeit­ab­läu­fen, da die­se Daten für Kran­ken­kas­sen nur ein­ge­schränkt zugäng­lich sind. Im Rah­men der vor­lie­gen­den Unter­su­chung erfolg­te eine Ana­ly­se von der Indi­ka­ti­ons­stel­lung bis zur Lie­fe­rung oder Ableh­nung eines Hilfs­mit­tels, unab­hän­gig von Ver­ord­ner, Hilfs­mit­tel­ver­sor­ger und Kos­ten­trä­ger. Die kos­ten­trä­ger­über­grei­fen­de Daten­er­fas­sung ermög­lich­te eine ver­glei­chen­de Ana­ly­se unter­schied­li­cher Kran­ken- und Ersatz­kas­sen. Kom­ple­xe und indi­vi­du­ell ange­pass­te Hilfs­mit­tel wie elek­tri­sche Roll­stüh­le und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­hil­fen mit Umfeld­steue­run­gen stel­len wich­ti­ge Hilfs­mit­tel­grup­pen dar. So sind 13 % der ALS-Pati­en­ten mit kom­ple­xen elek­tro­ni­schen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­hil­fen mit Augen oder Kopf­steue­rung ver­sorgt – eine vor­her nicht in die­ser Form beschrie­be­ne Gruppe.

Die hohe Zahl der pro Pati­ent ver­ord­ne­ten Hilfs­mit­tel doku­men­tiert die hohe Rele­vanz der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung bei ALS. Obwohl etwa 70 % der indi­zier­ten Hilfs­mit­tel tat­säch­lich gelie­fert wur­den, zeigt sich eine hohe Ableh­nungs­ra­te bei kom­ple­xen, für die Lebens­qua­li­tät und die Pati­en­ten­au­to­no­mie der ALS-Pati­en­ten beson­ders wich­ti­gen Hilfs­mit­teln, etwa bei Hilfs­mit­teln zur Kom­mu­ni­ka­ti­on und zur Elek­tro­mo­bi­li­tät. Bei den weni­ger kos­ten­in­ten­si­ven Orthe­sen fand sich die gerings­te Ableh­nungs­ra­te und Ver­sor­gungs­la­tenz. Die unter­stütz­te Kom­mu­ni­ka­ti­on und die the­ra­peu­ti­schen Bewe­gungs­ge­rä­te wie­sen etwa dop­pelt so hohe Ableh­nungs­ra­ten und deut­lich höhe­re Laten­zen bis zur Ver­sor­gung auf.

Die für die ALS beson­ders rele­van­te Hilfs­mit­tel­grup­pe der Elek­tro­roll­stüh­le zeig­te die größ­ten Ableh­nungs­ra­ten und Laten­zen. Eine Ableh­nung durch den Kos­ten­trä­ger war häu­figs­ter Ableh­nungs­grund für Hilfs­mit­tel. Kos­ten­in­ten­si­ve Hilfs­mit­tel wie Elek­tro­roll­stüh­le, elek­tro­ni­sche Kom­mu­ni­ka­ti­ons­hil­fen und motor­un­ter stütz­te Bewe­gungs­trai­ner wur­den häu­fi­ger abge­lehnt als weni­ger kos­ten­in­ten­si­ve Hilfs­mit­tel wie manu­el­le Rollstühle.

Im Ver­gleich der Kos­ten­trä­ger erga­ben sich zum Teil gra­vie­ren­de Unter­schie­de bei den Ableh­nungs­ra­ten von Hilfs­mit­teln durch Kos­ten­trä­ger und bei den Ver­sor­gungs­la­ten­zen der Hilfs­mit­tel­grup­pen. Bei den Kran­ken­kas­sen TK und DAK bestan­den die gerings­ten Ableh­nungs­ra­ten. Vor allem bei Elek­tro­roll­stüh­len fand sich eine signi­fi kant gerin­ge­re Ableh­nung bei der TK und bei der DAK im Ver­gleich zur AOK, den BKK und der PKV. Bei der Ableh­nungs­ra­te der Kos­ten­trä­ger konn­ten erheb­li­che Unter­schie­de zwi­schen ein­zel­nen Kran­ken- und Ersatz­kas­sen nach­ge­wie­sen wer­den. Ent­ge­gen der media­len Dis­kus­si­on erga­ben sich dabei aber kei­ne Hin­wei­se auf eine „Zwei-Klas­sen-Medi­zin“ zuguns­ten der PKV. Viel­mehr zeig­te die PKV in den unter­such­ten Hilfs­mit­tel­grup­pen die höchs­te Ableh­nungs­ra­te. Aller­dings fan­den sich auch inner­halb der GKV Unter­schie­de, die sich mit deut­lich diver­gie­ren­den Ableh­nungs­ra­ten dar­stell­ten und auf kas­sen­spe­zi­fi­sche Dif­fe­ren­zen in den Bewil­li­gungs­pro­zes­sen hinweisen.

Ange­sichts die­ser Unter­schie­de müs­sen „Klas­sen­un­ter­schie­de“ eher inner­halb der GKV dis­ku­tiert wer­den. Die kas­sen­in­ter­nen Ent­schei­dungs­pro­zes­se sind weit­ge­hend unbe­kannt. Es ist zu dis­ku­tie­ren, inwie­weit bei den hohen Ableh­nungs­ra­ten und Ver­sor­gungs­la­ten­zen für kos­ten­in­ten­si­ve Hilfs­mit­tel finan­zi­el­le Beweg­grün­de der Kos­ten­trä­ger eine Rol­le spie­len und inwie­fern der Ver­sor­gungs­pro­zess aus die­sen Grün­den von den Kos­ten­trä­gern zusätz­lich ver­zö­gert wird. Es besteht eine Dis­kre­panz in der arzt- und kos­ten­trä­ger­sei­ti­gen Ein­schät­zung der Hilfs­mit­tel­in­di­ka­ti­on, die mit einem hohen Res­sour­cen­ver­brauch an Arbeits­zeit für die betei­lig­ten Per­so­nen­grup­pen ver­bun­den ist. Eine Stu­die des Pati­en­ten­be­auf­trag­ten der Bun­des­re­gie­rung, die das Geneh­mi­gungs­ver­hal­ten von Kran­ken­kas­sen zum Gegen­stand hat, unter­streicht die hohe Ableh­nungs­ra­te kos­ten­in­ten­si­ver kom­ple­xer Hilfs­mit­tel und weist eben­falls auf das hete­ro­ge­ne Geneh­mi­gungs­ver­hal­ten unter­schied­li­cher Kos­ten­trä­ger hin 21.

An zwei­ter Stel­le bei den Grün­den für die Ableh­nung steht eine Ableh­nung des Hilfs­mit­tels durch den Pati­en­ten selbst. Dies ist ein bis­her nur wenig beach­te­ter Fak­tor bei der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung. Eine Inter­pre­ta­ti­on der vor­lie­gen­den Daten ist nur ein­ge­schränkt mög­lich, da pati­en­ten­be­zo­ge­ne Fak­to­ren wie Krank­heits­pro­gres­si­on, psy­cho­so­zia­le Fak­to­ren, Bil­dungs­stand und sozia­les Umfeld inner­halb der Stu­die nicht sys­te­ma­tisch erfasst wur­den. Zu dis­ku­tie­ren sind als Grün­de feh­len­de Infra­struk­tur (z. B. feh­len­de Unter­stell­mög­lich­kei­ten für Elek­tro­roll­stüh­le in städ­ti­schen Wohn­la­gen), eine Fehl­ver­sor­gung mit Hilfs­mit­teln ohne posi­ti­ven Nut­zen für die Pati­en­ten oder das sub­jek­ti­ve Erle­ben einer Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung als „Mei­len­stein“ einer pro­gre­di­en­ten Erkran­kung. Eine Ein­be­zie­hung der Pati­en­ten­res­sour­cen und ‑vor­stel­lun­gen sowie sozia­ler Fak­to­ren in die Hilfs­mit­tel­be­ra­tung kann hier even­tu­ell die Ver­sor­gungs­ra­te ver­bes­sern. Die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung bei an ALS Erkrank­ten soll­te durch spe­zia­li­sier­te, mit dem Krank­heits­bild der ALS ver­trau­te Hilfs­mit­tel­ver­sor­ger und die Mög­lich­keit der Erpro­bung eines Hilfs­mit­tels im per­sön­li­chen Pati­en­ten­um­feld erfol­gen 7 22. Eine kon­ti­nu­ier­li­che Qua­li­fi zie­rung aller in die Betreu­ung von ALS-Pati­en­ten ein­ge­bun­de­nen Berufs­grup­pen und eine enge inter­dis­zi­pli­nä­re Zusam­men­ar­beit sind wün­schens­wert 2324.

Ein wei­te­rer Fak­tor einer Unter­ver­sor­gung kann die Frus­tra­ti­on des Pati­en­ten durch die Ver­zö­ge­rung der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung sein, die in der Daten­bank­sys­te­ma­tik die­ser Stu­die als „Ableh­nung durch Pati­en­ten“ klas­si­fi­ziert wur­de. In die­sem Zusam­men­hang ist auf­fäl­lig, dass die PKV die höchs­te pati­en­ten­sei­ti­ge Ableh­nungs­ra­te auf­wies. Sozio­öko­no­mi­sche Fak­to­ren wie Abb. 5 Ver­sor­gungs­la­ten­zen für aus­ge­wähl­te Hilfs­mit­tel. Belas­tun­gen durch das Kos­ten­er­stat­tungs­prin­zip sind als Ursa­che zu dis­ku­tie­ren. Ein sub­stan­ti­el­ler Anteil der Pati­en­ten war vor der Ver­sor­gung ver­stor­ben. Dafür kann neben einer im Erkran­kungs­ver­lauf zu spät gestell­ten Indi­ka­ti­on für ein Hilfs­mit­tel oder einem für die Pro­gres­si­on der Erkran­kung zu lan­gen Ver­sor­gungs­pro­zess auch eine über­durch­schnitt­lich rasche Pro­gres­si­ons­ra­te der ALS- Erkran­kung eine Rol­le spie­len. Die zeit­li­che Latenz von der Indi­ka­ti­ons­stel­lung bis zur Lie­fe­rung ist eine wesent­li­che Her­aus­for­de­rung in der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung, wobei die längs­ten Ver­sor­gungs­la­ten­zen in den für die Lebens­qua­li­tät und die Auto­no­mie der Pati­en­ten essen­ti­el­len Hilfs­mit­tel­grup­pen wie Elek­tro­mo­bi­li­tät und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­hil­fen vor­la­gen. Vor dem Hin­ter­grund des pro­gre­di­en­ten Cha­rak­ters der Erkran­kung ist eine recht­zei­ti­ge Ver­sor­gungs­in­iti­ie­rung sinn­voll, um unnö­ti­ge Belas­tun­gen der Pati­en­ten zu ver­mei­den – even­tu­ell als Kon­zept der „Vor­ab­be­ra­tung“ zu Hilfs­mit­teln mit hoher Ver­sor­gungs­la­tenz. Bereits bei der Bera­tung soll­ten Pati­en­ten über die zu erwar­ten­de Ableh­nungs­wahr­schein­lich­keit und die Mög­lich­keit eines Wider­spruchs im Fal­le einer Ableh­nung infor­miert werden.

Limi­ta­tio­nen und Ausblick

Als Limi­ta­ti­on der vor­ge­stell­ten Stu­die ist ein „Selek­ti­ons­bi­as“ zu nen­nen, da aus­schließ­lich spe­zia­li­sier­te ALS-Zen­tren teil­nah­men und somit eine spe­zia­li­sier­te und homo­ge­ne Ver­ord­ner­struk­tur vor­liegt. Des­halb ist es mög­lich, dass kom­ple­xe und kos­ten­in­ten­si­ve­re spe­zia­li­sier­te Hilfs­mit­tel in die­ser Unter­su­chung über­re­prä­sen­tiert sind und dass der Gesamt­be­darf an Hilfs­mit­teln höher liegt als in den Stu­di­en beschrie­ben. Die Ver­sor­gung mit ein­fa­chen Hilfs­mit­teln erfolgt mög­li­cher­wei­se außer­halb spe­zia­li­sier­ter Zen­tren und ohne Unter­stüt­zung eines digi­ta­len Fall­ma­nage­ment­por­tals. Um die Ver­sor­gung mit Hilfs­mit­teln zu opti­mie­ren, wären Stu­di­en im inter­na­tio­na­len Ver­gleich wün­schens­wert. Trotz der zen­tra­len Bedeu­tung für die Betreu­ung von Pati­en­ten mit ALS steht die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung bis­her nicht im Fokus der For­schung; auch die Behand­lungs­leit­li­ni­en für ALS ent­hal­ten kei­ne kla­ren Indi­ka­ti­ons­kri­te­ri­en für Hilfs­mit­tel. Wei­te­re Unter­su­chun­gen zur Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung und die Schaf­fung von Leit­li­ni­en zur Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung sind daher wünschenswert.

Für die Autoren 
Andre­as Funke
Fach­arzt für Neurologie
Les­sing­str. 24
15745 Wildau
a.funke@neurologie-wildau.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

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