Was ist Digitalisierung? Auf diese Frage antwortet das Bayerische Forschungsinstitut für Digitale Transformation (bidt): „Der Begriff Digitalisierung wird mittlerweile breit und unscharf für den Einsatz verschiedener digitaler Technologien und damit verbundenen Transformationsprozessen in der Gesellschaft und ihren gesellschaftlichen Teilsystemen, wie Wirtschaft und Arbeit, Bildung, Politik und Öffentlichkeit, verwendet.“ Diese Antwort zeigt, dass es nicht die eine Digitalisierung gibt, sondern dass – je nach Kontext – die Sichtweise und Anforderungen unterschiedlich definiert werden können. Wie sieht es konkret im Bereich der Orthopädie-Technik aus? Wo helfen digitale Technologien bei der Versorgung, wo wird das Potenzial nicht ausgeschöpft? Um das zu klären, hat die OT-Redaktion mit Alf Reuter, Präsident des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik (BIV-OT), gesprochen.
OT: Herr Reuter, der Inbusschlüssel gehört zur Orthopädie-Technik wie das Amen in die Kirche. Wie steht es mit der Digitalisierung?
Alf Reuter: Um im Bild zu bleiben, digitale Werkzeuge gehören längst zum Kanon. Fast täglich kommen neue Technologien, Programme und Funktionen hinzu. Die Orthopädie-Technik ist sicher ein Treiber der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Im Mai 2024 laden wir wieder zur OTWorld ein. Da kann jeder bestaunen, wie sehr das Fach digitale Techniken in der Versorgung bereits heute einsetzt. Wir modellieren längst digital und setzen digitale Tools ein, wo immer es der Versorgung nutzt. Und in der Fachzeitschrift ORTHOPÄDIE TECHNIK sind diese neuesten Entwicklungen regelmäßig präsent. Eine ganz andere Frage bleibt: Wie schafft es die Gesundheitspolitik, die allgemeine Infrastruktur, die noch immer auf dem Papierausdruck und der Handschrift des Arztes und Patienten fußt, endlich in die Neuzeit zu bringen? Das Vorhaben der Digitalisierung dieser Infrastruktur gibt es seit der Idee der Gesundheitskarte 1995. Stand heute: Aufgrund der analogen Prozesse und des Formularwustes wenden unsere Betriebe mehr als 30 Prozent ihrer Zeit für nicht auswertbare Versorgungsdokumentationen auf. Für uns ein Skandal.
OT: Wie agieren die Branche und der Verband?
Reuter: Wir ticken anders als die Politik. Wir machen einfach. Also haben wir schon früh das Pilotprojekt E‑Verordnung für Hilfsmittel aufgesetzt. Unter dem Dach des BIV-OT haben sich bereits 2021 die marktführenden Software- und ERP-Dienstleister sowie Leistungserbringerverbände für das Pilotprojekt zusammengeschlossen, um mit Sanitätshäusern, Homecare-Versorgern und Ärzt:innen die Digitalisierung aktiv voranzutreiben. Wir sind mit dem Pilotprojekt so weit wie kein anderer in Deutschland. Wir gestalten damit die Zukunft unseres Faches. Dass die Bundesregierung den Start nun um ein Jahr auf 2027 verlegen will, findet daher nicht unsere Unterstützung. Es ist alles da, die Branche ist vorbereitet. Warum warten?
OT: Das E‑Rezept für Arzneimittel ist bereits im Umlauf. Gibt es Fehlläufer?
Reuter: Der Gesetzgeber hat das deutlich ausgeschlossen. Dennoch hören wir vereinzelt von unseren Mitgliedsbetrieben, dass Arztpraxen Hilfsmittel per E‑Rezept verordnen. Wir haben das geprüft, und in Rücksprache mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der Gematik und dem Bundesministerium für Gesundheit können wir sagen, dass diese Verordnungen leider Fehlläufer sind und damit nicht abgerechnet werden dürfen. Das führt zu Unmut für alle Beteiligten – von Ärzt:in über Leistungserbringer und Patient:innen bis zur Krankenkasse. Jeder einzelne Fall sollte dokumentiert und an unsere Geschäftsstelle in Dortmund geschickt werden. Wir müssen mit allen Mitteln verhindern, dass die vom Gesetzgeber eigentlich abzusichernde Wettbewerbsgleichheit von Apotheken und Sanitätshäusern auch an diesem Punkt untergraben wird.
OT: Wie beurteilen Sie den im Juli vom Bundesministerium für Gesundheit veröffentlichten Kabinettsentwurf des Digital-Gesetzes (DigiG)? Kommen wir damit einen Schritt weiter?
Reuter: Teilweise: So unterstreicht das Gesundheitsministerium die Bedeutung des Makelverbotes, das finden wir natürlich erfreulich. Was uns sehr irritiert, ist die Verschiebung des Startes für die E‑Verordnung für Hilfsmittel. Sie soll verbindlich nun erst 2027 starten. Wir wollen aber so früh wie möglich digitalisieren. Warum der Gesundheitsminister bremsen will, ist für uns unverständlich. Ebenfalls in der Klärung: Der Gesetzesentwurf sieht noch immer keine zuverlässige Refinanzierung der Kosten für die Einbindung der Gesundheitshandwerke in die Telematikinfrastruktur vor. Jetzt soll nicht mehr verhandelt werden, sondern der GKV-Spitzenverband soll die Kostenübernahme einseitig beschließen. Solange hier die Kosten zu 100 Prozent getragen werden, soll uns das recht sein. Das ist allerdings noch fraglich. Eine „never ending story“ ist auch die Sache mit der Ausgestaltung der elektronischen Patientenakte – kurz ePA. Wir fordern deshalb gemeinsam mit den Kolleg:innen der anderen Gesundheitshandwerke, dass wir vollen Zugriff auf die ePA haben. Die durch die Verordnungen bei uns veranlassten Leistungen haben enormen Einfluss auf die Versorgung, und wir müssen auf den Stand der Versorgung ebenso zugreifen können wie selbst den Fortschritt in der Versorgung dokumentieren können. Last but not least: Wir brauchen eine klare Auskunft zum Wettbewerbsschutz. Denn die zeitlich verzögerte Einführung darf zu keiner Wettbewerbsverzerrung führen.
OT: Ein großes Argument der Krankenkassen in der aktuellen Debatte um Reformen der Hilfsmittelversorgung ist die Angst um Beitragsanhebungen. Eine günstige Online-Versorgung, dank der Kosten für Fachpersonal eingespart werden könnten, würde doch gut in dieses Konzept passen. Warum ist es aus Ihrer Sicht dennoch nicht der richtige Weg?
Reuter: Die Vorstellung, eine Fachkraft zu ersetzen, weil sie zu teuer ist, scheint mir doch im Gesundheitswesen eine sehr zweifelhafte Angelegenheit. Niemand würde sich beispielsweise gern von einem Laien operieren lassen, weil dann weniger Personalkosten anfallen. Die Konsequenz ist dann auch relativ einfach: Fehlversorgungen. Das finden wir daher als Verband auch nicht witzig und treten hier sehr massiv im Sinne des Anspruchs auf eine Versorgung nach Stand der Technik auf. Das ist nicht allein meine Sicht, dass bei einer rein digitalen Hilfsmittelversorgung die Passgenauigkeit nicht gewährleistet ist oder das falsche Hilfsmittel für ein Krankheitsbild ausgewählt werden. Wir kennen das doch alle aus unserer täglichen Praxis, was passiert, wenn die Einlage etwa beim diabetischen Fuß nicht richtig sitzt. Vielleicht weiß der Patient gar nicht, dass er Diabetes hat und gibt das folgerichtig auch bei der Onlinebestellung nicht an. Später wundern sich dann alle, warum der Fuß amputiert werden muss. Auch bei Kompressionsstrümpfen oder Bandagen ist die Passgenauigkeit entscheidend, diese muss regelmäßig persönlich überprüft werden. Zahlreiche medizinische Fachgesellschaften haben immer wieder betont, dass eine rein digitale Hilfsmittelversorgung Patient:innen gefährden kann, wie zuletzt im August die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) und der Berufsverband für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU). Diese Experten-Stimmen können wir doch nicht einfach ignorieren. Persönliche Beratung, Anpassung und Kontrolle gehören zu einer qualitätsgesicherten Hilfsmittelversorgung dazu. Von diesen Standards dürfen wir uns zum Wohle der Patient:innen nicht runterhandeln lassen.
OT: Wo kann man dann durch Digitalisierung sparen?
Reuter: Bürokratieabbau! Bürokratieabbau! Bürokratieabbau!
OT: Wie können Sie Krankenkassen davon überzeugen, dass Hilfsmittel ohne den persönlichen Besuch und die persönliche Beratung im Sanitätshaus oder in der orthopädietechnischen Werkstatt nicht abgegeben werden sollten?
Reuter: Wir müssen Krankenkassen davon nicht überzeugen. Der Gesetzgeber sieht das so vor und es steht auch als absolute Mindestanforderung im Hilfsmittelverzeichnis. Auch die Hilfsmittelrichtline des Gemeinsamen Bundesausschusses betont, dass der Arzt bei veranlassten Leistungen davon ausgehen muss, dass ein Fachmann sich noch mal den Versicherten ansieht. Wenn Kostenträger diese Frage immer wieder aufwerfen, dann geht es eigentlich um eine gesellschaftspolitische Fragestellung: Wollen wir es uns immer noch leisten, Versicherte nach Stand der Technik zu versorgen oder sollten wir nicht deutliche Leistungskürzungen vornehmen. Das kann man diskutieren – aber im Moment ist die Frage entschieden. Prof. Dr. Karl Lauterbach betont, wie wichtig es ihm ist, dass für jeden Versicherten das Sachleistungsprinzip gilt. Danach hat jeder Versicherte das Recht auf eine Versorgung nach Stand der Technik und anschließend hat er das Recht darauf, dass eine Fachkraft sich persönlich von dem Krankheitsbild überzeugt und die veranlassten Leistungen des Arztes verantwortet.
OT: Zahlreiche Fachgesellschaften haben bereits dementsprechende Gutachten erstellt, dennoch – so scheint es – wird die Online-Versorgung weiterhin als ernst zu nehmende Option von Kostenträgern in Erwägung gezogen. Warum?
Reuter: Da kann ich nur spekulieren, dass der Finanzdruck auf die einzelnen Krankenkassen so hoch ist, dass die Skrupel fallen. Kostenträger fordern ja auch, dass der Gesetzgeber sie davon befreit, ihre maßgeblichen Vertragsinhalte offenzulegen. Das müssen Sie sich einmal vorstellen: Krankenkassen haben Angst davor, was passiert, wenn sie offenlegen müssen, welche Verträge sie geschlossen haben. Sie wollen verhindern, dass ihre Versicherten wissen, welche Leistungsansprüche zu welchen Konditionen bei welchem Versorger bestehen. Ich denke, dass wir uns die Augen reiben würden, welche Billigangebote dann offengelegt würden. Die Ausschreibungen im Hilfsmittelbereich haben uns einen kleinen Einblick gegeben, zu was Kostenträger fähig sind, wenn sie unter Finanznot stehen – die Versicherten leiden zum Teil noch heute unter den damaligen Fehlversorgungen im Bereich der Reha-Technik und Inkontinenzversorgung.
OT: Die private Krankenkasse Debeka hat mit einem Online-Händler für Einlagen eine Kooperation gestartet, die den Versicherten einen Rabatt gewährt bei Bestellung bei diesem Händler. Was denken Sie darüber, wenn eine Kasse mit 2,5 Millionen Versicherten so eine Kooperation abschließt?
Reuter: Was soll ich dazu sagen? Es ist in jeder Hinsicht ein alter Hut. Das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) hatte diese Art der kommerziellen und nicht medizinisch vertretbaren „Versorgungen“ bei der gesetzlichen Krankenkasse Barmer am 19. Oktober 2021 gestoppt. Leider sind private Krankenkassen wie die Debeka nicht an das BAS gebunden. Ich kann nur jedem Versicherten davon abraten, auf solche Angebote einzugehen. Wir haben die privaten Krankenkassen informiert und diese haben uns verstanden und ihre Partner entsprechend informiert. Mehr können und dürfen wir nicht tun.
OT: Die verbindliche Präqualifizierung für alle Hilfsmittelversorger ist von der Politik kassiert worden. Nun dürfen GKV-Spitzenverband und Apotheken sogar gemeinsam darüber beratschlagen, welche Hilfsmittel ohne PQ abgegeben werden. Wenn die beiden Parteien sich beispielsweise darauf einigen, dass Hilfsmittel der Kompressionstherapie dazugehören, was bedeutet das erstens für die Qualität der Versorgung und zweitens für die Online-Versorgung?
Reuter: Egal, um welche Produktgruppe es im Bereich zwischen Blindenhund und Handwerksbrief geht – ich finde es unerträglich, dass die zuständigen Berufsverbände einfach von der Politik vor die Tür gesetzt werden. Jetzt soll der für die wirtschaftlichen Belange zuständige Deutsche Apotheker Verband – also noch nicht einmal der Berufsverband – über Versorgungsbereiche verhandeln, die in der Mehrheit überhaupt nicht in Apotheken abgegeben werden. Nur knapp zehn Prozent der Versorgungen mit Hilfsmitteln werden von Apotheken verantwortet. In der Berufsausbildung der Apotheker kommt die Hilfsmittelversorgung überhaupt nicht vor. Im besten Fall kennen sich Apotheker bei Medizinprodukten aus, was einen riesigen Unterschied macht. Nur weil Sie zum Beispiel lernen, was ein CE-Kennzeichen ist und vielleicht auch wissen, wie ein Herzschrittmacher oder ein Stent aufgebaut ist – können Sie ihn noch lange nicht versorgen. Wenn Sie eine Spritze verkaufen können, heißt es noch nicht, dass Sie eine Spritze setzen können. Warum soll es dann bei einem Insulinpen anders sein? Medizinprodukte sind von Hilfsmittelversorgungen klar zu trennen! Was uns auch große Sorgen macht: Die meisten Versicherten, die eine Hilfsmittelversorgung benötigen, sind multipel krank, haben eine Behinderung oder gehören der Generation 65 plus an. Apotheken haben in der Regel noch nicht einmal eine Behindertentoilette. Im Jahr 2023 vor dem Hintergrund der Inklusion und der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ein absolutes No-Go! Für uns unverhandelbar! Daher haben wir die Verfassungsbeschwerde gegen das Engpassgesetz beauftragt.
OT: Gleichzeitig besagt das neue Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz, dass Apothekenverbände und der GKV-Spitzenverband bis Ende dieses Jahres definieren sollen, welche Hilfsmittel in Apotheken ohne Präqualifizierung abgegeben werden dürfen. Besteht da nicht die Gefahr, dass Hilfsmittel über das E‑Rezept verordnet werden und damit automatisch in der Apotheke landen?
Reuter: DocMorris steht längst in den Startlöchern. Jetzt haben sie ein Vertragsverletzungsverfahren bei der EU eingereicht, dass sie als Online-Versorger in Deutschland benachteiligt sind. Derzeit sehen wir jedoch, dass die Bundesregierung sich klar gegen die Online-Versorgung stellt. Auch die Aufsichtsbehörde der Krankenkassen hat sich deutlich dafür ausgesprochen, dass Online-Versorgungen nicht dem gesetzgeberischen Willen entsprechen. Wenn also hier ein Dammbruch kommen sollte, dann nicht wegen der Apotheken, sondern weil die Bundesregierung ihrer Verantwortung nicht nachkommt und sich doch für Leistungskürzungen bei den Schwächsten in dieser Gesellschaft entscheidet. Dann stellt sie Billigkeit vor Sachleistungsprinzip und medizinischer Versorgung nach Stand der Technik. Aber wie gesagt, das sehe ich im Moment nicht. Im Gegenteil.
OT: Viele Sanitätshäuser bieten einen Online-Rezeptservice an. Dieser kann je nach Betrieb sehr unterschiedlich gestaltet sein. Von einer Übermittlung eines Fotos per Whatsapp und dem versandkostenfreien Versenden bis zur Übermittlung der Daten über gesicherte Kanäle und Anpassung und Abholung im Betrieb reicht die Bandbreite. Warum unterscheiden sich die Angebote der Sanitätshäuser so sehr und kann aus diesem Flickenteppich nicht einheitlicher Service zugunsten von Patient:innen, Leistungserbringern und Kostenträgern geschaffen werden, der keine Grauzonen für eine patientengefährdende Versorgung in sich trägt?
Reuter: Also, ob diese Bandbreite dem DSGVO entspricht, möchte ich mal deutlich infrage stellen. Daher ist es schon allein wegen des Datenschutzes wichtig, dass die E‑Verordnung für Hilfsmittel zügig kommt. Hier soll ein einheitlicher Standard, rechts- und gematikkonform und mit freier Wahl des Leistungserbringers durch die Patient:innen erfolgen, der alle Beteiligten mit einschließt: vom Arzt über Patient:innen und Orthopädietechniker:innen bis zur Krankenkasse.
OT: Was würden Sie sich wünschen, in welche Richtung Politik, Kostenträger und Leistungserbringer in naher wie ferner Zukunft gehen sollten?
Reuter: Ich habe großes Verständnis, dass alle auf ihre Budgets achten wollen. Unseren Häusern rennen ja auch die Kosten davon. Aber Politik, Kostenträger und wir Leistungserbringer müssen aus dem Denken in linke Tasche und rechte Tasche herauskommen. Wir haben die gemeinsame Aufgabe, gemäß den gesetzlichen Vorgaben die Menschen zu versorgen und Teilhabe zu ermöglichen, und das langfristig. Wir müssen also langfristig und in gesamtgesellschaftlichen Kosten denken.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.
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