OT: Herr Reuter, vor ungefähr zwei Jahren waren Sie in Leipzig vor Ort und schauten vom Podium in fast leere Messehallen. Wie groß ist die Freude, dass endlich wieder eine persönliche Begegnung bei der OTWorld 2022 möglich ist?
Alf Reuter: Sehr groß! Endlich! Ich wurde am 10. März 2020 von den Delegierten der Innungen zum Präsidenten gewählt und stehe seitdem in der Verantwortung für 4.500 Betriebe. Es galt sie über die Krise hinweg auf dem Markt und die Patientenversorgung in Deutschland weiter auf Kurs zu halten. Das alles größtenteils über Videokonferenzen. Ich konnte nur bei ein paar Innungsversammlungen persönlich die Arbeit des BIV-OT vorstellen – mein Verständnis von Standesvertretung bedeutet jedoch, dass ich ganz nah am Bedürfnis der Betriebe handele: Und dafür muss ich sie kennen, hören, mit ihnen sprechen. Ich brauche den persönlichen Dialog. Ich bin unendlich dankbar, als Gastgeber der OTWorld unsere Betriebe auf der weltweit führenden Veranstaltung des Faches persönlich begrüßen zu dürfen.
OT: Die Corona-Pandemie begleitet Sie seit Ihrer Amtsübernahme als Präsident des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik. 2020 mussten Sie die Präsenzveranstaltung der OTWorld absagen und den „Umweg“ über die digitale OTWorld.connect nehmen. Welche Erinnerung hat sich für Sie aus dieser Zeit am nachhaltigsten eingeprägt?
Reuter: Der Moment, als bei der OTWorld.connect der Abspann lief. Wo alles gesagt und alles geschafft war. Da ist eine riesige Last von unseren Schultern gefallen. Denn so ein Format hat vor uns niemand gewagt und in der Größe umgesetzt. Es gab keinen Testlauf, kein Netz und keinen doppelten Boden. Wir hätten grandios scheitern können. Aber dank des Einsatzes der Leipziger Messe und unserer Mannschaft haben wir etwas hinbekommen, was sich wirklich gut sehen ließ. Wir haben den weltweit größten Medizinkongress zur Technischen Orthopädie mit sechs Live-Kanälen und Simultanübersetzung umgesetzt. In der Pandemie haben wir damit den fachlichen Austausch weltweit sichergestellt.
OT: Sie werden wieder Gastgeber des Branchenpolitischen Forums sein. Was erwarten Sie von der zweiten Auflage dieses Formats?
Reuter: Wie schon beim ersten Mal haben wir Menschen eingeladen, die, im besten Sinne, etwas zu sagen haben. Mit diesen Menschen zu diskutieren, ist so schon ein Gewinn. Wir wollen zeigen, wie es da draußen in der Welt der Hilfsmittelversorgung ausschaut. Wie sind die Meinungen und Sichtweisen der einzelnen Player und wie bekommt man diese zusammen? Die sehr großen Teilnehmerzahlen und das tolle Feedback haben uns einfach gezeigt: Wir haben etwas zu sagen. Es sind daraus auch Initiativen entstanden – so haben wir nach diesem Forum beschlossen, dass wir das Bündnis „Wir versorgen Deutschland“ konkret angehen und eine Stimme der Leistungserbringer in Deutschland etablieren wollen, die klar für die Verbesserung der politischen Entscheidungen eintritt. Wir haben die Verantwortung erkannt: Einigkeit kommt nicht einfach so. Die Auseinandersetzung im Fach ist selbst ein ernstzunehmender demokratischer Prozess – nur so kann man mit einer überzeugenden Stimme in der Gesundheitspolitik agieren. In diesem Jahr ist „Wir versorgen Deutschland“ fester Partner des Forums und wird auch in anderen Formaten der OTWorld eine Rolle spielen.
OT: Welche thematischen Schwerpunkte werden gesetzt?
Reuter: Wir haben das Forum unter das Motto „Verantwortung“ gestellt. Denn in der Corona-Krise ist nicht nur der Politik aufgefallen, wie fragil unser Gesundheitswesen ist. Einen großen Teil unserer Kommunikation mussten wir darauf verwenden, deutlich zu machen, welche Rolle Hilfsmittelversorgung im Gesundheitswesen spielt. Wir mögen mit rund 25 Millionen Versorgungen pro Jahr noch einen relativ kleinen Part in der GKV spielen – aber das bedeutet konkret: Wir sind fester Bestandteil der konservativen Therapie, reduzieren Krankheitstage, sind elementar bei der Arbeitssicherheit und sichern die Teilhabe an der Gesellschaft von Menschen mit Behinderung. Eine ganz besondere Verantwortung kommt der Hilfsmittelversorgung zu, weil sie an der Schnittstelle von Mensch und Technik ansetzt. Wir sind Innovationstreiber und Vorreiter in der Digitalisierung der Versorgungskonzepte. Durch unsere besondere Ausbildung im Gesundheitshandwerk haben wir Kompetenzen, die weltweit einmalig sind. Dies ist der Grund, warum wir nicht nur weltweit Versorgungsstandards gestalten, sondern auch die führenden Produzenten von Hilfsmitteln in Deutschland verankert sind. Denken Sie an Ottobock, Bauerfeind, Teufel etc. Auf der OTWorld wird daher auch entschieden, welche Versorgungsoptionen in den nächsten Jahren im Versorgungsalltag weltweit ankommen werden.
OT: Können Sie schon ein paar Gesprächspartner nennen?
Reuter: Es werden u. a. Vertreter der Bundespolitik, der Krankenkassenverbände, Ärzteschaft und Patienten dabei sein. Die namentliche Liste der Diskutanten wird aktualisiert auf der Website der OTWorld abrufbar sein.
OT: Die OTWorld ist schon durch ihren Namen als weltweite Veranstaltung der Branche kenntlich gemacht. Wie wichtig ist ein Treffpunkt über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg?
Reuter: Wenn man sich anschaut, dass ca. die Hälfte der Aussteller nicht aus Deutschland kommt, beantwortet sich die Frage schon fast von allein. Für viele europäische Kollegen ist die OTWorld ein Pflichttermin. Auch die Besucher kommen aus der ganzen Welt – unter anderem meldet die Leipziger Messe schon Ticketverkäufe nach Ghana, Neukaledonien, Norwegen, in den Libanon und den Irak. Die Hilfsmittelversorgung ist auf der ganzen Welt ein wichtiges Thema, sie funktioniert aber nicht überall gleich. Gesetzliche Regelungen, finanzielle Möglichkeiten, Bildungswege in die Technische Orthopädie und nicht zuletzt die Kultur wirken sich ganz unterschiedlich aus. Die OTWorld bietet den richtigen Rahmen für den grenzübergreifenden Austausch und das gegenseitige Lernen voneinander. Das Format der Interdisziplinären Leuchttürme zeigt etwa Versorgungsnetzwerke aus Amsterdam und Chicago, bei denen Mediziner, Therapeuten und Techniker gemeinsam ihre Kooperation der Versorgung vorstellen. Besonders spannend sind natürlich auch die vielen Innovationen und Weiterentwicklungen aus der ganzen Welt. Einen so umfassenden Marktüberblick gibt es auf keiner vergleichbaren Veranstaltung.
OT: Sie haben das Bündnis „Wir versorgen Deutschland“ bereits angesprochen. Was kann diese „geeinte Stimme“ bewirken?
Reuter: Eines steht doch fest: Wir müssen im Sinne unserer Branche endlich unser Durchsetzungsvermögen gegenüber der Politik erhöhen. Allerdings werden wir erst dann eine ernstzunehmende politische Rolle spielen, wenn wir lernen und verstehen mit eben jener geeinten Stimme zu sprechen. Natürlich bedarf es dafür einer ganzen Reihe von Paradigmenwechsel, für jeden von uns. Wir haben auf der letzten OTWorld von der Bundespolitik die Hausaufgabe mitbekommen, dass wir uns endlich einigen und mit besagter Stimme sprechen sollen. Das haben wir gemeinsam mit „Wir versorgen Deutschland“ nun auf den Weg gebracht. Die Mitgliederversammlung hat den Verein gegründet und die Adresse in Berlin steht.
OT: Wie wichtig ist der gemeinsame Auftritt der Branche auf der OTWorld gegenüber der Bundespolitik?
Reuter: Bei meinen ersten Besuchen im politischen Berlin wurde ich von Bundespolitikern öfter gefragt: Welche Telefonnummer haben die Hilfsmittel-Leistungserbringer? Zu dem Zeitpunkt gab es noch viele. Jeder hat seine eigenen politischen Stellungnahmen herausgegeben und wenig darin war untereinander abgesprochen. Sie hatten also einen Chor, der durcheinander gesungen hat. Jetzt haben wir eine Stimme, die dadurch auch noch lauter geworden ist.
OT: Mit Bündnis 90/Die Grünen und der FDP sind zwei neue Parteien gemeinsam mit der SPD in der Regierungsverantwortung im Bund. Haben Sie einen Kurswechsel mit Blick auf die Branche bereits ausgemacht?
Reuter: Der größte Kurswechsel ist nach meiner Wahrnehmung nicht von Parteipolitik geprägt, sondern von der historisch neuen Lage. Die Politik weiß, dass die Kommerzialisierung und das „immer billiger“ dazu geführt haben, dass wir kein stabiles Gesundheitswesen mehr haben. In der Pflege finden sich keine Fachkräfte mehr, die für einen Hungerlohn arbeiten und Anbieter von High-Tech, Reha-Technik und Homecare wandern ins Ausland ab und sorgen für massive Engpässe bei der Versorgung, wenn Frachtkosten steigen. Die Kombination von Beitragsstabilität, Wirtschaftszweig, Innovationstreiber und Sachleistungsprinzip im GKV-System braucht neue Lösungen. Und eine Option ist mit unserem Gesundheitsminister klar und deutlich ausgeschlossen: Leistungskürzungen.
OT: Die Themen Nachhaltigkeit sowie Klimaschutz spielen sowohl in der Bundespolitik als auch auf der OTWorld eine Rolle. Was wird aus Ihrer Sicht in diesem Bereich auf das Fach zukommen?
Reuter: Nachhaltigkeit ist ein großes Thema. Das Dogma der ehemaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt „freier Wettbewerb sorgt für bessere Versorgung“ ist gescheitert. Wir haben weniger als 100 Krankenkassen, deren Finanzbasis sehr zu wünschen übrig lässt und die Versorgung ist durch die Ausschreibungen so in den Keller gegangen, dass der Gesetzgeber die Notbremse ziehen musste. Gesundheitspolitik muss mit Augenmaß und auf Langfristigkeit angelegt sein. Das erreicht man nicht, indem man das Gesundheitswesen immer mehr börsennotierten Venture-Kapitalgesellschaften überlässt. Die Diskussion im Bundestag über die Entlassung von Pflegepersonal mitten in der Pandemie durch Sana-Kliniken hat hier im Bewusstsein der Politik auch ein Umdenken gebracht. Klimaschutz ist natürlich auch ein Thema, das auch vor dem Gesundheitswesen nicht Halt macht. Am Mittwoch, den 11. Mai, werden wir auf dem Messegelände parallel zur OTWorld das Handwerksforum Ost begrüßen dürfen und hier die Themen Nachhaltigkeit und Klimawandel in den Mittelpunkt stellen.
OT: 2022 wird Ihre erste OTWorld in Präsenz als BIV-OT-Präsident sein. Haben Sie schon eine Vorstellung von dem, was auf Sie zukommen wird in den vier Tagen in Leipzig?
Reuter: Mein Vorgänger Klaus-Jürgen Lotz hat auf diese Frage immer nur mit den Augen gerollt und irgendwas von Wahnsinn gemurmelt. Ein überquellender Terminkalender, sehr viele spannende Menschen und Gespräche, einige Kilometer zu Fuß und ganz wenig Schlaf. Ich werde mich überraschen lassen.
OT: Zum Abschluss: Wenn Sie sich eine Teilnehmerin oder einen Teilnehmer für das Branchenpolitische Forum wünschen dürften, wer sollte das sein?
Reuter: Keine Frage, das wäre Karl Lauterbach, oder lassen Sie es mich wie folgt ausdrücken: #wewantkarl.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.
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