Ortho­pä­die­tech­ni­sche Ver­sor­gung von Pati­en­ten mit Spi­na bifida

U. Herde
Die orthopädietechnische Versorgung und therapeutische Begleitung von Kindern mit Spina bifida ist durch die Versorgungsleitlinien nach Prof. Dr. Adriano Ferrari seit über 30 Jahren europaweit etabliert. Hierbei kommt der präventiven orthetischen Versorgung und der therapeutischen Gangschulung besondere Bedeutung zu. Das frühzeitige Erkennen und Definieren des Lähmungsniveaus ist dabei genauso wichtig wie das therapeutische Einbeziehen der Hilfsmittel in die Behandlung und deren Gebrauch. Über die enge Zusammenarbeit des interdisziplinären Versorgungsteams kann die Gehfähigkeit der Kinder auf diese Weise häufig weit über die Pubertät hinaus erhalten werden, was ein hohes Maß an Lebensqualität und Lebensfreude für diese Kinder bedeutet.

Ein­lei­tung

Durch­schnitt­lich tritt Spi­na bifi­da in Deutsch­land bei etwa einer von 1.000 Gebur­ten auf, wobei eine leich­te Häu­fung für das weib­li­che Geschlecht zu ver­zeich­nen ist. Neben dem pri­mär ersicht­li­chen Wir­bel­spalt lie­gen meist wei­te­re Fehl­bil­dun­gen (Chia­ri-II-Mal­for­ma­ti­on, Hydro­ce­pha­lus) vor. Im Rah­men der ers­ten Unter­su­chun­gen müs­sen beglei­ten­de Organ­fehl­bil­dun­gen (renal, uro­ge­ni­tal, anorec­tal, car­di­al) aus­ge­schlos­sen wer­den. Die pri­mä­re Behand­lung besteht zunächst im ope­ra­ti­ven Ver­schluss des Wir­bel­spalts und ggf. der Ver­sor­gung des Hydro­ce­pha­lus mit einem Shunt.

Mul­ti­dis­zi­pli­nä­res Team erforderlich

Auf­grund der kom­ple­xen Sym­pto­ma­tik soll­te die wei­te­re Betreu­ung der Pati­en­ten in einem mul­ti­dis­zi­pli­nä­ren Team bestehend aus Neu­ro­päd­ia­ter, Uro­lo­gen, Neu­ro­chir­ur­gen, Ortho­pä­den, Kin­der­chir­ur­gen, Phy­sio­the­ra­peu­ten, Ergo­the­ra­peu­ten, Ortho­pä­die-Tech­ni­ker, Psy­cho­lo­gen und den Mit­ar­bei­tern des Sozi­al­diens­tes durch­ge­führt wer­den. Neben der Behand­lung der regel­haft auf­tre­ten­den neu­ro­ge­nen Bla­sen- und Mast­darm­stö­rung muss im wei­te­ren Ver­lauf auch auf mög­li­che neu­ro­lo­gi­sche Kom­pli­ka­tio­nen z. B. tethe­red cord oder Syrin­go­mye­lie geach­tet wer­den. Die­se kön­nen eben­so ursäch­lich für zuneh­men­de Kon­trak­tu­ren oder das Fort­schrei­ten einer Sko­lio­se sein und müs­sen somit recht­zei­tig erkannt und ggf. the­ra­piert werden.

Prä­ven­ti­on und Kom­pen­sa­ti­on im Fokus

Die ortho­pä­die­tech­ni­sche und ortho­pä­di­sche Behand­lung kon­zen­triert sich im Kon­text mit den beglei­ten­den Erkran­kun­gen auf die Prä­ven­ti­on von Kon­trak­tu­ren, Frak­tu­ren und Sko­lio­sen sowie die Kom­pen­sa­ti­on läh­mungs­be­ding­ter funk­tio­na­ler Defi­zi­te zur Erlan­gung einer mög­lichst gro­ßen Eigen­mo­bi­li­tät des Pati­en­ten. Kommt es zu Kon­trak­tu­ren, die ggf. auch früh­zei­tig ope­ra­tiv behan­delt wer­den müs­sen, gel­ten die genann­ten Ver­sor­gungs­zie­le und unten auf­ge­führ­ten Ver­sor­gungs­bei­spie­le auch postoperativ.

Die ortho­pä­die­tech­ni­sche Ver­sor­gung ori­en­tiert sich am kli­nisch ermit­tel­ten Läh­mungs­ni­veau des Pati­en­ten. Die­ses stellt sich in vie­len Fäl­len auch mit nicht sei­ten­glei­chem, also asym­me­tri­schem, Läh­mungs­bild dar. Hier­zu wird die Mus­ku­la­tur auf ihre erhal­te­ne Kraft und Funk­ti­on unter­sucht und ent­spre­chend ein­ge­teilt. Die Ein­stu­fung des Kraft­grads und die dar­aus resul­tie­ren­den Mus­kel­funk­tio­nen und Mög­lich­kei­ten erfolgt nach Jan­da (sie­he auch Tab. 1). Ist ein Funk­ti­ons­test nicht durch­führ­bar, wird das Läsi­ons­ni­veau über die Bewe­gungs­mög­lich­kei­ten des Kin­des defi­niert und dokumentiert.

Inwie­weit das the­ra­peu­ti­sche Ziel – the­ra­peu­ti­sches Ste­hen, the­ra­peu­ti­sches Gehen, Trans­fer­ge­hen, eigen­stän­di­ge Mobi­li­tät – erreicht wer­den kann, hängt aller­dings nicht nur von der defi­nier­ten Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung ab. Die men­ta­len Fähig­kei­ten des Pati­en­ten, die Moti­va­ti­on von Pati­ent und Eltern, The­ra­peut, Schu­le sowie die räum­li­chen Ver­hält­nis­se und Mög­lich­kei­ten beein­flus­sen eben­falls wesent­lich den Behandlungserfolg.

Orthe­sen bei Spi­na bifida

Bei der ortho­pä­die­tech­ni­schen Ver­sor­gung muss berück­sich­tigt wer­den, dass die Kör­per­ab­schnit­te wie die Wir­bel­säu­le und das Bein sowie die zuge­hö­ri­gen Gelen­ke mög­lichst ortho­grad zuein­an­der posi­tio­niert wer­den. Solan­ge die Gelen­ke in ana­to­misch kor­rek­ter Posi­ti­on ste­hen, sind die­se opti­mal belast­bar und mit wenig Kraft­auf­wand von den Pati­en­ten in der Neu­tral­stel­lung zu stabilisieren.

Bei der Spi­na bifi­da wer­den die meis­ten Defor­mi­tä­ten zum einen durch die mus­ku­lä­ren Defi­zi­te und Imba­lan­cen und zum ande­ren durch die Ver­ti­ka­li­sie­rung ver­ur­sacht. Die Schwer­kraft wirkt dann in die­ser Posi­ti­on andau­ernd ver­for­mend auf den Bewe­gungs­ap­pa­rat. Orthe­sen müs­sen daher die Siche­rung der Gelen­ke durch die Unter­stüt­zung der Mus­ku­la­tur errei­chen und eine phy­sio­lo­gi­sche Posi­tio­nie­rung der Gelen­ke sowohl in der sagit­ta­len als auch in der fron­ta­len Ebe­ne erzie­len. Kann ein Ske­lett­ab­schnitt ana­to­misch nicht mehr kor­rekt aus­ge­rich­tet wer­den, wie z. B. bei beglei­ten­den struk­tu­rel­len Fehl­for­men wie der Klump­fuß­de­for­mi­tät, so wird durch die Orthe­se im Bereich der expo­nier­ten knö­cher­nen Gelenk­an­tei­le eine ver­mehr­te Kraft über­tra­gen, die zu ent­spre­chen­den Druck­stel­len füh­ren kann. Wird eine Druck­stel­le aus­ge­fräst und damit ent­las­tet, nimmt die Defor­mi­tät in der Regel zu. Tre­ten Druck­stel­len auf, muss des­halb der Druck um die­se Stel­len her­um nach Mög­lich­keit erhöht wer­den, um so eine best­mög­li­che Kor­rek­tur und Druck­ver­tei­lung sowie eine mini­ma­le Achs­ab­wei­chung zu gewährleisten.

Die Fra­ge nach der Indi­ka­ti­on für eine ope­ra­ti­ve Kor­rek­tur soll­te daher durch die fach­ärzt­li­che Dis­zi­plin des inter­dis­zi­pli­nä­ren Teams stets erör­tert wer­den, da gera­de bei sehr mobi­len Pati­en­ten die Funk­tio­na­li­tät der Bewe­gung durch die Kon­trak­tu­ren deut­lich nachlässt.

Sys­te­ma­ti­sie­rung der Versorgung

Vier Punk­te sind beson­ders wich­tig für die Sys­te­ma­ti­sie­rung der ortho­pä­die­tech­ni­schen Ver­sor­gung: die ein­heit­li­che Nomen­kla­tur, die Bestim­mung des Läh­mungs­ni­veaus aus Bewe­gungs­mus­tern und durch die regel­mä­ßi­ge Erhe­bung des Gelenk- und Mus­kel­sta­tus, die prä­ven­ti­ve ortho­pä­die­tech­ni­sche Ver­sor­gung und die stan­dar­di­sier­ten Behandlungsformen.

Ein­heit­li­che Nomenklatur

Hier ist dar­auf zu ach­ten, dass in unter­schied­li­chen Zen­tren bei der Benen­nung des Läh­mungs­ni­veaus – zum Bei­spiel L5 – ent­we­der das ers­te betrof­fe­ne Wir­bel­säu­len­seg­ment oder das ers­te funk­tio­na­le Wir­bel­säu­len­seg­ment benannt wird. Im vor­lie­gen­den Arti­kel und den Tabel­len wird das ers­te nicht mehr betrof­fe­ne, funk­tio­na­le Seg­ment benannt.

Bestim­mung des Lähmungsniveaus

Um einen Behand­lungs­plan für das Kind erstel­len zu kön­nen, muss das Läh­mungs­ni­veau früh­zei­tig bestimmt und min­des­tens halb­jähr­lich bis zur Puber­tät kon­trol­liert und oder neu defi­niert wer­den. Die­se regel­mä­ßi­gen Kon­trol­len sind erfor­der­lich, da sich das Läh­mungs­ni­veau auf­grund der Ver­wach­sun­gen des Rücken­marks und even­tu­ell durch­ge­führ­ter ope­ra­ti­ver Lösun­gen ver­än­dern kann.

Da die Erhe­bung eines dif­fe­ren­zier­ten Mus­kel­sta­tus eine gute Zusam­men­ar­beit und ein gewis­ses Ver­ständ­nis des Kin­des vor­aus­setzt, ist die­ser häu­fig erst ab dem drit­ten Lebens­jahr aus­sa­ge­kräf­tig mög­lich. Bei klei­ne­ren Kin­dern muss das Läh­mungs­ni­veau daher über die Bewe­gungs­mög­lich­kei­ten und die Bewe­gungs­mus­ter des Kin­des abge­lei­tet wer­den. Über den Kraft­grad der ein­zel­nen Mus­kel­grup­pen kann dann das Läh­mungs­ni­veau gemäß Tabel­le 1 bestimmt werden.

Die aus dem Läh­mungs­ni­veau resul­tie­ren­den Pri­mär- und Sekun­där­de­for­mi­tä­ten müs­sen ortho­pä­die­tech­nisch und gege­be­nen­falls auch ope­ra­tiv behan­delt werden.

Prä­ven­ti­ve ortho­pä­die­tech­ni­sche Versorgung

Wer­den das Läh­mungs­ni­veau und die damit ent­ste­hen­den Kon­trak­tu­ren bestimmt, soll­te bei Kin­dern mit der erfor­der­li­chen prä­ven­ti­ven Ver­sor­gung begon­nen und ein Behand­lungs­plan auf­ge­stellt wer­den. Die in Tabel­le 2 benann­ten Defor­mi­tä­ten erge­ben sich aus der moto­ri­schen Läh­mung der Kin­der. Die­sen zu erwar­ten­den Defor­mi­tä­ten muss daher noch, bevor sie sich aus­bil­den, über Lagerungs‑, Kor­rek­tur- und Funk­ti­ons­or­the­sen sowie Phy­sio­the­ra­pie ent­ge­gen­ge­wirkt werden.

Wich­tig bei der Behand­lung der Hüft­lu­xa­ti­on ist, dass die­se nicht in der sonst übli­chen Abspreiz­hal­tung erfolgt, son­dern dass die Hüf­te wegen der sich ein­stel­len­den Abduk­ti­ons-Außen­ro­ta­ti­ons­kon­trak­tu­ren in einer 0°-Abduktionsstellung orthe­tisch ein­ge­stellt wird. Eben­so ist bei der Klump­fuß­be­hand­lung das Knie auf­grund der zu erwar­ten­den Knie­beu­ge­kon­trak­tu­ren in einer 30°-Beugestellung einzustellen.

Da über das Wachs­tum grund­sätz­lich die Hebel­ver­hält­nis­se der unte­ren Extre­mi­tät zu einer ver­mehr­ten Val­gusstel­lung im Knie­ge­lenk füh­ren, ist auch bei tie­fen lum­ba­len Läsio­nen der Ein­satz von Ober­schen­kel­or­the­sen sinn­voll. Wer­den in die­sem Fall die Orthe­sen erst mit Beginn der Defor­mi­tät erwei­tert, bedeu­tet das für die Eltern und Kin­der in der Regel einen Rück­schritt und erschwert die Com­pli­ance der Orthesen.

Stan­dar­di­sier­te Behandlungsformen

Die the­ra­peu­ti­sche Ziel­set­zung rich­tet sich im Wesent­li­chen, bezo­gen auf das ermit­tel­te Läh­mungs­ni­veau, auf die Ver­mei­dung der zu erwar­ten­den Kon­trak­tu­ren. Fer­ner sol­len die Kin­der bei der Ver­ti­ka­li­sie­rung alters­ge­recht unter­stützt wer­den und im Gebrauch, dem Hand­ling und der Funk­ti­on der Orthe­sen geschult wer­den. Dies ist erfor­der­lich, um die Orthe­sen früh­zei­tig in das Kör­per­sche­ma zu inte­grie­ren und so eine maxi­ma­le Funk­tio­na­li­tät und einen best­mög­li­chen Nut­zen der Hilfs­mit­tel zu gewähr­leis­ten (sie­he Tab. 3).

Zudem ist die the­ra­peu­ti­sche Unter­stüt­zung zum Fin­den neu­er Stra­te­gien – bei­spiels­wei­se zum Auf­ste­hen – bei der Ver­sor­gung mit funk­tio­na­len Orthe­sen eben­so wich­tig wie auch die Gang­schu­lung mit ent­spre­chen­der Anlei­tung der Kin­der zur Stre­ckung der Hüf­te in der Ver­ti­ka­len. Hier­bei ist zu beach­ten, dass der Sprung­ge­lenks­win­kel der Orthe­se cir­ca 3°-Beugestellung auf­wei­sen muss. Ein the­ra­peu­ti­scher Leit­fa­den ist in Tabel­le 4 dargestellt.

Zusam­men­fas­send ist die orthe­ti­sche Ver­sor­gung von Kin­dern mit Spi­na bifi­da nach den Ver­sor­gungs­leit­li­ni­en von Prof. Dr. Adria­no Fer­ra­ri, an denen sich auch die­ser Arti­kel ori­en­tiert, in Euro­pa Stan­dard und seit vie­len Jah­ren etabliert.

Der Autor:
Udo Her­de
Ortho­pä­die Forum GmbH
Essen­ba­cher Stra­ße 23
91054 Erlan­gen
Udo.Herde@orfo.de

Lite­ra­tur beim Verfasser

Begut­ach­te­ter Beitrag/Reviewed paper

Zita­ti­on
Her­de U. Ortho­pä­die­tech­ni­sche Ver­sor­gung von Pati­en­ten mit Spi­na bifi­da. Ortho­pä­die Tech­nik, 2013; 62 (6): 48–51
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