Einleitung und Motivation
Dem Prothesenschaft kommt als technische Schnittstelle zum Patienten eine besondere Bedeutung zu, um die auftretenden Normal- und Scherkräfte in den Stumpf einzuleiten. Darüber hinaus ist der individuell angepasste Prothesenschaft ein zentraler Faktor für den Tragekomfort sowie das Sicherheitsempfinden und beeinflusst maßgeblich den Erfolg der Versorgung. Wenngleich es viele Empfehlungen für die Geometrieanpassung eines Schaftes gibt, ist nach wie vor unklar, nach welchen Kriterien ein Schaft aus der Sicht von Orthopädie-Technikern und Nutzenden gleichermaßen als „gut“ bewertet wird. Gründe hierfür sind sowohl die vielseitigen praktischen und empirisch gewonnenen Erkenntnisse der Orthopädie-Techniker als auch die Individualität der Nutzenden (bspw. hinsichtlich Anatomie und Aktivitätsniveau). Neben diesen Rahmenbedingungen fließen auch sogenannte Human Factors wie z. B. Erwartungshaltung, Körperschemaintegration und Außenwahrnehmung 1 in die Bewertung des Prothesensystems mit ein.
Im Rahmen des hier beschriebenen Forschungsprojekts wird daher ein ganzheitlicher Ansatz verwendet, um die Interaktion von Stumpf und Schaft in dynamischen Gangsituationen zu untersuchen und zu objektivieren. Zu diesem Zweck kommen neben der biomechanischen Ganganalyse und der Quantifizierung der Druckzonen im Schaft weitere Methoden zur biomechanischen Modellierung und Simulation sowie Methoden der psychologischen Nutzerbefragung zum Einsatz (Abb. 1). Über das Ziel des Projekts und den ganzheitlichen Ansatz wurde bereits zu Projektbeginn in der OT (Ausgabe Mai 2016) berichtet 2.
In diesem Artikel werden die verschiedenen Messsysteme, die zur Erhebung der dynamischen Stumpf-Schaft-Interaktion verwendet wurden, im Hinblick auf ihre Eignung diskutiert und das letztlich etablierte Messprotokoll vorgestellt. Sodann wird das entwickelte biomechanische Modell zur Abbildung der dynamischen Interaktion an der Stumpf-Schaft-Schnittstelle erläutert. Abschließend wird der ganzheitliche Projektansatz diskutiert, Empfehlungen für die Praxis ausgesprochen und ein Ausblick auf weitere notwendige Forschungsarbeiten vermittelt.
Etabliertes Messprotokoll
Die Stumpf-Schaft-Interaktion soll in dynamischen Gangsituationen anhand subjektiver und objektiver Messgrößen analysiert werden. Um dies zu ermöglichen, müssen sowohl stabile Parameter wie Persönlichkeitsmerkmale und Anamnesedaten berücksichtigt als auch temporäre Parameter wie Schaftverhältnisse (objektives Nutzererleben) und Wohlbefinden (subjektives Nutzerempfinden) während der Messungen erfasst werden. Abbildung 2 vermittelt einen Überblick über die im Rahmen des Projekts erhobenen Messdaten, die im Folgenden erläutert werden.
Vor der Erhebung der experimentellen Daten wird eine ausführliche und aktuelle Anamnese des Probanden durch orthopädisches Fachpersonal durchgeführt. Zur Erfassung der Ausprägungen von Persönlichkeitsmerkmalen bezüglich der Dimensionen „Ängstlichkeit“, „Depressivität“ und „Lebenszufriedenheit“ kommen nach Einwilligung der Teilnehmenden etablierte Fragebögen zum Einsatz. Die verwendeten Messinstrumente sind das Beck-Depressions-Inventar (BDI) 3, das State-Trait-Angst-Inventar (STAI) 4 und das European Quality of Life Questionnaire (EQ-5D) 5. Aufgrund der Stabilität dieser Persönlichkeitsmerkmale kann das Ausfüllen der Bögen unabhängig vom Messablauf erfolgen.
Um die dynamische Interaktion zwischen Stumpf und Schaft repräsentativ abzubilden, wurden zu Beginn des Projekts das Gehen in der Ebene sowie auf einer Rampe und das Treppensteigen betrachtet. Zur Objektivierung der Interaktion kam eine Vielzahl technischer Messsysteme zum Einsatz. Als physiologischer Parameter wurde während der einzelnen Messreihen die Herzfrequenz der Teilnehmenden erfasst. Neben den etablierten Ganganalysemethoden zur Erfassung von Kinematik und Kinetik wurden auch Messinstrumente zur Datenaufnahme relevanter Belastungsgrößen des Schaftes verwendet: Innerhalb des Prothesenaufbaus wurden die auftretenden Belastungen direkt unterhalb des Prothesenschafts erfasst; eine weitere dynamische Messgröße ist die Normaldruckverteilung innerhalb des Schafts über Druckmessfolien. Mit Hilfe einer Wärmebildkamera wurden thermische Veränderungen im Bereich des Beinstumpfs zwischen einzelnen Messreihen quantifiziert und analysiert. Des Weiteren wurden Temperatur und Feuchtigkeit zwischen Stumpfoberfläche und Liner zu diskreten Zeitpunkten gemessen.
Die subjektive Beurteilung des Befindens während der laufenden Messungen erfolgte in Form von Wiederholungsmessungen. Dazu wurden die Socket Fit Comfort Scale (SFCS) 6 und der Kurzfragebogen zur aktuellen Beanspruchung (KAB) 7 verwendet. Bei beiden Fragebögen handelt es sich um numerische Ratingskalen, die mit einem Zeitaufwand von ein bis zwei Minuten zu bearbeiten sind. Die SFCS bietet eine elfstufige Auswahl zwischen „überhaupt nicht komfortabel“ und „maximal komfortabel“ bezüglich der Bequemlichkeit des Prothesenschafts. Der KAB besteht aus sechs bipolaren Adjektivpaaren und erfasst körperliche und psychische Beanspruchung in einem resultierenden Summenwert.
Um die lokale Zuordnung der Position der Druckmessfolien zu ermöglichen und die erfolgte Stumpfanamnese zu ergänzen, wurde die dreidimensionale Stumpfgeometrie mit Hilfe eines 3D-Scans erfasst. Die technischen Daten zur verwendeten Messtechnik sind in Tabelle 1 zusammengefasst.
Die Verwendung der umfangreichen Messtechnik und die Betrachtung der drei unterschiedlichen Gangszenarien hat eine sehr lange Versuchsdauer zur Folge: Die Durchführung der Pilotstudie mit einem unterschenkelamputierten Teilnehmer erforderte drei Messtage. Dieser messtechnische und zeitliche Aufwand ist im Rahmen der angestrebten Studie nicht sinnvoll umsetzbar. Durch die Analyse der Pilotstudie konnte jedoch bereits eine erste Reduktion erreicht werden: Abbildung 3 zeigt jeweils die gemessenen Bodenreaktionskräfte einer repräsentativen Standphase der Prothesenseite bei den unterschiedlichen Gangszenarien. Im Gegensatz zur großen Belastungsvariation zwischen dem geraden Gehen in der Ebene (links) verglichen mit dem Treppabgehen (Mitte) sind die Belastungssituationen beim geraden Gehen in der Ebene und auf der Rampe (rechts) von vergleichbarem Niveau. Aus diesem Grund wurde das Messprotokoll im weiteren Verlauf auf die Gangszenarien „Gehen in der Ebene“ und „Treppensteigen“ reduziert.
Darüber hinaus wurde auch die Anzahl der eingesetzten Messsysteme verringert: Aufgrund des geringen Informationsgehalts und der fehlenden Modellintegration wurden weder die diskreten Feuchte- und Temperaturmessungen noch die Herzfrequenz weiter berücksichtigt. In der Auswertung der Wärmebilder war keine Differenzierung der unterschiedlichen Gründe für Wärmeentwicklung (Wärmeisolation Schaft, körperliche Anstrengung, Reibung etc.) möglich, weshalb auch auf diese Messgröße im weiteren Verlauf verzichtet wurde. Durch die Optimierung des zeitlichen Ablaufs konnte letztendlich das im Folgenden beschriebene kompakte Messprotokoll etabliert werden:
Zunächst erfolgt die Aufklärung der Teilnehmenden über das Projekt, den bevorstehenden Messablauf und die Freiwilligkeit der Teilnahme. Dabei werden auch die Fragebögen zur Erfassung der Persönlichkeitsmerkmale (Ausfüllen unabhängig vom Tag der Messung) ausgehändigt und kurz erläutert. Zudem findet eine erste Erhebung des subjektiven Nutzerempfindens statt. Als Ausgangswert für den weiteren Messverlauf und zur Identifikation etwaiger Änderungen durch die angelegte Messtechnik werden sowohl SFCS als auch KAB abgefragt.
Zur demografischen und anthropometrischen Dokumentation werden Alter, Geschlecht, Größe, Gewicht, Mobilitätsgrad, Art/Zeitpunkt/Grund der Amputation und der Prothesenaufbau erfasst. Des Weiteren wird die Stumpfgeometrie in Anlehnung an 8 und abstrahierte Parameter der Schaftgeometrie erfasst. Im Rahmen des Projekts wurde dazu ein dreiseitiger Dokumentationsbogen entwickelt. Des Weiteren erfolgt die Vorbereitung der Messtechnik. Dabei müssen sowohl die selbstreflektierenden Marker des Motion Capturing platziert als auch der Kraft-Momenten-Sensor und die Druckmessfolien in den Prothesenaufbau bzw. den Schaft integriert werden. Die anatomischen Landmarken wurden nach 9 palpiert und mit Markern beklebt. Auf dem Prothesenaufbau wurden mindestens drei Marker je Komponente angebracht, um Position und Orientierung bestimmen zu können. Der Kraft-Momenten-Sensor soll am distalen Ende des Prothesenschaftes oberhalb des Kniegelenks implementiert werden.
Um eine Gewöhnung an mögliche Veränderungen im Prothesenaufbau für den Probanden zu gewährleisten und um die Zeit für die Einstellung des Prothesenaufbaus am Versuchstag minimal zu halten, wurden Sensor-Duplikate aus Aluminium angefertigt. Die Duplikate haben eine identische Aufbauhöhe und Masse. Diese wurden etwa zwei Wochen vor Durchführung der Laborversuche an die Teilnehmenden gesendet und durch Beschäftigte des versorgenden Sanitätshauses an entsprechender Stelle in den Prothesenaufbau integriert. Am Versuchstag wurden die Duplikate vom versuchsbegleitenden orthopädischen Fachpersonal durch den Sensor mittels Lösen der 4‑Loch-Aufnahmen getauscht, sodass keine Veränderung bei Höhe oder Rotation des Prothesenaufbaus entstehen konnte. Zur Erfassung des Normaldrucks im Prothesenschaft werden die notwendigen Sensormatten zwischen Liner und Beinstumpf bzw. zwischen Prothesenschaft und Beinstumpf platziert. Die verwendete Mattenkonfiguration der Novel GmbH wurde bereits bei Messungen mit Amputierten eingesetzt 10.
Direkt nach der Komplettierung der Messvorbereitungen wird erneut das momentane Nutzerempfinden durch SCFS und KAB erfasst. Ziel ist dabei, die Veränderung der Stumpf-Schaft-Schnittstelle durch die eingebrachte Messtechnik und das Wohlbefinden des mit Messtechnik ausgestatteten Probanden zu quantifizieren. Im Anschluss erfolgt ein kurzer Funktionstest der unterschiedlichen Messsysteme, die zeitlich synchronisiert aufgezeichnet werden.
Zu Randomisierungszwecken wurde die Reihenfolge der Messreihen (gerades Gehen in der Ebene, Treppensteigen) variiert. Für das Gehen in der Ebene werden die Kraftmessplatten (50 × 50 cm Fläche) mit einem Abstand von 0,25 m zwischen den Platten in Reihe montiert, um bei normaler Gehgeschwindigkeit der Probanden einen optimalen Fußkontakt auf den Kraftmessplatten zu erhalten. Damit kann für beide Beine innerhalb eines Messdurchgangs sowohl die Bodenreaktionskraft in der Standphase des ipsilateralen Beins als auch die zeitgleiche Doppelkontaktphase des kontralateralen Beins erfasst werden. Insgesamt werden mindestens zehn erfolgreiche Messreihen durchgeführt, wobei nach der Hälfte und nach Abschluss der Messreihen eine erneute Abfrage des Nutzerempfindens durch SFCS und KAB erfolgt.
Im Anschluss erfolgt der notwendige Umbau des Lauflabors: Die Kraftmessplatten werden in die Treppe eingesetzt. Dabei entsteht für den Probanden eine Erholungspause von etwa zwanzig Minuten. Beim Treppensteigen durften die Probanden ihre gewohnten Strategien zur Bewältigung der Treppe einsetzen. So durfte bspw. bei Bedarf ein Geländer zur Sicherung verwendet werden. Wie beim Messablauf des geraden Gangs werden jeweils zehn erfolgreiche Messreihen für das Hoch- und das Heruntergehen der Treppe aufgezeichnet. Ebenfalls werden zur Komplettierung des Nutzerempfindens SCFS und KAB vor Beginn, nach der Hälfte und nach Komplettierung der vollständigen Messreihen durchgeführt.
Nach der messtechnischen Erfassung der dynamischen Stumpf-Schaft-Interaktion in den unterschiedlichen Gangszenarien wird der Stumpf des Probanden im Stand gescannt. Dazu wird der Prothesenschaft und ggf. der Liner ausgezogen. Die Stumpfgeometrie sowie die Position der Druckmessfolien und der Marker werden durch den 3D-Scan festgehalten. Dabei wird auch das aktuelle Befinden des Probanden mittels KAB erfasst. Im Anschluss wird die komplette Messtechnik vom Probanden und aus dessen Prothesenaufbau entfernt. Zum Abschluss der Messung wird nach Wiederherstellung der Alltagsprothese ein letztes Mal das Nutzerempfinden mit SFCS und KAB erfasst.
Die Dauer des beschriebenen Messablaufs inklusive Vorbereitung und Instrumentierung des Probanden beträgt etwa vier Stunden. Mit diesem etablierten Protokoll lassen sich mit vertretbarem Aufwand sowohl subjektive als auch objektive Messgrößen der Stumpf-Schaft-Interaktion während dynamischer Gangsituationen erfassen.
Bei der Probandenakquise stellt die Integration der iPecs-Kraftmessdose in den Prothesenaufbau eine große Herausforderung dar. Die Aufbauhöhe von 45 mm und das Ziel der Positionierung direkt am distalen Schaftende sorgen für Einschränkungen in Bezug auf die Stumpflänge. Im Rahmen des Projekts wurden mit dem etablierten Messprotokoll zwei Studien mit jeweils zwei Probanden im Abstand von sechs Monaten durchgeführt. Tabelle 2 fasst die erhobenen Messdaten in einer Aufstellung der Probanden zusammen.
Mit Hilfe der Daten lassen sich unterschiedliche Fragestellungen im Rahmen von Fallstudien untersuchen. Proband 1 wurde im Abstand von sechs Monaten mit identischen Prothesen- und Schaftkomponenten vermessen. Die Daten sollen im Hinblick auf Kontinuität der Stumpf-Schaft-Interaktion untersucht werden. Im Gegensatz dazu wurde Proband 2 im selben Abstand, aber mit unterschiedlichen Schaftsystemen untersucht. Dabei unterscheidet sich lediglich die Schaftform; der Rest der Komponenten wurde nicht verändert. In Abhängigkeit der Analyseergebnisse von Proband 1 lässt sich bei Proband 2 der Einfluss der Schaftform auf die Stumpf-Schaft-Interaktion untersuchen.
Lokale Modellierung
Der Fokus bei der Modellierung liegt auf der Ermöglichung der Analyse dynamischer Vorgänge in der Schnittstelleninteraktion. Dazu erscheint die exakte Nachbildung der individuellen und komplexen Stumpfgeometrie und ‑konstitution nicht zielführend. Vielmehr geht es darum, ein Modell aufzubauen, welches das dynamische Verhalten der Stumpf-Schaft-Schnittstelle abbilden kann (geringe Modellkomplexität sowie geringe Rechenzeit) und das trotzdem zur Bewertung von Einflussfaktoren auf das Schnittstellenverhalten genutzt werden kann (Individualisierung und Integration physikalischer Gegebenheiten).
Das entwickelte Modell und dessen Implementierung sind in Abbildung 4 dargestellt. Dabei sind der Stumpfknochen und der Prothesenschaft als steife Körper modelliert, die über Weichgewebemodelle miteinander elastisch an acht gleichverteilten Kontaktpunkten (Liner) gekoppelt sind. Zwischen Liner und Schaftwand sind zusätzlich jeweils Reibmodelle implementiert, sodass eine Relativbewegung zwischen Beinstumpf und Prothesenschaft möglich ist.
Eine Simulation erfolgt durch das Aufprägen von Belastungsdaten am distalen Schaftende. Als weitere Randbedingung wird der Knochen in einem ersten Schritt als „Worldframe“ definiert und verbleibt deshalb bewegungslos. In Abhängigkeit von den aufgeprägten Belastungen am distalen Schaftende und den definierten Weichgewebemodellen ergibt sich im Laufe der Simulation ein wiederkehrendes Bewegungsmuster. Nach Abschluss der Simulation können die auftretenden Normal- und Scherbelastungen in den acht Kontaktpunkten ausgelesen werden. Des Weiteren kann eine Analyse der Relativbewegungen zwischen Prothesenschaft und Knochen sowie zwischen Prothesenschaft und Liner (Kontaktpunkte) erfolgen.
Die Individualisierung des Modells wird durch die Integration der erhobenen Messdaten erreicht. Dabei werden durch die Schaftvermessung die abstrahierte Geometrie sowie die Massenverteilung des Prothesenaufbaus angepasst. Aus den gemessenen Umfangswerten des Beinstumpfes während der Anamnese werden Weichgewebedicken abstrahiert und im Modell entsprechend individualisiert. Die Stumpflänge wird ebenfalls an den Probanden angepasst. Des Weiteren werden die aufgeprägten Belastungsdaten aus den erhobenen Messdaten der unterschiedlichen Gangsituationen gewonnen. Der Erstellungsprozess der Belastungsdaten wird durch Abbildung 5 verdeutlicht.
Aus der Anzahl an Messreihen mit gleicher Belastungssituation wird jeweils ein relevanter Gangzyklus des Prothesenbeins identifiziert und extrahiert. Aufgrund der Gangvariabilität müssen die extrahierten Gangzyklen vor der Mittelung normiert werden. Aus den gemittelten Messdaten werden anschließend die Belastungsdaten synthetisiert. Diese bestehen aus der Aneinanderreihung der gemittelten experimentellen Daten, sodass dem Modell individuelle zyklische Eingangsdaten aufgeprägt werden können.
Im Hinblick auf die Individualisierung des Modells sollte einschränkend erwähnt werden, dass eine vollständige Anpassung derzeit noch nicht erfolgt ist: Einige Parameter, besonders in Bezug auf die Stumpfkonstitution und das Weichgewebeverhalten, sind schwierig erfassbar. Während Gewebedicken abgeschätzt wurden, sind die Parameter des Weichgewebemodells physikalisch motiviert 11, aber nicht probandenspezifisch angepasst. Anhand weiterer Messungen wie beispielsweise Magnetresonanztomographie-Daten (MRT) ließe sich der Individualisierungsgrad des Modells weiter erhöhen.
Anhand der im Projekt erhobenen Normaldrücke lässt sich die Güte des entwickelten Modells evaluieren und das Modell iterativ verbessern. Als weitere Validierungsgröße könnte die Relativbewegung zwischen Beinstumpf und Prothesenschaft 12 in Betracht gezogen werden. Mit Hilfe des validierten Modells können die dynamischen Interaktionen an der Schnittstelle simuliert und im Hinblick auf derzeit nicht messbare Einflussparameter wie beispielsweise die auftretenden Scherbelastungen des Weichgewebes untersucht werden.
Erkenntnisgewinn und Praxisempfehlungen
Die Messung und Bewertung der Interaktion von Stumpf und Schaft in dynamischen Gangsituationen bleibt eine große Herausforderung der Orthopädie-Technik. Dennoch kann durch die Ergänzung der biomechanischen Ganganalyse mit Hilfe weiterer Messungen und Nutzererhebungen ein besseres Verständnis erzielt werden. Die in diesem Artikel vorgeschlagene Reduktion der betrachteten Gangszenarien auf „Gehen in der Ebene“ und „Treppensteigen“ erlaubt eine ausreichend gute Abbildung möglicher Belastungen des Schaftes bei deutlich geringerem Messaufwand. Auch der systematische Ausschluss von Messverfahren vereinfacht die Umsetzung von Untersuchungen der Stumpf-Schaft-Schnittstelle.
Die vielversprechende, aber auch oft diskutierte Quantifizierung der Druckzonen im Schaft wird aktuell durch messtechnische Randbedingungen limitiert. Durch die Ergänzung um modellbasierte biomechanische Simulationen kann jedoch ein Grundverständnis individueller Stumpf-Schaft-Charakteristika gewonnen werden. Eine sehr spannende Ergänzung stellen zudem psychologische Befragungen dar, die Aufschluss über das Nutzererleben geben und somit der Schaftoptimierung sehr dienlich sein können.Der Kosten- und Zeitaufwand des vorgestellten Messprotokolls dürfte zwar trotz des reduzierten Umfangs größtenteils Forschungseinrichtungen wie Universitäten, Hochschulen und Forschungsinstituten vorbehalten bleiben. Die gezielte Anwendung einzelner Methoden könnte hingegen durchaus kosten- und zeitsparend in den alltäglichen Ablauf einer Versorgung integriert werden, um einen datenbasierten und damit objektiveren Entscheidungsprozess („evidence-based practice“) zu gewährleisten. Zusätzlich können solche Daten zur eigenen Qualitätskontrolle und Prozessüberwachung hinzugezogen werden. Hierbei sind sicherlich die standardisierten Fragebögen sowie die Messsysteme zur Aufnahme der Prothesenbelastung (Kraftmessplatten und iPecs) zu nennen, da diese lediglich einen geringen zusätzlichen Zeitaufwand zur Datenerhebung erfordern. Druckmessfolien wie die im Projekt genutzten sind für die hier beschriebene Anwendung aufgrund der Handhabbarkeit (z. B. Positioniergenauigkeit, Abdeckung der Schaftwand) im Rahmen einer alltäglichen Versorgungspraxis nur bedingt geeignet.
Die Aufnahme der Nutzererfahrungen ist für die Praxis relevant, um Kenntnisse über die subjektive Beanspruchung zu erlangen. Die Korrelation der Beobachtungen zu biomechanischen Messwerten gestaltet sich aufgrund personenspezifischer Charakteristika jedoch noch schwierig, sodass Folgestudien untersuchen sollten, inwiefern Nutzerfahrungen über Messwerte z. B. zur Prothesenbelastung oder zum Druck im Schaft objektivierbar sind.
Als Grundlage für die biomechanische Modellierung stellt die Messung der strukturinternen Kräfte und Momente – z. B. mit dem iPecs-System – eine sinnvolle Erweiterung des Messaufbaus dar. Die Belastungen der Schnittstelle können je nach Prothesenaufbau direkt unterhalb des Schaftes aufgezeichnet werden und somit als realistische Lastprofile in die Simulation einfließen. Um die relevanten Belastungen der Schnittstelle auf der Basis einfacher Messmittel wie iPecs und Kraftmessplatten besser abschätzen und bewerten zu können, ist eine tiefergehende Analyse der Modellierungsmethoden und der Einflussfaktoren auf das Modellverhalten notwendig. Ein zentraler Aspekt für die Anwendung in der Praxis ist die weitere Reduktion des Mess- und Modellierungsaufwandes. Dazu könnten beispielsweise Modellparameter über eine einfache, angepasste Stumpfanamnese anstatt durch Daten aus 3D-Scans, MRT oder Elektromyographie-(EMG-)Messungen personenspezifisch identifiziert werden.
Trotz verbleibender technischer Herausforderungen sind durch das vorgeschlagene Messprotokoll Indikatoren zur Optimierung geeigneter Methoden für die praktische Nutzung im orthopädietechnischen Alltag vorhanden. Da die Umsetzung in der Anwendung eher mittelfristig zu erwarten ist, sollte die Forschung in der Zwischenzeit die Methoden weiter optimieren, sodass letztlich die Potenziale in der Versorgung ausgeschöpft werden können.
Förderhinweis
Das IGF-Vorhaben 18873 der Forschungsvereinigung DECHEMA e. V. wird über die AiF im Rahmen des Programms zur Förderung der Industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF) vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert.
Für die Autoren:
Veronika Noll M. Sc.
Technische Universität Darmstadt
Insitut für Mechatronische Systeme im Maschinenbau
Otto-Berndt-Straße 2
64287 Darmstadt
noll@ims.tu-darmstadt.de
Noll V, Neuheuser K, Schumacher C, Blab F, Ziegenspeck N, Kleiner B, Schneider U, Seyfarth A, Beckerle P. Messtechnische Erfassung der Stumpf-Schaft-Interaktion — Lessons learned und Empfehlungen für die Praxis. Orthopädie Technik, 2018; 69 (5): 88–94
Messgröße | Messverfahren und Bezeichnung | Anmerkungen |
---|---|---|
Herzfrequenz | Sensor Delsys Trigno HF (Delsys Inc., Natick/MA, USA) |
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Kinematik | Kraftmessplatten: AMTI AccuGait (AMTI, Watertown/MA, USA) |
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Kinetik | Kraftmessplatten: AMTI AccuGait (AMTI, Watertown/MA, USA) |
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Belastungen unterhalb Schaft | iPecs: Sechs-Komponenten-Kraft-Momenten-Sensor (iPecs, RTC Electronics, Dexter/MI, USA) |
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Normaldrücke an Stumpf-Schaft-Schnittstelle | Novel Pliance (Novel GmbH, München, Deutschland) |
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Wärmebildkamera | Wärmebildkamera FLIR™ T640 (Orglmeister Infrarot-Systeme GmbH & Co. KG, Walluf, Deutschland |
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Temperatur im Schaft | InfraLog V301 (Driesen & Kern GmbH, Bad Bramstedt, Deutschland) |
|
Feuchtigkeit im Schaft | InfraLog V301 (Driesen & Kern GmbH, Bad Bramstedt, Deutschland) |
|
Stumpfgeometrie | 3D-Oberflächenscanner
|
|
Proband 1 | Proband 2 | ||||
---|---|---|---|---|---|
Messzeitpunkt | April 2017 | Oktober 2017 | April 2017 | Oktober 2017 | |
Schaftform | Milwaukee | längsoval | Anatomy | ||
Geschlecht | m | m | |||
Alter in Jahren | 50 | 53 | |||
Größe in cm | 189 | 185 | |||
Gewicht in kg | 84 | 74 | |||
Amputation &Prothese | Höhe & Seite | TF links | TF links | ||
Mobilitätsklasse | 4 | 4 | |||
Amputationsjahr | 2008 | 1983 | |||
Kniegelenk | Ottobock Genium | Endolite LINX | |||
Fuß | Ottobock Triton VS (28 cm) | Endolite Elan (27 cm) |
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