OT: Wie kam es zum internationalen Engagement des Sanitätshauses Lammert?
Mike Unmacht: Die Grundlage legte Prof. Dr. Michael Beck, damals Leiter der Villa Metabolica am Zentrum für Kinder-und Jugendmedizin der Universitätsmedizin Mainz, das sich auf seltene Stoffwechselerkrankungen wie Mukopolysaccharidose (MPS) oder Morbus Fabry spezialisiert hatte. Er bat uns vor 20 Jahren erstmals, einen seiner jungen Patienten zu versorgen. Daraus und aus unserem Engagement in den entsprechenden Selbsthilfegruppen entstand eine langjährige Zusammenarbeit, die sich schnell international ausweitete. Zum einen zog das Zentrum international Patient:innen an. Zum anderen wechselten natürlich auch die Ärzt:innen, gingen an andere Kliniken und schickten uns von dort Patient:innen. Im Laufe der Zeit machten wir uns damit einen Namen, sodass ein breites Netzwerk entstand und in den Medien darüber berichtet wurde. Angehörige erfuhren davon und kamen auf uns zu. So entstand zum Beispiel der Kontakt zu einem Bogenschützen in der Mongolei, der für die Paralympics eine neue Prothesenversorgung benötigte. Oder zu einer jungen Mutter auf den Philippinen, die für beide Arme und Beine eine Hilfsmittelversorgung brauchte.
OT: Welche Erfahrungen konnten Sie aus diesen Versorgungen mitnehmen?
Unmacht: In Deutschland haben wir ganz andere Versorgungsmöglichkeiten. Wir Orthopädietechniker denken stark in Hightech-Kategorien. Im feuchten Klima der Philippinen beispielsweise ist aber eine myoelektrische Prothese nicht robust genug. Hinzu kommt die fehlende Wartung: Während es in Deutschland überall Orthopädietechniker:innen gibt, sieht das in anderen Ländern oder Regionen gänzlich anders aus. Dort sollten Prothesen möglichst robust, konstant stabil und wartungsarm sein, aber gleichzeitig die für den jeweiligen Fall wichtigste Funktion liefern. Die zweite einschneidende Erfahrung ist es, die besondere Lebensfreude der Menschen zu spüren, die lange Zeit nicht versorgt worden sind.
OT: Können Sie das an einem Beispiel erläutern?
Unmacht: Einer unserer philippinischen Patient:innen war es sehr wichtig, selbstständig essen zu können sowie ihren Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen und dabei auch mal etwas aufzuschreiben. Für sie haben wir ein Wechselsystem mit vier Händen gebaut. So kann sie je nach Anforderung eine Hand zum Beispiel zum Stifthalten fürs Schreiben oder Gabelhalten fürs Essen anstecken. Diese einfache passive Versorgung ermöglicht es ihr, wieder am Leben ihrer Kinder teilzuhaben. Sollte sich etwas an den Prothesen im Laufe der Zeit lockern, reicht auch ein Automechaniker mit Inbusschlüssel, um ihr zu helfen.
Kreative Selfmade-Prothesen
OT: Wie wurden Sie auf die Situation von Geflüchteten mit Amputationen auf Lesbos aufmerksam?
Unmacht: Der Kontakt kam vor eineinhalb Jahren über Prof. Dr. Gerhard Trabert zustande. Der Professor für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie an der Hochschule Rhein-Main in Wiesbaden engagiert sich ehrenamtlich seit Jahrzehnten mit seinem Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland e. V.“ für obdachlose und sozial benachteiligte Menschen in Deutschland und seit drei Jahren für Geflüchtete auf Lesbos.
OT: In welchem Zustand sind die Prothesen der Geflüchteten, wenn sie bei Ihnen in der Werkstatt ankommen?
Unmacht: Sagen wir mal: in einem sehr kreativen Zustand. Die meisten Prothesen, die ohnehin viel grober konstruiert sind als die europäischen Modelle, sind durch die erhöhten Belastungen auf der Flucht zerstört worden. Letztens hatten wir eine Beinprothese, die nur von Klebeband zusammengehalten wurde. Der Mann ist buchstäblich auf einem Klebebandfuß gelaufen. Ein anderer Prothesenträger hatte das Schaummaterial im Schaft mit Nadel und Faden so bearbeitet, dass es sich an den Stumpf anpassen konnte.
Digitale Versorgungszukunft
OT: Wie sieht Ihre Zusammenarbeit für Menschen mit Amputationen auf Lesbos konkret aus?
Unmacht: Prof. Dr. Trabert und sein Team messen vor Ort die Stümpfe und schicken uns gemeinsam mit den alten, unbrauchbaren Prothesen die Daten. Auf dieser Grundlage bauen wir neue Prothesen im Zwiebelschalensystem, damit die Betreuer:innen auf Lesbos sie so gut wie möglich anpassen können. Bei passiven Arm- oder Unterschenkelprothesen funktioniert das ganz gut. Bei Oberschenkelprothesen ist die Versorgung über die Distanz allerdings noch schwierig, da hier die künstlichen Knöchel- und Kniegelenke aufeinander abgestimmt werden müssen. Um noch besser und vor allem schneller zu werden, arbeiten wir gerade an der Beschaffung eines 3D-Scanners für Lesbos. So könnten in Zukunft die digitalen Messdaten per Mail an mich übermittelt werden, sodass ich in Echtzeit per Videokonferenz ein Feedback zu den Daten geben und im nächsten Schritt ein Auge vor allem auf die komplexere Anpassung von Oberschenkelprothesen werfen kann. Prothesen im 3D-Druck nehmen in Deutschland zu. Die Orthopädie-Technik ist hier klar im Wandel. Für eine Versorgung über die Distanz eignen sie sich aber sehr gut, hier sind wir klar in einer positiven Entwicklung. Jedoch hängt viel vom individuellen Fall ab.
OT: Brauchen Sie nicht auch für die Anpassung Unterstützung vor Ort?
Unmacht: Na klar! Nicht nur bei der Anpassung, schon beim Transport benötigen wir Unterstützung, erst recht in Zeiten der Corona-Pandemie, die auf Lesbos das Leben und Arbeiten ebenfalls beherrscht. Das betrifft auch den Transport der fertigen Prothesen. Wir können uns nicht einfach ins Auto setzen und persönlich Prothesen vor Ort anpassen, sondern sind angewiesen auf ein Netzwerk von Helfern, die den Transport oder die Anpassung organisieren. Hierzu gehört zum Beispiel die Physiotherapeutin Fabiola Velasquez, die ehrenamtlich auf der Insel Geflüchtete betreut. Es gehört zu den beglückenden und beflügelnden Erfahrungen, international immer mehr Menschen kennenzulernen, die ähnlich ticken und denen die Versorgung anderer am Herzen liegt. Dazu zählt im Übrigen auch unser geschäftsführender Gesellschafter Josef Lammert, der mir seit 20 Jahren die Firmenwerkstatt für solche Fälle großzügig zur Verfügung stellt.
OT: Was motiviert Sie, am Feierabend freiwillig weiter an der Werkbank zu stehen?
Unmacht: Oft weiß man gar nicht, dass andere Menschen genauso denken und fühlen wie man selbst. In dem Netzwerk internationaler Versorger habe ich aber genau solche Menschen getroffen. In diesem Kreis erlebe ich einen unglaublichen Zusammenhalt. Alle ziehen an einem Strang, sind glücklich über jeden Erfolg. Was könnte motivierender sein?
Die Fragen stellte Ruth Justen.
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