Hybri­des modu­la­res Sitz­sys­tem zur Redu­zie­rung von Sitzbelastungen

M. Woitag
Mit dem hybriden modularen System wurde eine komplexe medizinische Anordnung entwickelt, die beim Sitzen auftretende Belastungen gezielt reduziert und die Verweilzeit im Sitzsystem ohne Zunahme des Risikos von Schädigungen der Haut (Dekubitusprophylaxe) erhöht. Dabei zeichnet sich das hybride System durch die Kombination verschiedener Wirkmechanismen aus. Eine grundlegende Belastungsreduktion erfolgt durch die individuelle Sitzanpassung an die Körperkontur mit Hilfe einer Vakuumsitzkissenkomponente. Darüber hinausgehende Belastungen werden von einer Luftpolsterschicht und einer klassischen Schaumstoffschicht abgefangen. Durch die Integration eines flächigen Druckmesssystems werden zudem Belastungen sensorisch erfasst. Auf dieser Basis werden mit Hilfe der segmentierten Luftpolsterschicht und der zugehörigen pneumatischen Stelleinrichtung gezielt Entlastungen und auch Wechselbelastungen herbeigeführt, die zur Erholung der betroffenen Körperzonen führen.

Moti­va­ti­on und Aufgabenstellung

Sit­zen gehört zu den Grund­kör­per­hal­tun­gen des Men­schen. Dabei ruht der größ­te Teil des Kör­per­ge­wichts auf dem Gesäß bzw. den Ober­schen­keln. Harrt der Mensch vor­wie­gend in einer star­ren Posi­ti­on sit­zend aus, wie es bei kran­ken und behin­der­ten Men­schen häu­fig vor­kommt, neh­men die Belas­tun­gen für bestimm­te Kör­per­par­tien zu. Haut- und Mus­kel­par­tien, auf denen das Kör­per­ge­wicht ruht, wer­den zusam­men­ge­drückt, die Ver­sor­gung mit Sau­er­stoff und Nähr­stof­fen wird behin­dert, und der Abtrans­port von Stoff­wech­sel­pro­duk­ten ver­lang­samt sich. Schä­di­gun­gen an Zel­len und am Gewe­be bis hin zu Druck­ge­schwü­ren an der Haut sind die Fol­ge. Allein in Deutsch­land wer­den bis zu 800.000 Neu­erkran­kun­gen und 10.000 Todes­fäl­le im Jahr mit die­sen soge­nann­ten Deku­bi­tus­er­schei­nun­gen in Ver­bin­dung gebracht. Der volks­wirt­schaft­li­che Scha­den für Ver­sor­gung und The­ra­pie wird dabei auf 1 bis 2 Mrd. Euro bezif­fert 1.

Gesun­de Men­schen wir­ken sol­chen Druck­ge­schwü­ren ent­ge­gen, indem sie nicht starr auf einer Stel­le sit­zen, son­dern ab und zu die Sitz­po­si­ti­on ändern. Geh­be­hin­der­te Men­schen sowie Men­schen mit alters- oder krank­heits­be­ding­ten Schwä­chen erhal­ten als Hilfs­mit­tel einen Roll­stuhl, um inner­halb ihrer Mög­lich­kei­ten wei­ter­hin mobil zu sein. Da es für sie beson­ders wich­tig ist, ihr Kör­per­ge­wicht im Roll­stuhl mög­lichst groß­flä­chig zu ver­tei­len, benö­ti­gen sie spe­zi­ell ange­pass­te Sitz­un­ter­la­gen, die mög­lichst genau an ihre Kör­per­form ange­passt sind. Dar­aus lei­te­te sich die Ziel­set­zung der Ent­wick­lung einer zuver­läs­si­gen Sitz­an­ord­nung zur Redu­zie­rung von Bean­spru­chun­gen durch zu lan­ges Sit­zen in einer Sitz­po­si­ti­on ab.

Stand der Technik

Die Mög­lich­kei­ten der Sitz­ge­stal­tung im Bereich der Son­der­ver­sor­gung sind für Pati­en­ten noch immer nicht aus­rei­chend und zum Teil unbe­frie­di­gend. Bei der medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung erfolgt eine indi­vi­du­el­le Anpas­sung des Roll­stuhl­sit­zes an den Nut­zer. Hier­bei wird nicht nur die eigent­li­che Sitz­flä­che an die Ana­to­mie des Pati­en­ten ange­passt, son­dern je nach Bedarf erfolgt auch eine Gestal­tung von Stüt­zen für ande­re Kör­per­re­gio­nen bzw. ‑tei­le (z. B. Ober­kör­per, Kopf usw.).

Sitz­or­the­sen für die Son­der­ver­sor­gung kön­nen aus vor­ge­fer­tig­ten Ele­men­ten (Sitz, Rücken­leh­ne, Sei­ten­pe­lot­ten, Kopf­stüt­ze, Arm­auf­la­gen) bestehen. Die­se wer­den dann in bestimm­ten Abstän­den und Win­keln zuein­an­der mon­tiert und an den Pati­en­ten ange­passt. Die ein­zel­nen Ele­men­te sind dabei zusätz­lich abgepolstert.

Eine bes­se­re indi­vi­du­el­le Anpas­sung ist mit Sitz­scha­len mög­lich, die kom­plett an die Kör­per­form des Pati­en­ten ange­passt wer­den. Hier­bei wird die Kör­per­form des Pati­en­ten über einen Abdruck abge­nom­men. Sodann wird je nach Ver­fah­ren die Sitz­scha­le anhand des Abdrucks gegos­sen, nach­ge­formt oder auch gefräst (nach Digi­ta­li­sie­rung der Form).

Aber auch die indi­vi­du­ell geform­ten Sitz­scha­len haben Nach­tei­le, ins­be­son­de­re beim Wachs­tum von Kin­dern, aber auch bei sons­ti­gen ana­to­mi­schen Ver­än­de­run­gen. Selbst bei der Ver­wen­dung mit­wach­sen­der Sitz­or­the­sen oder beim Wech­sel der Klei­dung kön­nen Pro­ble­me ent­ste­hen, weil die vor­ge­ge­be­ne Form nicht mehr per­fekt stimmt und eine ein­fa­che Rest­an­pas­sung nicht mög­lich ist. Die­se indi­vi­du­el­le Rest­an­pas­sung wird mit einem hybri­den Sitz­sys­tem ermög­licht, wobei durch die geplan­te Sen­so­rik auch eine Erfas­sung von Belas­tun­gen und damit eine Reak­ti­on auf die kon­kre­te Situa­ti­on mög­lich ist. Die typi­sche Pols­ter­schicht zwi­schen Sitz­or­the­se und Pati­ent ist im hybri­den Sitz­sys­tem nicht mehr erforderlich.

Lösungs­kon­zept und Ergebnisse

Gegen­über den bekann­ten Sitz­sys­te­men wird beim hybri­den Sitz­sys­tem ein Kon­zept mit einer modu­la­ren Struk­tur, dem Ein­satz von Sen­so­rik und akti­ven Stell­kom­po­nen­ten sowie einer kon­ti­nu­ier­li­chen elek­tro­ni­schen Über­wa­chung der Sitz­be­an­spru­chun­gen ver­folgt. Durch die Modu­la­ri­tät und den ganz­heit­li­chen Ansatz wird die Ein­setz­bar­keit des neu­ar­ti­gen Sys­tems für ver­schie­de­ne Anwen­dungs­fäl­le erleich­tert, um die Bean­spru­chun­gen beim Sit­zen zu redu­zie­ren. Dazu müs­sen alle Kom­po­nen­ten des Sit­zes betrach­tet wer­den, die ein­zeln auf den Pati­en­ten abge­stimmt werden.

Eine Bat­te­rie zur Strom­ver­sor­gung, eine Pneu­ma­tik­pum­pe und ‑ven­ti­le, eine Steu­er­ein­heit für Sen­so­rik und Akto­rik sowie die Bedien- und Anzei­ge­ein­heit rea­li­sie­ren die Steue­rungs- und Rege­lungs­auf­ga­ben des neu ent­wi­ckel­ten Sitz­sys­tems. Mit Hil­fe des modi­fi­zier­ba­ren Grund­ge­stells und der Sitz­scha­le wird das Sitz­sys­tem grob an die äuße­re Gestalt des Pati­en­ten ange­passt. Die wei­te­re Anpas­sung erfolgt mit­tels eines hybri­den Sitz­kis­sens, bestehend aus einem Vaku­um­kis­sen und einer 4‑Kam­mer-Luft­pols­ter­schicht (Abb. 1). Eine tex­ti­le Sen­sor­mat­te zur Dru­cker­fas­sung ver­voll­stän­digt das Gesamtsystem.

Das Vaku­um­sitz­kis­sen ermög­licht eine indi­vi­du­el­le Form­ge­bung im Detail, die an den Krank­heits­ver­lauf, das Wachs­tum des Pati­en­ten oder unter­schied­li­che Beklei­dung (Som­mer, Win­ter) ange­passt wer­den kann. Die Schüt­tung des Vaku­um­kis­sens ist in Abhän­gig­keit von der Aus­prä­gung des Vaku­ums form­bar und damit an den Pati­en­ten anpass­bar. Die ange­gli­che­ne Form ver­bleibt dann durch eine Luft­eva­ku­ie­rung dau­er­haft in ihrer Gestalt. Das hybri­de Sitz­kis­sen ver­fügt zusätz­lich über ein seg­men­tier­tes Luft­pols­ter, das zum Abpols­tern der rela­tiv har­ten Vaku­um­kom­po­nen­te dient. Durch unter­schied­li­che Befül­lungs­gra­de der Kam­mern des seg­men­tier­ten Luft­pols­ters lässt sich die Auf­la­ge­flä­che des Pati­en­ten auf dem Sitz ver­än­dern; sei­ne Sitz­po­si­ti­on ist vari­ier­bar, um ein­sei­ti­ge Belas­tun­gen bei län­ge­rem Ver­wei­len im Roll­stuhl zu verringern.

Mit Hil­fe von Sen­so­ren wird der Zustand des hybri­den Sitz­sys­tems wäh­rend der Nut­zung erfasst. Das ist eine wesent­li­che Vor­aus­set­zung für die zuver­läs­si­ge Bean­spru­chungs­re­duk­ti­on beim Sit­zen. Über die Erfas­sung des Befül­lungs­zu­stands der unter­schied­li­chen Luft­pols­ter­kam­mern ist es mög­lich, indi­vi­du­el­le Vor­zugs­sitz­hal­tun­gen des Pati­en­ten ein­zu­ler­nen (Abb. 2).

Bei län­ge­rer Ver­weil­dau­er im Roll­stuhl kön­nen die­se zur Belas­tungs­ver­rin­ge­rung auto­ma­tisch oder manu­ell ein­ge­stellt wer­den. Zusätz­lich erfasst die tex­ti­le druck­emp­find­li­che Sen­sor­mat­te die jeweils aktu­el­le Bean­spru­chung und reagiert auf zu hohe Bean­spru­chun­gen. Dazu lässt sich ent­we­der die Fül­lung der Luft­pols­ter­kam­mern anpas­sen oder eine Mel­dung an das Pfle­ge­per­so­nal über eine Anzei­ge­ein­heit über­mit­teln. Die neu­ar­ti­ge Sen­sor­mat­te besteht aus Mate­ria­li­en, die ohne­hin im Sitz vor­kom­men (Schaum­stoff, Bezugs­stoff). Das hat den Vor­teil, dass das Mikro­kli­ma gegen­über den her­kömm­li­chen Sitz­auf­bau­ten nicht beein­träch­tigt wird und mög­li­che nega­ti­ve Beein­flus­sun­gen ausbleiben.

Nut­zen und Ausblick

Durch die Kopp­lung von sen­so­ri­schen und akto­ri­schen Kom­po­nen­ten in dem hybri­den Sitz­sys­tem ent­steht ein neu­ar­ti­ger, inno­va­ti­ver Ansatz zur Redu­zie­rung von Sitz­be­las­tun­gen. Ver­schie­de­ne erprob­te Rea­li­sie­run­gen des Sys­tems (Abb. 3) zei­gen, dass mit der gewähl­ten Sen­sor­kon­fi­gu­ra­ti­on der Zustand des Sitz­sys­tems sehr gut erfasst wird und auf­tre­ten­de Bean­spru­chun­gen gezielt redu­ziert werden.

Zusätz­lich besteht die Mög­lich­keit, Inter­ak­tio­nen durch den Pati­en­ten oder das Pfle­ge­per­so­nal vor­zu­neh­men. Dafür muss der Bedie­ner nicht mehr das kom­pli­zier­te Druck­ab­bild des Gesä­ßes bewer­ten, statt­des­sen wer­den ihm ver­ein­fach­te Para­me­ter über aktu­el­le Bean­spru­chun­gen und Abwei­chun­gen von den indi­vi­du­ell ein­ge­lern­ten Sitz­po­si­tio­nen des Pati­en­ten zur Ver­fü­gung gestellt (Abb. 4).

Die in die Erpro­bung ein­be­zo­ge­nen The­ra­peu­ten sehen gute Mög­lich­kei­ten, mit dem neu­en Sitz­sys­tem zu hohe Sitz­be­las­tun­gen für Pati­en­ten zu ver­mei­den und nega­ti­ve Fol­gen wie das Auf­tre­ten von Druck­ge­schwü­ren zu ver­rin­gern. Zukünf­tig wird das Sitz­sys­tem durch die betei­lig­ten Pro­jekt­part­ner wei­ter­ent­wi­ckelt. Ins­be­son­de­re ste­hen die Mög­lich­kei­ten des Erken­nens und Reagie­rens auf beson­de­re Situa­tio­nen bei bestimm­ten Krank­heits­bil­dern, bei­spiels­wei­se bei spas­ti­schen Bewe­gungs­stö­run­gen, die mit Gegen­be­we­gun­gen unter­bun­den wer­den kön­nen, im Fokus.

Pro­jekt­part­ner:
Reha­bi­li­ty Reha-Fach­han­del GmbH & Co. KG, Heidelberg
Vaku­form GbR, Mühltal
War­mX GmbH, Apolda

Der Autor:
Dipl.-Wirtsch.-Ing. Mar­tin Woitag
Fraun­ho­fer-Insti­tut für Fabrik­be­trieb und ‑auto­ma­ti­sie­rung (IFF)
Geschäfts­feld Mess- und Prüftechnik
Sand­tor­stra­ße 22
39106 Mag­de­burg
martin.woitag@iff.fraunhofer.de

Zita­ti­on
Woitag M. Hybri­des modu­la­res Sitz­sys­tem zur Redu­zie­rung von Sitz­be­las­tun­gen. Ortho­pä­die Tech­nik, 2014; 65 (9): 42–44
  1. IGAP – Insti­tut für Inno­va­tio­nen im Gesund­heits­we­sen und ange­wand­te Pfle­ge­for­schung. Deku­bi­tus Pfle­ge-Rat­ge­ber. http://dekubitus.de/index.htm (Zugriff am 09.06.2014)
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