Motivation und Aufgabenstellung
Sitzen gehört zu den Grundkörperhaltungen des Menschen. Dabei ruht der größte Teil des Körpergewichts auf dem Gesäß bzw. den Oberschenkeln. Harrt der Mensch vorwiegend in einer starren Position sitzend aus, wie es bei kranken und behinderten Menschen häufig vorkommt, nehmen die Belastungen für bestimmte Körperpartien zu. Haut- und Muskelpartien, auf denen das Körpergewicht ruht, werden zusammengedrückt, die Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen wird behindert, und der Abtransport von Stoffwechselprodukten verlangsamt sich. Schädigungen an Zellen und am Gewebe bis hin zu Druckgeschwüren an der Haut sind die Folge. Allein in Deutschland werden bis zu 800.000 Neuerkrankungen und 10.000 Todesfälle im Jahr mit diesen sogenannten Dekubituserscheinungen in Verbindung gebracht. Der volkswirtschaftliche Schaden für Versorgung und Therapie wird dabei auf 1 bis 2 Mrd. Euro beziffert 1.
Gesunde Menschen wirken solchen Druckgeschwüren entgegen, indem sie nicht starr auf einer Stelle sitzen, sondern ab und zu die Sitzposition ändern. Gehbehinderte Menschen sowie Menschen mit alters- oder krankheitsbedingten Schwächen erhalten als Hilfsmittel einen Rollstuhl, um innerhalb ihrer Möglichkeiten weiterhin mobil zu sein. Da es für sie besonders wichtig ist, ihr Körpergewicht im Rollstuhl möglichst großflächig zu verteilen, benötigen sie speziell angepasste Sitzunterlagen, die möglichst genau an ihre Körperform angepasst sind. Daraus leitete sich die Zielsetzung der Entwicklung einer zuverlässigen Sitzanordnung zur Reduzierung von Beanspruchungen durch zu langes Sitzen in einer Sitzposition ab.
Stand der Technik
Die Möglichkeiten der Sitzgestaltung im Bereich der Sonderversorgung sind für Patienten noch immer nicht ausreichend und zum Teil unbefriedigend. Bei der medizinischen Versorgung erfolgt eine individuelle Anpassung des Rollstuhlsitzes an den Nutzer. Hierbei wird nicht nur die eigentliche Sitzfläche an die Anatomie des Patienten angepasst, sondern je nach Bedarf erfolgt auch eine Gestaltung von Stützen für andere Körperregionen bzw. ‑teile (z. B. Oberkörper, Kopf usw.).
Sitzorthesen für die Sonderversorgung können aus vorgefertigten Elementen (Sitz, Rückenlehne, Seitenpelotten, Kopfstütze, Armauflagen) bestehen. Diese werden dann in bestimmten Abständen und Winkeln zueinander montiert und an den Patienten angepasst. Die einzelnen Elemente sind dabei zusätzlich abgepolstert.
Eine bessere individuelle Anpassung ist mit Sitzschalen möglich, die komplett an die Körperform des Patienten angepasst werden. Hierbei wird die Körperform des Patienten über einen Abdruck abgenommen. Sodann wird je nach Verfahren die Sitzschale anhand des Abdrucks gegossen, nachgeformt oder auch gefräst (nach Digitalisierung der Form).
Aber auch die individuell geformten Sitzschalen haben Nachteile, insbesondere beim Wachstum von Kindern, aber auch bei sonstigen anatomischen Veränderungen. Selbst bei der Verwendung mitwachsender Sitzorthesen oder beim Wechsel der Kleidung können Probleme entstehen, weil die vorgegebene Form nicht mehr perfekt stimmt und eine einfache Restanpassung nicht möglich ist. Diese individuelle Restanpassung wird mit einem hybriden Sitzsystem ermöglicht, wobei durch die geplante Sensorik auch eine Erfassung von Belastungen und damit eine Reaktion auf die konkrete Situation möglich ist. Die typische Polsterschicht zwischen Sitzorthese und Patient ist im hybriden Sitzsystem nicht mehr erforderlich.
Lösungskonzept und Ergebnisse
Gegenüber den bekannten Sitzsystemen wird beim hybriden Sitzsystem ein Konzept mit einer modularen Struktur, dem Einsatz von Sensorik und aktiven Stellkomponenten sowie einer kontinuierlichen elektronischen Überwachung der Sitzbeanspruchungen verfolgt. Durch die Modularität und den ganzheitlichen Ansatz wird die Einsetzbarkeit des neuartigen Systems für verschiedene Anwendungsfälle erleichtert, um die Beanspruchungen beim Sitzen zu reduzieren. Dazu müssen alle Komponenten des Sitzes betrachtet werden, die einzeln auf den Patienten abgestimmt werden.
Eine Batterie zur Stromversorgung, eine Pneumatikpumpe und ‑ventile, eine Steuereinheit für Sensorik und Aktorik sowie die Bedien- und Anzeigeeinheit realisieren die Steuerungs- und Regelungsaufgaben des neu entwickelten Sitzsystems. Mit Hilfe des modifizierbaren Grundgestells und der Sitzschale wird das Sitzsystem grob an die äußere Gestalt des Patienten angepasst. Die weitere Anpassung erfolgt mittels eines hybriden Sitzkissens, bestehend aus einem Vakuumkissen und einer 4‑Kammer-Luftpolsterschicht (Abb. 1). Eine textile Sensormatte zur Druckerfassung vervollständigt das Gesamtsystem.
Das Vakuumsitzkissen ermöglicht eine individuelle Formgebung im Detail, die an den Krankheitsverlauf, das Wachstum des Patienten oder unterschiedliche Bekleidung (Sommer, Winter) angepasst werden kann. Die Schüttung des Vakuumkissens ist in Abhängigkeit von der Ausprägung des Vakuums formbar und damit an den Patienten anpassbar. Die angeglichene Form verbleibt dann durch eine Luftevakuierung dauerhaft in ihrer Gestalt. Das hybride Sitzkissen verfügt zusätzlich über ein segmentiertes Luftpolster, das zum Abpolstern der relativ harten Vakuumkomponente dient. Durch unterschiedliche Befüllungsgrade der Kammern des segmentierten Luftpolsters lässt sich die Auflagefläche des Patienten auf dem Sitz verändern; seine Sitzposition ist variierbar, um einseitige Belastungen bei längerem Verweilen im Rollstuhl zu verringern.
Mit Hilfe von Sensoren wird der Zustand des hybriden Sitzsystems während der Nutzung erfasst. Das ist eine wesentliche Voraussetzung für die zuverlässige Beanspruchungsreduktion beim Sitzen. Über die Erfassung des Befüllungszustands der unterschiedlichen Luftpolsterkammern ist es möglich, individuelle Vorzugssitzhaltungen des Patienten einzulernen (Abb. 2).
Bei längerer Verweildauer im Rollstuhl können diese zur Belastungsverringerung automatisch oder manuell eingestellt werden. Zusätzlich erfasst die textile druckempfindliche Sensormatte die jeweils aktuelle Beanspruchung und reagiert auf zu hohe Beanspruchungen. Dazu lässt sich entweder die Füllung der Luftpolsterkammern anpassen oder eine Meldung an das Pflegepersonal über eine Anzeigeeinheit übermitteln. Die neuartige Sensormatte besteht aus Materialien, die ohnehin im Sitz vorkommen (Schaumstoff, Bezugsstoff). Das hat den Vorteil, dass das Mikroklima gegenüber den herkömmlichen Sitzaufbauten nicht beeinträchtigt wird und mögliche negative Beeinflussungen ausbleiben.
Nutzen und Ausblick
Durch die Kopplung von sensorischen und aktorischen Komponenten in dem hybriden Sitzsystem entsteht ein neuartiger, innovativer Ansatz zur Reduzierung von Sitzbelastungen. Verschiedene erprobte Realisierungen des Systems (Abb. 3) zeigen, dass mit der gewählten Sensorkonfiguration der Zustand des Sitzsystems sehr gut erfasst wird und auftretende Beanspruchungen gezielt reduziert werden.
Zusätzlich besteht die Möglichkeit, Interaktionen durch den Patienten oder das Pflegepersonal vorzunehmen. Dafür muss der Bediener nicht mehr das komplizierte Druckabbild des Gesäßes bewerten, stattdessen werden ihm vereinfachte Parameter über aktuelle Beanspruchungen und Abweichungen von den individuell eingelernten Sitzpositionen des Patienten zur Verfügung gestellt (Abb. 4).
Die in die Erprobung einbezogenen Therapeuten sehen gute Möglichkeiten, mit dem neuen Sitzsystem zu hohe Sitzbelastungen für Patienten zu vermeiden und negative Folgen wie das Auftreten von Druckgeschwüren zu verringern. Zukünftig wird das Sitzsystem durch die beteiligten Projektpartner weiterentwickelt. Insbesondere stehen die Möglichkeiten des Erkennens und Reagierens auf besondere Situationen bei bestimmten Krankheitsbildern, beispielsweise bei spastischen Bewegungsstörungen, die mit Gegenbewegungen unterbunden werden können, im Fokus.
Projektpartner:
Rehability Reha-Fachhandel GmbH & Co. KG, Heidelberg
Vakuform GbR, Mühltal
WarmX GmbH, Apolda
Der Autor:
Dipl.-Wirtsch.-Ing. Martin Woitag
Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und ‑automatisierung (IFF)
Geschäftsfeld Mess- und Prüftechnik
Sandtorstraße 22
39106 Magdeburg
martin.woitag@iff.fraunhofer.de
Woitag M. Hybrides modulares Sitzsystem zur Reduzierung von Sitzbelastungen. Orthopädie Technik, 2014; 65 (9): 42–44
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