Bio­me­cha­nik und Pathome­cha­nik der lum­ba­len Wirbelsäule

F. Landauer
Lumbalskoliosen zeigen bei der Korsettversorgung ein uneinheitliches Korrekturverhalten, das mit dem Modell des „Euler buckling mode“ erstaunliche Übereinstimmungen zeigt. Dieser besagt, dass die Krümmungsform eines flexiblen Stabes von seiner Fixierung abhängig ist. Unter diesem Gesichtspunkt wurde bei Patienten mit Verdacht auf eine LSTV („lumbosacral transitional vertebrae“ = lumbosakrale Übergangsstörung) eine weiterführende MRI-Untersuchung veranlasst. Bei der Auswertung der Ergebnisse der ersten 12 Patienten wurde klar, dass die gelieferten MRI-Bilder für die Diagnosestellung „LSTV“ nur eingeschränkt aussagekräftig waren. Daher wurde bei einer nachfolgenden Kontrollgruppe von weiteren 12 Patienten eine MRI-Untersuchung nach Festlegung einheitlicher Untersuchungskriterien durchgeführt. So konnte bei vergleichbaren Ausgangsbedingungen bei 5 von 12 Patienten eine LSTV bestätigt werden. Dieses Ergebnis ist für die Orthopädie-Technik insofern von Bedeutung, als davon ausgegangen werden muss, dass lumbale Skoliosen zu einem bisher unbekannten Prozentsatz als Fehlbildungsskoliosen zu bewerten und damit einer Korsettversorgung nur eingeschränkt zugänglich sind.

Ein­lei­tung

Die gesun­de Wir­bel­säu­le ist in der Fron­tal­ebe­ne und in der axia­len Ebe­ne ortho­grad aus­ge­rich­tet. Die Krüm­mun­gen des sagit­ta­len Pro­fils lie­fern die not­wen­di­ge Elas­ti­zi­tät und Belast­bar­keit für den auf­rech­ten Stand und Gang. Jedes ein­zel­ne Wir­bel­seg­ment, bestehend aus Wir­bel­kör­per – Band­schei­be – Wir­bel­kör­per, ermög­licht durch sei­ne dif­fe­ren­zier­te Form somit eine Beweg­lich­keit in unter­schied­li­chem Aus­maß. Jede Stö­rung des Gefü­ges führt daher zwangs­läu­fig zu einem patho­lo­gi­schen Bewe­gungs­mus­ter. Bei einer aszen­die­ren­den oder deszen­die­ren­den Betrach­tungs­wei­se wird der lum­bo­sa­kra­le Über­gang zu einem „locus mino­ris resis­ten­tiae“ 1. Dies wird beson­ders anhand der Häu­fig­keit der lum­ba­len „Band­schei­ben­lä­sio­nen“ schmerz­lich bewusst. Damit ver­langt die Behand­lung von Ado­les­zen­ten­sko­lio­sen eine genaue Betrach­tung die­ses mecha­nisch stark belas­te­ten Seg­men­tes am lum­bo­sa­kra­len Über­gang. Die typi­sche idio­pa­thi­sche Sko­lio­se zeigt eine rechts­kon­ve­xe tho­ra­ka­le Haupt­krüm­mung mit kra­nia­ler und kau­da­ler Aus­gleichs­krüm­mung. Eine Kor­rek­tur der Haupt­krüm­mung führt gleich­zei­tig auch zu einer Krüm­mungs­re­duk­ti­on der angren­zen­den Regio­nen. Bei lum­ba­len Sko­lio­sen sind die Kor­rek­tur­ef­fek­te bei der Kor­sett­be­hand­lung viel schwe­rer vor­her­seh­bar. Die­ser Bei­trag ver­sucht Ursa­chen für die ein­ge­schränk­te Kor­ri­gier­bar­keit lum­ba­ler Sko­lio­sen aufzuzeigen.

Die Durch­sicht der Sko­lio­se-Klas­si­fi­ka­ti­on kann dar­auf redu­ziert wer­den, dass der lum­bo­sa­kra­le Über­gang sich „lot­recht“ oder „schräg“ ein­ge­stellt dar­stellt (Abb. 1). Wird die Sko­lio­se auf eine mecha­ni­sche Ursa­che redu­ziert, so wird der „Euler buck­ling mode“ (= „Euler-Bie­ge­test“) zu einem anschau­li­chen Erklä­rungs­mo­dell. Die­ser besagt, dass die Krüm­mungs­form eines axi­al belas­te­ten Stabs von sei­ner Fixie­rung abhän­gig ist (Abb. 2) 2. Unter die­ser Betrach­tung muss dem lum­bo­sa­kra­len Über­gang, also der „Fixie­rung“ der Wir­bel­säu­le am Becken, als Sko­lio­se­ur­sa­che ver­mehr­te Auf­merk­sam­keit geschenkt wer­den. Die als Ber­to­lot­ti-Syn­drom oder „LSTV“ („lum­bo­sa­cral tran­si­tio­nal ver­te­brae)“ bekann­te lum­bo­sa­kra­le Über­gangs­stö­rung in der Klas­si­fi­ka­ti­on nach Cas­tell­vi tritt damit in den Fokus des Inter­es­ses (Abb. 3).

Metho­de

Für die vor­lie­gen­de Arbeit wur­den Sko­lio­se­pa­ti­en­ten aus der Kor­sett-Ambu­lanz mit radio­lo­gi­schem Ver­dacht auf eine LSTV einer wei­ter­füh­ren­den MRI-Unter­su­chung zuge­führt. Als Ver­dachts­mo­men­te wur­den die radio­lo­gi­schen Kri­te­ri­en der Cas­tell­vi-Klas­si­fi­ka­ti­on her­an­ge­zo­gen, d. h. Ver­brei­te­rung des Pro­ces­sus trans­ver­sus von > 19 mm bis hin zur knö­cher­nen Ver­schmel­zung von L5 mit S1. Alter­na­tiv ist auch eine Lum­ba­li­sa­ti­on von S1 (frei­er oder nur par­ti­ell ver­schmol­ze­ner S1 mit S2) zu differenzieren.

Als zusätz­li­ches Kri­te­ri­um für eine wei­ter­füh­ren­de Abklä­rung wur­de die Schräg­ein­stel­lung in der A.-p.-Aufnahme von L5 gegen­über S1 von mehr als 5° Cobb-Win­kel gewählt (Abb. 4). Die gelie­fer­ten ers­ten 12 MRI-Unter­su­chun­gen waren für die gesi­cher­te Fest­le­gung einer LSTV wenig geeig­net. Daher wur­den 12 wei­te­re Unter­su­chun­gen im Sin­ne einer Kon­troll­grup­pe nach vor­de­fi­nier­ten MRI-Auf­nah­me­kri­te­ri­en von einem Rönt­gen­in­sti­tut durch­ge­führt, d. h. eine MRI mit Fokus auf den lum­bo­sa­kra­len Über­gang und einer Dar­stel­lung aller drei Ebe­nen im Raum (sagit­tal, axi­al und koronal).

Ergeb­nis

Die gelie­fer­ten ers­ten 12 MRI-Unter­su­chun­gen waren im Ergeb­nis ernüch­ternd: Nur eine MRI-Unter­su­chung bestä­tig­te eine LSTV Cas­tell­vi IIIa. Die­se Dia­gno­se war aber bereits im Über­sichts­rönt­gen abgrenz­bar; die MRI-Unter­su­chung bedeu­te­te somit nur eine Befund­si­che­rung. Die Beur­tei­lung der gelie­fer­ten MRI-Bil­der brach­te aber wei­te­re Grün­de für die­ses Ergeb­nis ans Tages­licht: In fünf Fäl­len war die MRI-Unter­su­chung so stark ein­ge­blen­det, dass der zu beur­tei­len­de late­ra­le Anteil des Pro­ces­sus trans­ver­sus nicht mehr gesi­chert beur­teil­bar war; in acht Fäl­len wur­den nur axia­le und sagit­ta­le Schich­ten gelie­fert. Die feh­len­den koro­na­len Schich­ten las­sen somit eine Klas­si­fi­ka­ti­on nach Cas­tell­vi gar nicht zu.

In der Kon­troll­grup­pe der MRI-Unter­su­chung nach den vor­ge­ge­be­nen Aus­füh­rungs­kri­te­ri­en (sagit­ta­le, axia­le und koro­na­le Schich­ten mit Fokus­sie­rung auf L5/S1) konn­te bei 12 Pati­en­ten bereits 5‑mal eine lum­bo­sa­kra­le Über­gangs­stö­rung bestä­tigt wer­den (Abb. 5). Ins­ge­samt konn­te bei 6 von 24 Pati­en­ten, ent­spre­chend den Zugangs­kri­te­ri­en, eine LSTV dia­gnos­ti­ziert wer­den (2 × Cas­tell­vi IA, 1 × IB, 2 × IIA und 1 × IIIA).

Schluss­fol­ge­run­gen

Aus die­sem Ergeb­nis las­sen sich die fol­gen­den Schlüs­se ziehen:

Das Ergeb­nis von aktu­ell 58 Pub­Med-Ein­tra­gun­gen („LSTV spi­ne“) zum The­ma der lum­bo­sa­kra­len Über­gangs­stö­rung (LSTV) zeigt, wie wenig Beach­tung die­sem The­ma geschenkt wird. Dies betrifft nicht nur die Kor­sett­be­hand­lung, son­dern darf auch weit­ge­hend ver­all­ge­mei­nert wer­den. Die Anzahl von acht Pub­Med-Ein­tra­gun­gen mit den Stich­wör­tern „buck­ling mode“ und „spi­ne“ bestä­tigt, dass die­se Betrach­tungs­wei­se der Wir­bel­säu­le und der Sko­lio­se nicht prä­sent ist: Es han­delt sich dabei um Bei­trä­ge, die bereits vie­le Jah­re alt sind.

Als nächs­te Erkennt­nis muss fest­ge­hal­ten wer­den, dass die stan­dar­di­sier­te MRI-Unter­su­chung der LWS (Fra­ge­stel­lung: Band­schei­ben­lä­si­on, Insta­bi­li­tät, Steno­se etc.) für die Fra­ge­stel­lung der LSTV nicht geeig­net ist. Eine aktu­el­le Ver­öf­fent­li­chung zeigt wei­te­re dia­gnos­ti­sche Schwie­rig­kei­ten bei der Dia­gnos­tik der LSTV auf. Die „intra- and inter­ob­ser­ver relia­bi­li­ty“ wird als gering erkannt. Damit wird klar, dass nicht nur die Bild­ge­bung bei Ver­dachts­mo­men­ten ver­bes­se­rungs­wür­dig ist, son­dern dass auch die radio­lo­gi­sche Dia­gnos­tik ver­bes­sert wer­den muss 3.

Bei der LSTV Cas­tell­vi II bis IV han­delt es sich um eine knö­cher­ne Fehl­bil­dung, die sich zwangs­läu­fig einer Kor­sett­kor­rek­tur wider­setzt. Die Klas­si­fi­ka­ti­on Cas­tell­vi I mit nur Ver­brei­te­rung und/oder Dys­pla­sie des Pro­ces­sus trans­ver­sus (> 19 mm Brei­te) lässt eine Kor­rek­tur erwar­ten, ist jedoch wegen der dia­gnos­ti­schen Unge­nau­ig­keit auf­grund einer Brei­ten­an­ga­be des Pro­ces­sus trans­ver­sus für eine dia­gnos­ti­sche Unschär­fe ver­ant­wort­lich. Auch die Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen einer Fehl­bil­dung Cas­tell­vi I und einer sko­lio­se­be­ding­ten Kon­takt­flä­che des Pro­ces­sus trans­ver­sus mit dem Os sacrum bleibt unbeantwortet.

Die genann­ten Erkennt­nis­se sind für den Ortho­pä­die-Tech­ni­ker nicht beein­fluss­bar. Das Pro­blem der ein­ge­schränk­ten Kor­ri­gier­bar­keit einer lum­ba­len Krüm­mung im Rah­men der Kor­sett­be­hand­lung bleibt jedoch beim Ortho­pä­die-Tech­ni­ker. Es ist somit ein Erklä­rungs­mo­dell, wes­halb bei eini­gen Pati­en­ten die Kor­rek­tur­er­geb­nis­se im Kor­sett nicht befrie­di­gend sind. Auch die Bezeich­nung „idio­pa­thi­sche Sko­lio­se“ ist damit nicht mehr gerecht­fer­tigt – mit allen Kon­se­quen­zen bis hin zu der Fra­ge, ob im Ein­zel­fall eine Kor­sett­in­di­ka­ti­on über­haupt gege­ben ist.

Fazit

Jede ein­ge­schränk­te Kor­ri­gier­bar­keit einer lum­ba­len Krüm­mung ver­langt nach einer wei­ter­füh­ren­den MRI-Unter­su­chung des lum­bo­sa­kra­len Über­gan­ges nach stan­dar­di­sier­ten Kri­te­ri­en mit Dar­stel­lung aller drei Ebe­nen im Raum. Jede LSTV muss daher als Fehl­bil­dungs­sko­lio­se ange­se­hen und behan­delt wer­den. Damit gel­ten die Kor­sett­kor­rek­tur­kri­te­ri­en der idio­pa­thi­schen Sko­lio­se nicht mehr. Dies betrifft nicht nur die Kor­rek­tur, son­dern auch die Progredienzwahrscheinlichkeit.

Der Autor:
Dr. Franz Landauer
Uni­ver­si­täts­kli­nik für Orthopädie
und Trau­ma­to­lo­gie der PMU/SALK
Müll­ner Haupt­str. 48
A‑5020 Salz­burg
f.landauer@salk.at

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Land­au­er F. Bio­me­cha­nik und Pathome­cha­nik der lum­ba­len Wir­bel­säu­le. Ortho­pä­die Tech­nik, 2018; 69 (2): 28–30
  1. Konin GP, Walz DM. Lum­bo­sa­cral tran­si­tio­nal ver­te­brae: clas­si­fi­ca­ti­on, ima­ging fin­dings, and cli­ni­cal rele­van­ce. AJNR Am J Neu­ro­ra­di­ol, 2010; 31 (10): 1778–1786
  2. Mea­kin JR, Huk­ins DW, Aspden RM. Euler buck­ling as a model for the cur­vat­u­re and fle­xi­on of the human lum­bar spi­ne. Proc Biol Sci, 1996; 22; 263 (1375): 1383–1387
  3. Khal­sa AS, Mun­dis GM Jr, Yagi M, Fess­ler R, Bess S, Hoso gane N, Park P, Than K, Dani­els A, Iorio J, Ledes­ma J, Tran S, East­lack RK. Varia­bi­li­ty in Asses­sing Spi­no­pel­vic Para­me­ters with Lum­bo­sa­cral Tran­si­tio­nal Ver­te­brae: Inter- and Intra-obser­ver Relia­bi­li­ty among Spi­ne Sur­ge­ons. Spi­ne (Phi­la Pa 1976), 2017. doi: 10.1097/BRS.0000000000002433 [ahead of print] 
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