Einleitung
Unter Korsettbauern gilt häufig auch heute noch der Abdruck einer Körperform zur Konstruktion eines Korsetts – das Gipsen – als Stand der Technik. Jedoch wird dabei oftmals vergessen, dass nicht immer sämtliche Radien in einen Gipsabdruck integriert werden können. Dies lässt sich am Beispiel der Behandlung eines Flachrückens bei einer thorakalen Skoliose erläutern: Sofern der Techniker die Haut des Patienten vor dem Eingipsen nicht mit einer fettenden Creme behandelt und in den Konkavitäten keine Gipslonguetten direkt auf die Haut auflegt, wird bei dieser Technik häufig routinemäßig die Haut mit einem Perlon- oder Baumwolltrikot abgedeckt. Somit werden die Radien eines Flachrückens oder sonstige konkave Radien beim späteren Ausgießen des Gipsnegatives nicht korrekt wiedergegeben und gehen verloren.
Zudem ist es relativ schwierig, einen Patienten für spätere Modulationszwecke in einer vorkorrigierten Position zu halten. Besonders die Shift-Funktion, die heute jeder Korsettbauer berücksichtigt, kann mit der Gipstechnik nur schwer gemeistert werden; überdies ist es schwierig, das Becken gespiegelt umzusetzen (also etwa den Druck auf Zone 41 nach Chêneau korrekt auszuüben). Diese Druckzone befindet sich zwischen der Crista iliaca und dem Trochanter major und drückt auf die Muskelgruppe der kleinen Glutäen. Diese Region hat nach Chêneau die Funktion, das Becken zu „schieben“.
Zwar existieren in der einen oder anderen orthopädischen Werkstatt, in der häufig Korsette mit dieser Technik konstruiert werden, Gerätschaften, in die die Patienten „eingespannt“ und vorkorrigiert werden. Jedoch gibt es nach Kenntnis des Verfassers bis heute auf dem Markt kein offiziell zugelassenes Gerät, mit dem die Patienten während dieser Phase stabilisiert und vorkorrigiert werden können.
Somit wurde im Betrieb des Verfassers bereits in den 1990er Jahren versucht, in Zusammenarbeit mit einem kanadischen CAD-Programmentwickler mit Hilfe eines Bibliothekensystems die CAD-Prothesen-Modulation mit dem Korsettbau zu verbinden. Daher wird seit 1995 zum Korsettbau eine CAD-CAM-Software benutzt, die sich im Laufe mehrerer Jahre bis heute in Zusammenarbeit mit der Herstellerfirma bewährt hat. Dieses System hat sich innerhalb der vergangenen 20 Jahre in drei wesentlichen Etappen entwickelt, die im Folgenden genauer vorgestellt werden.
Etappe 1 – Korsettsystem C95 (Chêneau 95)
In den Jahren ab 1995 wurde zunächst die Methode „C95“ angewandt, bestehend aus einer Bibliothek mit symmetrischen 3‑D-Modellen, die in Zusammenarbeit mit Dr. Chêneau mit sogenannten Overlays (Abb. 1) ergänzt wurden. Hierbei handelt es sich um eine gezeichnete Region, erzeugt durch mehrere Mausklicks, bei denen der letzte Klick die Region schließt. Nach der Erfassung manuell abgenommener Maße am Patienten konnte der Techniker mit dieser Methode aus verschiedenen sogenannten 3‑D-Morphotypen, die aus „normalen“, nicht verkrümmten Bibliothekenformen (virtuellen 3‑D-Standard-Modellen) in der Library stammten, die am besten passende Form auswählen. Die Modelle wurden sodann mit Hilfe einer Maßtabelle mit den entsprechenden Körperformen der Patienten und deren Maßen in Relation gebracht (Abb. 2).
Digitale Kameras waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht wie heute üblich im Einsatz. Zwar wurden damals zur Unterstützung der Modulationen teure Polaroid-Bilder gefertigt und für Dokumentationszwecke genutzt, jedoch konnten diese Bilder nicht digital hinterlegt werden und gingen somit verloren. Nach dem Modellieren der Form mit der CAD-CAM-Software wurde dann ein PU-Hartschaummodell auf einer 3‑Achs-Fräse gefräst und anschließend mit der herkömmlichen Tiefziehtechnik weiterverarbeitet.
Diese Methode hat sich über viele Jahre in der Zusammenarbeit mit den Zentral-Fertigungs-Kunden bewährt, und es wurden mit dieser Technik in Deutschland viele Patienten versorgt. Die Methode hatte jedoch einige Schwächen und hing, was die Genauigkeit der Maße anging, vom sorgfältigen Messen und Fotografieren des Technikers ab. Bei Anproben der so entstandenen Korsette zeigte sich, dass die Methode gegenüber einem genauen Gipsabdruck, was die Passformgenauigkeit anging, nicht überlegen war. Dies galt sowohl für die Genauigkeit der Höhen und der Volumina als auch der Drücke. Zudem konnte man mit diesem System zu Beginn mit ca. 25 Overlays nur die klassische Double-Major-Skoliose behandeln.
Das Overlay-Regionen-System war also zu diesem Zeitpunkt für nur einen Skoliosetyp noch gut überschaubar. Beim Ausbau für weitere Skoliosetypen, wie zum Beispiel für die Entwicklung von Derotationsorthesen, erwies sich die Entwicklung weiterer Overlays jedoch als sehr kompliziert. Es wurde damals versucht, die Klassifikation nach King-Chêneau von 1 bis 5 (Abb. 3) mitzuberücksichtigen. Aber bei mindestens 20 bis 25 Overlays je Form, multipliziert mit 5 Korsett-Typen, das Ganze gespiegelt, war diese Aufgabe fast nicht mehr zu bewältigen und wäre sicherlich auch nicht mehr überschaubar gewesen (es hätten sich mindestens 250 Regionen nur für die Mädchen-Bibliothek ergeben).
Etappe 2 – Korsettsystem C2000 (Chêneau 2000)
Somit wurde in den Jahren zwischen 2002 und 2005 eine neue Grundbibliothek nach dem Schema „C2000“ entwickelt (Abb. 4). Diese Bibliothek bestand aus fertig modulierten Skoliose-Modellen und ermöglichte dadurch eine neue Methode der Modulation. Sie erlaubte es, Modelle sowohl für Mädchen als auch für Jungen und zudem verschiedene Krümmungsmuster in Untergruppen zu hinterlegen. Das Auflegen von Overlays oder Pads war als Funktion in der Software weiterhin enthalten.
Diese Methode deckte zwar einen Großteil der Patienten ab, hatte jedoch ebenfalls einige Schwächen. Das Verfahren mit nur einem Grundmodell (jedes Modul stammte aus lediglich einer Korsettform eines beliebigen Patienten), ob lumbal, „double major“, thorakal, thorakolumbal oder doppelt hochthorakal, sowohl für Mädchen als auch für Jungen, konnte nicht zufriedenstellen, da hierbei die Morphologie der Patienten immer noch nicht mit den Bibliothekenformen fusioniert werden konnte.
Etappe 3 – Korsett-Bibliotheken in Verbindung mit Scannerdaten
Im Jahr 2012 wurde eine neue Methode eingeführt, bei der „echte“ 3‑D-Patientenradien durch Scannen mit Bibliotheken-Formen gemixt werden konnten. Diese weiterentwickelte Moduliermethode dürfte heute vielen Technikern nicht nur ermöglichen, mit einem CAD-Programm Korsette zu konstruieren, sondern auch die individuelle Morphologie des Patienten und seine Krümmungsmuster mit Korrekturschemata wie Lenke, Lohnstein, Rigo oder weiteren personalisierten Korsett-Systemen, die auf mehrjähriger Erfahrung beruhen, zu verbinden.
Bei diesem Verfahren fotografiert, misst und scannt der Techniker den Patienten für die späteren Modulierzwecke. Vor der Abreise des Patienten müssen alle Daten sorgfältig überprüft werden, da ein Speicherfehler schwerwiegende Folgen haben kann. Denn im Gegensatz zum Gipsnegativ hat der Techniker bei einem Datenverlust keine Chance mehr, diese wiederzuerlangen, außer indem er den Patienten für eine neue Datenerfassung ein zweites Mal einbestellt. Dafür ist der Scan eines Patienten, falls gut gesichert, für alle Zeiten verfügbar. Unabhängig davon erweist sich das Sichern von 3‑D-Konturen der Patienten für die Dokumentation und damit als Vergleichs- und klinische Kontrollmethode für weitere Korsettversorgungen als großer Vorteil.
Nach Überprüfung aller Daten vergleicht der Techniker erneut die exakten Maße des Patienten im jeweiligen Erfassungsprogramm des angeschafften Scanners. Dazu müssen nur 2 oder 3 Kontrollmaße mit den Scannerdaten abgeglichen werden, um sicherzustellen, dass der Scanner stets korrekt kalibriert ist und dass die von Hand abgenommenen Maße mit den Scanner-Maßen übereinstimmen.
Nachdem die 3‑D-Daten des Patienten mit dem jeweiligen vorgewählten Skoliose-Modul verknüpft wurden (hierbei ist die Erfahrung des Orthopädie-Technikers ein wichtiger Aspekt), verbinden sich die Scannerdaten mit dem Skoliose-Modul.
Im CAD-Programm bleiben im linken Fenster als Kontrollmodell die Patientendaten stets sichtbar, während der Techniker im aktiven Fenster das Korrekturmodell mit allen Werkzeugen des CAD-Programms bearbeiten kann (mehr oder weniger Volumen, mehr oder weniger Shift, Schnittkanten verlegen usw.) (Abb. 5).
Diese Technik funktioniert bei dem vom Verfasser genutzten Korsett-Bibliothekensystem, kann aber auch für alle anderen Korsett-Konstruktionsvarianten genutzt werden. Der Unterschied bei dieser Modelliermethode besteht nur im Design der jeweiligen 3‑D-Skoliose-Grundformen.
Fazit
Zwar können heutzutage alle aktuell auf dem Markt befindlichen CAD-Programme über eine relativ einfache Eingabe in einer Maßtabelle hochwertige Grundformen erzeugen. Die Vergangenheit hat aber gezeigt, dass als Kontrollmodell „echte“ Scannerdaten, die mit 3‑D-Bibliotheken verbunden werden, viel bessere Endergebnisse sowohl in Bezug auf die Passform als auch auf Volumina und Höhen erzeugen können.
Der Autor:
Freddy Hoeltzel
Regnier Orthopädie GmbH
Franz-John-Str. 10
77855 Achern
fh@regnier-gmbh.com
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