Der Ein­satz iner­tia­ler Sen­so­rik zur Bestim­mung indi­vi­du­el­ler Rota­ti­ons­ach­sen im unte­ren Sprunggelenk

S. Schlechtweg, E.-M. Hauser, W. Alt
Individuelle Präventions- und Behandlungsstrategien erfordern patientenspezifische Kenntnisse über anatomische Strukturen. Obgleich häufig als relevanter Faktor diskutiert, gibt es bislang kein diagnostisches Verfahren für die untere Sprunggelenkachse, mit dem die Orientierung der Rotationsachse ökonomisch und hinreichend genau bestimmt werden kann. Ziel der Arbeit ist die Überprüfung eines Verfahrens zur Bestimmung der Orientierung der unteren Sprunggelenkachse.

Zwei Seg­men­te eines mecha­ni­schen Modells mit je einem Iner­ti­al­sen­sor (IMU) wur­den über ein Schar­nier­ge­lenk mit­ein­an­der ver­bun­den. Die Rota­ti­ons­ach­se und die Sen­sor­ori­en­tie­rung wur­den per Ultra­schall-Posi­ti­ons­sys­tem in 50 zufäl­li­gen Aus­rich­tun­gen extern und mit dem neu­en Ver­fah­ren bestimmt. Somit konn­te die mit­tels IMU berech­ne­te Ach­se durch ein exter­nes Refe­renz­sys­tem über­prüft wer­den. Der Ver­gleich der Metho­den erfolg­te über eine Bland-Alt­man- Sta­tis­tik, eine linea­re Regres­si­on und eine Intra-Klas­sen-Kor­re­la­ti­on. Eine mitt­le­re Abwei­chung vom Refe­renz­sys­tem von ‑0.13° und ein Kor­re­la­ti­ons-Koef­fi­zi­ent von r = .99 bele­gen die Vali­di­tät des Ver­fah­rens. Das neue Sys­tem erlaubt eine öko­no­mi­sche und prä­zi­se Bestim­mung der Ori­en­tie­rung der unte­ren Sprunggelenkachse.

Ein­lei­tung

Die Kennt­nis der Aus­prä­gung indi­vi­du­el­ler ana­to­mi­scher Struk­tu­ren ist Grund­la­ge spe­zi­fi­scher Prä­ven­ti­ons-und Behand­lungs­stra­te­gien. Die Bedeu­tung der unte­ren Sprung­ge­lenk­ach­se im Kon­text aku­ter und chro­ni­scher Über­las­tun­gen des Fußes wur­de in der Lite­ra­tur bereits häu­fig dis­ku­tiert 123456. Der gemein­sa­me Ansatz war neben der „Schräg­heit“ 7 der Ach­se immer die „außer­or­dent­li­che Vari­anz“ 8 der ana­to­mi­schen Struk­tu­ren. Bereits Ende der 60er Jah­re stell­te Isman fest: „[T]he varia­ti­on in the posi­ti­ons of the dif­fe­rent axes is such that they requi­re indi­vi­du­al deter­mi­na­ti­on“ 9. Die Pro­jek­ti­on der unte­ren Sprung­ge­lenk­ach­se auf die Trans­ver­sal­ebe­ne ver­an­schau­licht die Rele­vanz der Ori­en­tie­rung der unte­ren Sprung­ge­lenk­ach­se. Das auf­ge­brach­te Moment der inver­to­risch und ever­to­risch wir­ken­den Mus­keln kann durch einen ver­grö­ßer­ten senk­rech­ten Abstand zur Rota­ti­ons­ach­se erhöht wer­den. Im Fal­le des M. tibia­lis ante­rior bei­spiels­wei­se ist das auf­ge­brach­te sta­bi­li­sie­ren­de Moment bei erhöh­ter Abwei­chung von der sagit­ta­len Ebe­ne des Fußes ver­rin­gert. Der gesam­te Sprung­ge­lenk-Kom­plex besteht aus dem obe­ren und dem unte­ren Sprung­ge­lenk. Die Ach­sen der Sprung­ge­len­ke lie­gen nicht ortho­go­nal auf­ein­an­der, wodurch es zu einer Bewe­gungs­fu­si­on bei­der Gelen­ke kommt. Alt (2001) 8und nach­fol­gend Hoch­wald (2007) 10sowie Lewis et al. (2007) 11zeig­ten, dass für eine funk­tio­nel­le Dia­gnos­tik der unte­ren Sprung­ge­lenk­ach­se der Talus durch eine maxi­ma­le Dor­sal­fle­xi­on zwi­schen den Troch­lea der Tibia ein­ge­klemmt und als bewe­gungs­un­fä­hig ange­se­hen wer­den kann.

Unter die­ser Vor­aus­set­zung kann zur Bestim­mung der ana­to­mi­schen Ach­se des unte­ren Sprung­ge­lenks die Bewe­gung als mono­axi­al ver­ein­facht auf­ge­fasst. Bis­lang fehlt es aller­dings an dia­gnos­ti­schen Ver­fah­ren, die die Ori­en­tie­rung der Rota­ti­ons­ach­se im Kon­text all­täg­li­cher Anwen­dung öko­no­misch und hin­rei­chend genau bestim­men. Her­kömm­li­che Bewe­gungs­ana­ly­se­sys­te­me mit reflek­tie­ren­den Mar­kern und ana­to­mi­schen Punk­ten sind auf­grund der Rol­le des Talus, des­sen Bewe­gung an der Haut­ober­flä­che nicht beob­acht­bar ist, pro­ble­ma­tisch. Bild­ge­ben­de Ver­fah­ren (MRT, Rönt­gen) sind zeit­lich sehr auf­wen­dig, teu­er, nicht por­ta­bel und – im Fal­le von Rönt­gen­auf­nah­men – wegen des inva­si­ven Cha­rak­ters ethisch bedenk­lich. Außer­dem ste­hen die Infor­ma­tio­nen über die Ori­en­tie­rung der Rota­ti­ons­ach­sen erst nach auf­wen­di­ger Ver­ar­bei­tung der Daten zur Ver­fü­gung. Wei­ter­hin las­sen Ergeb­nis­se aus der Arbeit von Nichols et al. (2017) 12 ver­mu­ten, dass sta­tisch bestimm­te Rota­ti­ons­ach­sen nur gerin­ge funk­tio­nel­le Rele­vanz besit­zen. Daher soll­ten dyna­mi­sche Mes­sun­gen durch­ge­führt wer­den. Es exis­tie­ren unter­schied­li­che Anga­ben über die Frei­heits­gra­de des unte­ren Sprung­ge­lenks 891213. Die Mehr­heit der Autoren geht nach Alt (2001, S. 60) 8 von einer mono­axia­len Gelenk­be­we­gung in einem Frei­heits­grad aus. Unter die­ser modell­haf­ten Annah­me lässt sich die Rota­ti­on benach­bar­ter Seg­men­te um die gemein­sa­me Ach­se nach Seel et al. (2012) 14 mathe­ma­tisch durch die Win­kel­ge­schwin­dig­kei­ten bei­der Seg­men­te beschrei­ben. Win­kel­ge­schwin­dig­kei­ten kön­nen über iner­tia­le Mess­ein­hei­ten (IMU) bestimmt wer­den. Ziel der Stu­die ist die Über­prü­fung eines Algo­rith­mus zur Bestim­mung von Rota­ti­ons­ach­sen für des­sen Ein­satz in einem dia­gnos­ti­schen Ver­fah­ren für den kli­ni­schen Alltag.

Iner­ti­al­sen­so­ren zur Bestim­mung der Gelenkkinematik

Minia­tu­ri­sier­te Sen­so­ren erfas­sen Beschleu­ni­gun­gen, Dreh­ra­ten und magne­ti­sche Fluss­dich­ten zur Bestim­mung der Sen­sor­ori­en­tie­rung im Träg­heits­sys­tem Erde. Im Ver­gleich zu eta­blier­ten Mar­ker­sys­te­men sind IMU­basier­te Sys­te­me kos­ten­güns­ti­ger und por­ta­bel. Die gerin­ge­ren tech­no­lo­gi­schen Anfor­de­run­gen ermög­li­chen Ein­sät­ze in Feld­un­ter­su­chun­gen. Die wesent­li­chen Pro­ble­me beim Ein­satz der IMUs bestehen in zeit­ab­hän­gi­gen Sta­bi­li­täts­pro­ble­men der Mess­da­ten: Win­zi­ge Unge­nau­ig­kei­ten in der Her­stel­lung der mikro­me­cha­ni­schen Sys­te­me füh­ren zu Drift­ver­hal­ten, beson­ders der Dreh­raten­sen­so­ren. Außer­dem ist mathe­ma­tisch eine dop­pel­te Inte­gra­ti­on der Beschleu­ni­gung nötig, um die Posi­ti­on im Raum zu bestim­men. Im zeit­li­chen Ver­lauf der Daten sum­mie­ren sich die Mess­feh­ler zuneh­mend auf, und die Genau­ig­keit der Mess­da­ten ver­rin­gert sich. Zudem kön­nen elek­tro­ma­gne­ti­sche Stör­fel­der die Genau­ig­keit der Sen­sor­da­ten ver­rin­gern. Die jüngs­te Lite­ra­tur zeigt aber, dass mit Ver­fah­ren zur Bestim­mung mensch­li­cher Kine­ma­tik unter Ver­wen­dung von IMUs 15161718 die Genau­ig­keit mar­ker­ba­sier­ter Sys­te­me annä­hernd erreicht wer­den kann. Dabei wur­den auch mathe­ma­ti­sche Ver­fah­ren vor­ge­stellt, wel­che die Rota­ti­onsachen zwi­schen angren­zen­den Sen­so­ren bestim­men 1920.

Das in der vor­lie­gen­den Arbeit vali­dier­te Modell zeich­net sich durch die fol­gen­den Eigen­schaf­ten aus:

  1. Die Berech­nung kommt ohne Inte­gra­ti­on der Mess­da­ten aus.
  2. Es sind kei­ne Kali­brie­rungs- ver­fah­ren im Vor­feld nötig.
  3. Die Ori­en­tie­rung der Sen­so­ren zuein­an­der kann zufäl­lig gewählt werden.
  4. Der Algo­rith­mus ist zur Online- Ver­ar­bei­tung geeig­net und ermög­licht eine direk­te Dar­stel­lung der Ergebnisse.

Damit sind die Vor­aus­set­zun­gen für ein im kli­ni­schen All­tag ein­setz­ba­res dia­gnos­ti­sches Sys­tem gegeben.

Mate­ri­al und Methoden

Das Ver­fah­ren wur­de anhand eines mecha­ni­schen Modells über­prüft. Zwei Seg­men­te wur­den durch ein Schar­nier­ge­lenk mit­ein­an­der ver­bun­den. Die Rota­ti­ons­be­we­gun­gen wur­den durch einen Ser­vo­mo­tor im Gelenk erzeugt. Der Ser­vo­mo­tor wur­de über ein Ardui­no-Leo­nar­do-Mikro­con­trol­ler- Board betrie­ben und über eine in Mat­lab® 2019a geschrie­be­ne Nut­zer­ober­flä­che gesteu­ert, um unter­schied­li­che Bewe­gungs­um­fän­ge, ‑geschwin­dig­kei­ten und ‑for­men repro­du­zier­bar zu tes­ten. Auf die Seg­men­te wur­de je ein IMU der Fir­ma Xsens (MTw Awinda) in zufäl­li­ger Aus­rich­tung ange­bracht. Die Win­kel­ge­schwin­dig­kei­ten wur­den in drei ortho­go­na­len Ach­sen mit 50 Hz Abtast­ra­te aufgezeichnet.

Zur Trans­for­ma­ti­on der IMU-Daten in ein Labor­ko­or­di­na­ten­sys­tem wur­den Rota­ti­ons­ach­se sowie Sen­sor­ori­en­tie­rung per Ultra­schall-Posi­ti­ons­sys­tem (Zebris CMS-20) bestimmt. Vier Ultra­schall­sen­der (S1– S4) wur­den jeweils in Ver­län­ge­rung der Sen­sor-x-Ach­se und der Rota­ti­onsache des Ser­vo­mo­tors befes­tigt; die Auf­nah­me­fre­quenz betrug 120 Hz. Dazu wur­den Ver­scha­lun­gen im 3D-Druck­ver­fah­ren kon­stru­iert (Abb. 1). In einer sta­ti­schen Auf­nah­me über ca. 5 Sekun­den wur­de durch das CMS-20 die Posi­ti­on der Sen­der bestimmt. Die Sen­der wer­den als drei­di­men­sio­na­le Vek­to­ren dar­ge­stellt, deren Ursprung im loka­len Koor­di­na­ten­sys­tem des CMS-20 liegt, das gleich­zei­tig als Labor­ko­or­di­na­ten­sys­tem defi­niert wur­de. Die Sen­der S1 bis S4 bil­de­ten die Vek­to­ren der Form:

Fomel Initalsensor_1

Die Ori­en­tie­rung der Sen­sor-x-Ach­se und der Rota­ti­ons­ach­se wur­den durch die Vek­to­ren zwi­schen den Sen­dern S1 bis S4 wie in Abbil­dung 2 dar­ge­stellt berech­net. Das kine­ma­ti­sche Modell nach Seel et al. (2012) 14 ver­langt gelenk­be­schrei­ben­de Win­kel­ge­schwin­dig­kei­ten zur Berech­nung der Rota­ti­ons­ach­se. Eine ent­spre­chen­de Berech­nungs­funk­ti­on wur­de in Mat­lab® 2019a imple­men­tiert und für die Sen­sor­da­ten aus dem IMU-Sys­tem modi­fi­ziert. Zusam­men­ge­fasst wur­den vier Para­me­ter einer Funk­ti­on im ite­ra­ti­ven Vor­ge­hen ange­passt, sodass das Ergeb­nis der Funk­ti­on mini­mal wird. Die berech­ne­te Rota­ti­ons­ach­se liegt im Sen­sor i eben­falls in der Form

Fomel Initalsensor_2

vor und hat die Län­ge 1. Die­ser Vek­tor wird im loka­len Koor­di­na­ten­sys­tem der Sen­so­ren aus­ge­drückt. Er spannt zusam­men mit dem x‑Ach­sen-Vek­tor des Ursprungs­ko­or­di­na­ten­sys­tems des IMUs den Win­kel ∂IMU auf. Im Ide­al­fall gibt es kei­nen Unter­schied zwi­schen ∂IMU und ∂ref. Die inter­ne Vali­di­tät einer Metho­de ist immer dann gege­ben, wenn eine Ver­än­de­rung der unab­hän­gi­gen Varia­ble ein­deu­tig auf die Ver­än­de­rung der abhän­gi­gen Varia­ble zurück­zu­füh­ren ist, im vor­lie­gen­den Fall also der Win­kel zwi­schen Sen­sor und Rota­ti­ons­ach­se. Die Abwei­chung der Sen­sor-x- Ach­se zur Rota­ti­ons­ach­se des mecha­ni­schen Modells wur­de daher 50 Mal mit wech­seln­der zufäl­li­ger Aus­rich­tung der IMUs bestimmt und mit den Ergeb­nis­sen aus den sta­ti­schen CMS- 20-Mes­sun­gen ver­gli­chen. Neben der grund­le­gen­den Über­prü­fung des Berech­nungs­mo­dells ist die Robust­heit des Algo­rith­mus gegen­über Stör­fak­to­ren mensch­li­cher Bewe­gung für spä­te­re Anwen­dun­gen von zen­tra­ler Bedeu­tung. Es ist nicht anzu­neh­men, dass eine mensch­li­che Bewe­gungs­aus­füh­rung ähn­lich gleich­för­mig ver­läuft wie die eines Ser­vo­mo­tors. Viel­mehr kann ange­nom­men wer­den, dass das Bewe­gungs­aus­maß im unte­ren Sprung­ge­lenk inter­in­di­vi­du­ell vari­iert, eben­so wie die Bewe­gungs­ge­schwin­dig­keit. Außer­dem sind iner­tia­le Sen­sor­sys­te­me dafür bekannt, mit zuneh­men­der Auf­nah­me­zeit an Prä­zi­si­on zu ver­lie­ren 21. Daher wur­den Auf­nah­me­zeit, Bewe­gungs­aus­maß, Bewe­gungs­ge­schwin­dig­keit und Bewe­gungs­aus­füh­rung sys­te­ma­tisch über den Motor vari­iert. Zur sta­tis­ti­schen Absi­che­rung der Ergeb­nis­se wur­den Bland-Alt­man- Plots 22 und eine linea­re Regres­si­on ver­wen­det. Zusätz­lich wur­den die Daten mit­tels Intra-Klas­sen-Kor­re­la­ti­on auf abso­lu­te Über­ein­stim­mung über­prüft. Zur Quan­ti­fi­zie­rung des Unter­schieds zwi­schen den Metho­den wur­de der „sum of squa­res error“ (SSE) berechnet.

Ergeb­nis­se

Aus den 50 Ver­su­chen konn­ten 48 Daten­sät­ze aus­ge­wer­tet wer­den. Die Bland-Alt­man-Sta­tis­tik und die linea­re Regres­si­on sind in Abbil­dung 3 dargestellt.

Dis­kus­si­on

Ziel in der vor­lie­gen­den Arbeit war die Über­prü­fung eines Algo­rith­mus zur Bestim­mung von Rota­ti­ons­ach­sen für den Ein­satz in der all­täg­li­chen kli­ni­schen Dia­gnos­tik. Die Ergeb­nis­se zei­gen, dass die Rota­ti­ons­ach­se eines mecha­ni­schen Modells mit hoher Genau­ig­keit repro­du­zier­bar berech­net wer­den kann. Die mitt­le­re Abwei­chung der Ach­se mit ‑0.13° ist mar­gi­nal und ver­nach­läs­sig­bar. Die Intra-Klas­sen-Kor­re­la­ti­on mit r = .99 bedeu­tet eine fast opti­ma­le Über­ein­stim­mung der Sys­te­me. Zudem konn­te gezeigt wer­den, dass die Bestim­mung der Rota­ti­ons­ach­se nicht durch Fak­to­ren wie Auf­nah­me­zeit, Bewe­gungs­ge­schwin­dig­keit, ‑aus­maß oder ‑form beein­flusst wird; der Algo­rith­mus ist vali­de. Ein unmit­tel­ba­rer Trans­fer vom mecha­ni­schen Modell auf das mensch­li­che Sprung­ge­lenk ist aller­dings kri­tisch zu beur­tei­len: Wie bereits eini­ge Arbei­ten zeig­ten, wur­de das unte­re Sprung­ge­lenk nicht über­ein­stim­mend als Gelenk mit einem Frei­heits­grad beschrie­ben. Es kann auch sein, dass es wäh­rend der Rota­tio­nen im Gelenk zu Trans­la­tio­nen ent­lang der Rota­tio­n­ach­se kommt8. Da jedoch die Berech­nung aus­schließ­lich auf den Win­kel­ge­schwin­dig­kei­ten basiert, sind Trans­la­tio­nen ent­lang der Ach­se irrele­vant und beein­flus­sen das Ergeb­nis nicht. Am mecha­ni­schen Modell ist der Sen­sor direkt mit dem „punc­tum mobi­le“ ver­bun­den – im Gegen­satz dazu wer­den die Seg­ment­be­we­gun­gen beim Men­schen an der Haut­ober­flä­che gemes­sen. Rela­tiv­be­we­gun­gen zwi­schen Haut und Kno­chen beein­flus­sen die Daten­qua­li­tät. Betrach­tet man die Haut­ver­schie­bun­gen als sto­chas­ti­schen Feh­ler, wird des­sen Ein­fluss über die zuneh­men­de Anzahl an Mess­da­ten ver­rin­gert. Zudem ist eine mög­li­che Bewe­gung des Talus trotz maxi­ma­ler Dor­sal­fle­xi­on kri­tisch zu betrach­ten. Der funk­tio­nel­le Zusam­men­hang mit der obe­ren Sprung­ge­lenk­ach­se wur­de bei den Über­le­gun­gen in die­ser Arbeit zunächst igno­riert; die­se müs­sen bei der Inter­pre­ta­ti­on der Ori­en­tie­rung der unte­ren Sprung­ge­lenk­ach­se jedoch mit ein­be­zo­gen wer­den. Es bleibt zu klä­ren, wel­che Bedeu­tung die Ori­en­tie­rung der obe­ren Sprung­ge­lenk­ach­se für die Funk­ti­ons­wei­se des unte­ren Sprung­ge­len­kes hat. Der bedeu­tends­te Unter­schied zwi­schen Modell und mensch­li­chem Fuß ist die Gelenk­mor­pho­lo­gie: Im mensch­li­chen Fuß arti­ku­lie­ren kon­ka­ve und kon­ve­xe Gelenk­flä­chen mit­ein­an­der. Eine Gelenk­ach­se ist als laten­tes Kon­strukt nicht direkt beobachtbar.

Die Ori­en­tie­rung der Ach­se des unte­ren Sprung­ge­lenks wird übli­cher­wei­se mit den Win­keln „Devia­ti­on“ und „Inkli­na­ti­on“ ange­ge­ben. Die Devia­ti­on ist die Abwei­chung von der Mit­tel­li­nie des Fußes; die Inkli­na­ti­on beschreibt die Abwei­chung der Trans­ver­sal­ebe­ne. Wie oben beschrie­ben wer­den die Rota­ti­ons­ach­sen bis­lang aus­schließ­lich in loka­len Sen­sor-Koor­di­na­ten­sys­te­men ange­ge­ben. Die ein­fachs­te Mög­lich­keit eines gemein­sa­men Bezugs­sys­tems wäre die kon­gru­en­te Ori­en­tie­rung der jewei­li­gen Koor­di­na­ten­sys­te­me. Eine exak­te Aus­rich­tung der Sen­so­ren am Seg­ment ist prak­tisch nicht mög­lich. Die Eigen­schaf­ten des Algo­rith­mus machen es daher erfor­der­lich, die ermit­tel­ten Rota­ti­ons­ach­sen in ein all­ge­mein­gül­ti­ges Koor­di­na­ten­sys­tem zu über­füh­ren. Ein sinn­vol­ler inter­in­di­vi­du­el­ler Ver­gleich wäre nur durch die Kennt­nis der Ori­en­tie­rung der Sen­so­ren in Bezug auf die jewei­li­gen ana­to­mi­schen Struk­tu­ren mög­lich. Daher wur­de ein zusätz­li­ches Kali­brie­rungs­ver­fah­ren ent­wi­ckelt und vali­diert, das die Rota­ti­ons­ach­se in ein per­so­nen­spe­zi­fi­sches Koor­di­na­ten­sys­tem über­setzt. Durch die hohe Genau­ig­keit, die ein­fa­che Anwen­dung und die direk­te Rück­mel­dung ist das vor­ge­stell­te Ver­fah­ren für den kli­ni­schen All­tag geeig­net. Es eröff­net die Mög­lich­keit einer indi­vi­dua­li­sier­ten Dia­gnos­tik als Grund­la­ge spe­zi­fi­scher Prä­ven­ti­ons-und Behandlungsstrategien.

Aus­blick

Mit dem vor­ge­stell­ten Ver­fah­ren ist es erst­mals mög­lich, die Ori­en­tie­rung der unte­ren Sprung­ge­lenk­ach­se genau­er zu schät­zen. Hier­aus ergibt sich eine Rei­he mög­li­cher Fra­ge­stel­lun­gen und Anwen­dungs­ge­bie­te, sowohl für die For­schung als auch für den ortho­pä­di­schen All­tag. Lersch et al. (2012) 23 für­dern bei­spiels­wei­se den Ein­be­zug der Fuß­ki­ne­ma­tik in die kli­ni­sche Dia­gnos­tik, die maß­geb­lich von der Ori­en­tie­rung der Rota­ti­ons­ach­sen abhängt. Des Wei­te­ren könn­ten die Rota­ti­ons­ach­sen zukünf­tig als zusätz­li­ches Kri­te­ri­um für die indi­vi­du­el­le Schuh­ge­stal­tung bei patho­lo­gi­schen Füßen die­nen. In der Aus­rüs­tung mit ortho­pä­di­schen Gang- und Sta­bi­li­täts­hil­fen könn­te die Ori­en­tie­rung der Ach­se ein­be­zo­gen wer­den, um indi­vi­dua­li­sier­te Rück­stell­mo­men­te zu erzeu­gen. In der kli­ni­schen For­schung wird es von vor­ran­gi­gem Inter­es­se sein, ob die Ori­en­tie­rung der unte­ren Sprung­ge­lenk­ach­se und die dar­aus abge­lei­te­ten Momen­te im Gelenk rele­vant für die Aus­bil­dung chro­ni­scher Über­las­tun­gen – ins­be­son­de­re der Achil­les­seh­ne – sein können.

Für die Autoren:
Sascha Schlecht­weg
Insti­tut für Sport- und Bewe­gungs­wis­sen­schaft Uni­ver­si­tät Stuttgart
All­mand­ring 28
70569 Stutt­gart
sascha.schlechtweg@inspo.uni-stuttgart.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Schlecht­weg S, Hau­ser E‑H, Alt W. Der Ein­satz iner­tia­ler Sen­so­rik zur Bestim­mung indi­vi­du­el­ler Rota­ti­ons­ach­sen im unte­ren Sprung­ge­lenk. Ortho­pä­die Tech­nik. 2019; 70 (12): 25–29

 

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