DGIHV: „Fest­le­gen von Behand­lungs­pfa­den ist überfällig“

Patientenversorgung in der Hilfsmittelbranche muss interdisziplinär abgestimmt werden – so lautete der einhellige Tenor der Fachleute aus dem Umfeld der Technischen Orthopädie, die am 29. September 2021 zur 5. Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung e. V. (DGIHV) in Berlin unter dem übergreifenden Thema „Digitalisierung“ zusammengekommen waren.

Nur ein­heit­li­che Qua­li­täts­stan­dards wür­den – so der Kon­sens – die enge Abstim­mung zwi­schen Poli­tik, Kran­ken­kas­sen, Hilfs­mit­tel­her­stel­lern sowie Ärz­ten und Orthopädie(schuh)technikern ermög­li­chen, um Unsi­cher­hei­ten bei Behan­deln­den und Kos­ten­trä­gern sowie kos­ten­träch­ti­gen Rei­bungs­ver­lus­ten vor­zu­beu­gen. „Die­ses Fest­le­gen von Behand­lungs­pfa­den in der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung ist über­fäl­lig, wird aber erfreu­li­cher­wei­se über die in der DGIHV ver­ein­ten, ver­schie­de­nen Inter­es­sens­grup­pen aus Medi­zin, Hand­werk und Her­stel­lern aktu­ell mit gro­ßem Schwung bear­bei­tet“, erläu­ter­te Prof. Dr. Wolf­ram Mit­tel­mei­er, ers­ter Vor­sit­zen­der der DGIHV.

Beson­de­re Aktua­li­tät erhält die Fra­ge nach Qua­li­täts­stan­dards durch die schwe­len­de Debat­te über die Online-Ein­la­gen­ver­sor­gung. Daher rück­ten unter den Berich­ten aus den DGIHV-Sek­tio­nen die Ergeb­nis­se der Arbeits­grup­pe (AG) Fuß und Schuh in den Gesprächs­fo­kus. Des­sen tech­ni­scher Chair, Micha­el Möl­ler, kri­ti­sier­te: „Digi­ta­li­sie­rung wird ad absur­dum geführt, wenn Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten ein Ver­sor­gungs­kon­zept für Fuß­fehl­stel­lun­gen aus dem 19. Jahr­hun­dert als digi­ta­le Inno­va­ti­on ver­kauft wird. Die Trenn­schär­fe zwi­schen Chan­cen und Irr­we­gen der Digi­ta­li­sie­rung geht ver­lo­ren, so dass wir hier auch als Fach­ge­sell­schaft einen deut­li­chen Auf­trag haben. Digi­ta­le Ver­sor­gungs­kon­zep­te müs­sen sich in gel­ten­de Qua­li­täts­stan­dards ein­fü­gen und die­se durch neue inno­va­ti­ve Kon­zep­te wei­ter­ent­wi­ckeln. Bei der Unter­schrei­tung gesetz­li­cher Min­dest­stan­dards, wie etwa der Hilfs­mit­tel­richt­li­nie oder Medi­cal Device Regu­la­ti­on (MDR) wird eine rote Linie über­schrit­ten.“ Möl­ler schlug vor, für wirk­lich inno­va­ti­ve Kon­zep­te ein DGIHV-Güte­sie­gel zu erarbeiten.

Neu im Rei­gen der DGIHV-Sek­to­ren ist die jüngst gegrün­de­te AG Elek­tro­sti­mu­lie­ren­de Hilfs­mit­tel unter den Chairs Prof. Dr. Timo Kirsch­stein und Lutz Kla­sen. Beson­ders anspruchs­voll sei­en die Ent­wick­lung und Erfas­sung von Indikations‑, The­ra­pie- und Qua­li­täts­stan­dards in Neu­ro­or­tho­pä­die, Sen­so­mo­to­rik, Neu­ro­or­the­tik und Neu­ro­re­ha­bi­li­ta­ti­on, wie Kla­sen bei der Vor­stel­lung der AG, Teil der Sek­ti­on „Versorgungspfade/Leitlinien“, erklärte.

Wie die Tele­kom­mu­ni­ka­ti­on in der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung, ins­be­son­de­re in länd­li­chen Regio­nen, ein­ge­setzt wer­den kann, leg­te Prof. Dr. Neelt­je van den Berg in ihrem Fach­vor­trag „Nut­zung von Tele­me­di­zin und eHe­alth bei der Imple­men­ta­ti­on regio­na­ler, sek­tor­über­grei­fen­der Ver­sor­gungs­pfa­de“ dar. Die Bereichs­lei­te­rin des Greifs­wal­der Insti­tu­tes für Com­mu­ni­ty Medi­ci­ne für inno­va­ti­ve Kon­zep­te und regio­na­le Ver­sor­gung prä­sen­tier­te Ergeb­nis­se einer Stu­die zu neu­en Wegen beim tele­me­di­zi­ni­schen Tria­ge-Ver­fah­ren bei Kin­dern, das heißt, der Not­fall-Beur­tei­lung über Tele­kom­mu­ni­ka­ti­on. „Die tele­me­di­zi­ni­sche Kon­takt­auf­nah­me bie­tet ins­be­son­de­re für länd­li­che Regio­nen vie­le Chan­cen. Es ist aber noch ein müh­sa­mer Weg: Wir müs­sen uns wei­ter der tech­ni­schen und orga­ni­sa­to­ri­schen Imple­men­ta­ti­on sowie recht­li­chen Fra­gen wid­men“, resü­miert van den Berg in ihrer Eva­lua­ti­on. „Die Tech­nik muss ein­heit­lich gestal­tet und ein­fach sein.“

Die Fra­ge nach dem Weg der „Euro­päi­sie­rung in der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung“ beant­wor­te­te Xavier Ber­te­e­le, Vor­sit­zen­der des Ver­wal­tungs­ra­tes der Bel­gi­schen Berufs­ver­ei­ni­gung für Ortho­pä­die­tech­nik (BBTO∙UPBTO). Er kri­ti­sier­te in sei­nem Vor­trag sprach­li­che Unzu­gäng­lich­kei­ten der MDR und beschrieb die gro­ße Sor­ge bel­gi­scher Betrie­be vor dem zusätz­li­chen Arbeits­auf­wand und den Mehr­kos­ten, die in den Ver­sor­gungs­all­tag inte­griert wer­den müs­sen. Anstatt zu resi­gnie­ren, habe der BBTO als posi­ti­ven Effekt der MDR sei­ne euro­päi­sche Zusam­men­ar­beit inten­si­viert – unter ande­rem mit der DGIHV. Ber­te­e­le unter­stützt die Bestre­bun­gen der Fach­ge­sell­schaft zur Ein­füh­rung von Stan­dard­ver­fah­ren in der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung und for­dert euro­päi­sche Qua­li­täts­stan­dards, trans­pa­ren­te Preis­kal­ku­la­tio­nen sowie evi­denz­ba­sier­te Stu­di­en. Auf­wand und ent­spre­chen­de Mehr­kos­ten durch die neu­en MDR-Rege­lun­gen sei­en laut Ber­te­e­le für die Betrie­be bis­her kei­nes­wegs abgedeckt.

In der abschlie­ßen­den Dis­kus­si­on wur­de deut­lich, wie wich­tig in der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung als unver­zicht­ba­rer Säu­le des Gesund­heits­sys­tems Abstim­mungs­pro­zes­se, inter­dis­zi­pli­nä­re Zusam­men­ar­beit und ziel­ge­rich­te­te Imple­men­tie­rung neu­er digi­ta­ler Tech­no­lo­gien sind.

„Wir haben heu­te erneut erfah­ren, wie wich­tig es in der gesam­ten Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung ist, unse­re Fach­grup­pen für eine gemein­sa­me Gestal­tung von Behand­lungs­zie­len und ‑metho­den zu bün­deln. Digi­ta­li­sie­rung wird dabei in Her­stel­lung, Kom­mu­ni­ka­ti­on und Qua­li­täts­si­che­rung eine zuneh­men­de Rol­le spie­len müs­sen“, schloss Prof. Dr. Wolf­ram Mittelmeier.

 

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