Planung einer „XXL-Prothese“
Beratung und Aufklärung
Bei der Prothetik-Beratung für Anwender mit Übergewicht oder gar Adipositas ist es in besonderem Maße wichtig, Möglichkeiten und Grenzen exakt festzulegen und diese dem zukünftigen Anwender aufzuzeigen. Eine sachkundige Beratung ist für alle Beteiligten sinnvoller als Versprechungen, die hinterher nicht eingehalten werden können. In der Versorgung übergewichtiger Anwender ist die Passteilauswahl begrenzt. Diese Grenzen orientieren sich oft am Anwender selbst, am familiären Umfeld, an den medizinischen Behandlungsmöglichkeiten und schließlich an den Auswahlmöglichkeiten der prothetischen Passteile.
Dennoch darf angesichts der persönlichen, körperlichen, medizinischen und technischen Grenzen das eigentliche Ziel nicht aus den Augen verloren werden: Aus Sicht des Orthopädie-Technikers ist dies die Wiedererlangung der Mobilität seines Anwenders.
Im Jahr 2013 waren 62 Prozent der Männer und 43 Prozent der Frauen in Deutschland übergewichtig 1. Diese Quoten können zunächst auch für die Prothesenträger in Deutschland herangezogen werden. Wahrscheinlich ist die Quote für Prothesenträger mit Übergewicht jedoch deutlich höher, da die Ursachen für eine Amputation oftmals auf Gefäßerkrankungen wie Diabetes, arterielle Verschlüsse und Übergewicht zurückzuführen sind. Tabelle 1 zeigt, dass laut Body-Mass-Index bei einer beispielhaften Körpergröße von 1,89 m ab 95 kg von Übergewicht gesprochen wird. Um eine Adipositas handelt es sich – bei derselben Körpergröße – ab 107 kg Körpergewicht. Eine Person mit 1,89 m Körpergröße und 107 kg Körpergewicht hinterlässt nicht den Eindruck eines XXL-Patienten, obwohl wir bei ihm auch schon von Adipositas reden. Jedoch stehen bei der Passteilauswahl bei einem solchen Körpergewicht noch nahezu alle Auswahlmöglichkeiten zur Verfügung. Der Adipositas-Patient muss sich nicht nur mit seinem Übergewicht auseinandersetzen, sondern oftmals auch mit den einschränkenden Auswirkungen der Begleiterscheinungen wie zum Beispiel Herzschwäche, Inaktivität oder auch Arthrose, die eine Prothesenversorgung und eine gelungene Rehabilitation deutlich erschweren können 2.
Eine geeignete Art, die Bedürfnisse und die Motivation der beinamputierten Person zu ermitteln, besteht darin, ihr die Möglichkeit von Probeversorgungen und Austestungen verschiedener funktioneller Komponenten in Aussicht zu stellen. Bei den erschwerten Bedingungen für die Prothesenversorgung adipöser Patienten ist es besonders wichtig, einen engen Kontakt zu den begleitenden Disziplinen des Rehabilitationsprozesses zu pflegen. Bei einer Interims-Prothesenversorgung kann das Potenzial des Anwenders dadurch von mehreren Seiten beleuchtet werden. Für die Gehschule und das Prothesentraining ist die Zusammenarbeit mit geschulten Physio- und Ergotherapeuten unerlässlich. Die Teamarbeit schließt in solchen Fällen in erhöhtem Maße Familie, Arzt, Therapeut, Pflegepersonal und Kostenträger mit ein. Der Patient steht also nicht alleine da und spürt zugleich, welche große Herausforderung die Wiedererlangung seiner Mobilität bedeutet. Dem Orthopädie-Techniker wiederum wird dadurch bewusst, dass die Frage der Mobilität bei Weitem nicht alleine von der Prothesenversorgung abhängt 34.
Mobilitätsgrad und Passteilbelastungen
Wie bei allen Prothesenversorgungen wird die Auswahl der Passteile von den verschiedenen Aspekten des Körpergewichtes und der Mobilität bestimmt. Jedoch ist zunächst zu fragen, von welchem Mobilitätsgrad bei Patienten mit Adipositas überhaupt auszugehen ist. Ein übergewichtiger unterschenkelamputierter Anwender im Innenbereich wird in der Regel keine großen Sprünge mit der Prothese vollziehen und auch nicht signifikante Gehgeschwindigkeitsänderungen initiieren. Es handelt sich also bei der hier im Mittelpunkt stehenden Patientengruppe eher um Personen der Mobilitätsgrade 1 („Innenbereichsgeher“) und 2 („Eingeschränkter Außenbereichsgeher“), das heißt mit geringen Belastungen und zumeist wenig Dynamik im Gangbild.
Gangzyklus bei Adipositas
Auch bei nichtamputierten Adipositaspatienten ist der Gangzyklus mit der bekannten Einteilung in 8 Phasen (Abb. 1) beeinträchtigt. Eine Beinamputation verstärkt diesen Effekt, vor allem, weil der Patient vor und nach der Amputation – z. B. durch lange Liegezeiten – seine Beweglichkeit und Aktivität zunehmend verliert. Jedoch muss hier hinsichtlich des tatsächlichen Übergewichts und auch der Körperform differenziert werden: Je größer zum Beispiel der Umfang beider Oberschenkel ist, desto schwieriger wird das achsengerechte Erreichen eines physiologischen Gangbildes vom Fersenauftritt bis zur Zehenablösung sein. Je langsamer sich der Betroffene fortbewegt, je größer sein Körpergewicht und sein Körper- und Beinumfang sind, desto mehr werden sich die Gangphasenabläufe auf die mittlere Standphase konzentrieren. Das Gehen wird also mehr ein „Stapfen“ sein und weniger ein Abrollen mit progressiver Vorwärtsdynamik. Die physiologischen Phasen des Schrittes teilen sich in solchen Fällen zu etwa 60 % in die Standphase und zu 40 % in die Schwungphase auf. Bei schweren Adipositas-Patienten steigt der prozentuale Anteil der Standphase zu Ungunsten der Schwungphase noch weiter an.
Die auf dem Markt befindlichen Passteile sind in der Regel für den normalen Gangzyklus konzipiert und getestet. Das könnte ein Indiz dafür sein, dass die zu verwendenden Passteile für Adipositas-Patienten weitaus weniger in ihrer Belastung herausgefordert werden als im normalen Gangzyklus, weil sie weniger bewegt werden. Was also die Mobilität betrifft, werden wir in der Passteilauswahl sicher im Bereich der Mobilitätsgrade 1 und 2 bleiben müssen. Es sollte aber überprüft werden, ob dann die Zulassung des Herstellers, was das Maximalgewicht des Anwenders betrifft, noch gegeben ist.
Leistungsumfänge und erhöhter Kostenfaktor
Schließlich muss bei der Auswahl der Prothesenkomponenten auch der Kostenfaktor berücksichtigt werden. In den vorhandenen Krankenkassenverträgen gibt es keine eigenen Positionen für Prothesenversorgungen mit erhöhtem Versorgungsaufwand, wie zum Beispiel für komplexe Geriatriker-Versorgungen oder Patienten mit Diabetes. Ebenso ist es nicht vorgesehen, „XXL-Amputierte“ in Prothesenverträgen besonders hervorzuheben. Es wird nach Amputationshöhe unterschieden, aber nicht nach Schweregrad und nur sehr selten nach Mobilitätsgrad. Beim Adipositas-Patienten zeigt sich oftmals ein geringer Mobilitätsgrad. Voraussichtlich wird es daher auch in den Verträgen zu einem kostenreduzierten Passteileinsatz und nicht zuletzt zu geringer bewerteten Schaftpositionen kommen. Dies, obwohl die Erfahrung zeigt, dass der Orthopädie-Techniker gerade in der Versorgung von XXL-Amputierten kostenintensivere Passteile sowie einen besonders hohen Zeitaufwand bei der Anfertigung und Nachpassung der Prothese zu bewältigen hat. Dazu kommen manchmal Verständnisschwierigkeiten, vermehrte Hilfestellungen bei den patientenbezogenen Tätigkeiten im Rahmen der Versorgung, mehr Gangschulbedarf und vor allem auch ein höheres Risiko hinsichtlich Stumpfveränderungen und ‑problemen im Prozess der Prothesenversorgung. Der höhere Zeitbedarf bei der Betreuung und Versorgung dieser Patientengruppe müsste auch bei den Kosten für die Passteile sowie der entstehenden Mehraufwände berücksichtigt werden.
Schafttechnik
Nach diesen allgemeinen Vorüberlegungen, die die Passteilauswahl beeinflussen, kommt der Schafttechnik ein Hauptaugenmerk der prothetischen Versorgung mit einer „XXL-Prothese“ zu. Die wesentlichen Anforderungen an die Schafttechnik im „Normalfall“, also beim nicht übergewichtigen Beinamputierten, lauten: Amputationshöhe, Stumpfverhältnisse und klinische Merkmale wie Bewegungsumfang und Kraftentfaltung entscheiden über die zu erwartende Funktionalität der Versorgung. Ein möglichst langer Stumpf bedeutet bessere Druckverteilung und einen langen Hebel für eine gute Steuerung der Prothese. Das gilt für transfemorale und transtibiale Beinstümpfe gleichermaßen. Die Idealvoraussetzung für die Versorgung eines Stumpfes mit einem adäquaten Schaft ist gegeben, wenn es sich um einen langen bis mittellangen Stumpf mit guter Weichteildeckung und gutem Muskelstatus handelt. Der Stumpf soll belastungsfähig sein und keine Kontrakturen oder Narbeneinziehungen aufweisen. Eine gute Durchblutung ist Grundvoraussetzung, und die allgemeine Fitness des Prothesenträgers sorgt dafür, dass sich diese Voraussetzungen auch nicht ständig ändern.
Wie lauten dagegen die Voraussetzungen für die Schafttechnik bei Adipositas-Patienten? Die Ansprüche an die Funktionalität sind genauso hoch wie im Normalfall. Die Stumpfverhältnisse sind aber andere, da die Muskulatur in der Regel nicht so gut definiert ist und durch Fettgewebe überdeckt und ersetzt wird. Eine weitere Schwierigkeit sind Narbeneinzüge, die bei adipösen Patienten oft exponiert vorhanden sind, da die kontrakte Narbenhaut sich nicht mit der restlichen Haut ausdehnt. Tiefe Einschnitte und Furchen sind daher z. B. beim adipösen Oberschenkelstumpf oft vorzufinden (Abb. 2a u. b). Die Weichteile am Stumpf ermöglichen nur einen schlechten Zugang zur knöchernen Struktur des Stumpfes (Abb. 2b u. 3). Es ist dann nahezu unmöglich, eine mediolaterale Stabilisierung durch das sogenannte „Bony-Lock“ („knöcherner Verschluss“) zu erzielen, bei dem es im Steuerungsbereich und der Eintrittsebene des Schaftes zu einer Führung zwischen dem medialen Ramus des Os ischii und dem lateralen Trochanter major kommt (Abb. 4). Im Idealfall erzeugt das Anspannen der Muskulatur im Schaft aufgrund der engen Führung eine Seitstabilität, die keine oder nur eine geringe Shift-Bewegung in der M‑L-Ebene im Moment der Standphase zulässt. Je weniger die anatomische Struktur des Stumpfes im Schaft abgebildet werden kann, umso schwieriger ist die Übertragung der muskulären Kräfte im Schaft. Kraft- und Gewichtsübernahme finden vermehrt durch Weichteile im Schaft statt.
Aber nicht nur die Stumpfbeschaffenheit ist ein wichtiger Aspekt, son-dern die allgemeine Beweglichkeit des Stumpfes und des gesamten Körpers ist ebenso wichtig. In vielen Fällen ist sie eingeschränkt durch Kontrakturen oder durch übermäßige Weichteilüberhänge.
Für die Stumpfversorgung empfiehlt sich in vielen Fällen ein Silikonliner, um die Weichteile zu stabilisieren und um evtl. Weichteilüberhänge einzudämmen. Zu achten ist dabei auf die Anziehtechnik und die Linertechnik. Das An- und Ausziehen des Liners ist nicht in allen Fällen selbstständig möglich. Mit dem Silikonliner ist es möglich, Scherkräfte von der Haut zu übernehmen – gerade dann, wenn der Stumpf nur geringfügig im Schaft durch die Muskulatur verspannt werden kann.
Passteilauswahl
Grundsätzlich ist die Passteilauswahl auch für XXL-Patienten vielfältig: Auf dem europäischen Markt findet man durchaus Passteile, die vom Hersteller für ein Körpergewicht von bis zu 225 kg zugelassen sind. Im Angebot sind dabei auch Gesamtkonzepte (z. B. „Heavy Duty Line“ von Otto Bock oder Streifeneder 5) für Mobilitätsgrad 1 bei transtibialer Amputation. In höheren Mobilitätsgraden lassen sich Patienten mit transtibialem Amputationsniveau auch bis zu 227 kg versorgen (z. B. „Vari-Flex Modular“ von Össur). Im Unterschenkelbereich stehen also für Patienten mit hohem Körpergewicht geeignete Strukturteile und Fußpassteile zur Verfügung. Im transfemoralen Bereich dagegen gehen die Herstellerangaben ein wenig zurück: Das maximale Körpergewicht liegt hier bei 166 kg (z. B. „Mauch Knee Plus“ von Össur) und bei elektronischen Kniegelenken bei 150 kg (z. B. „Genium“ von Otto Bock) oder sogar bei 165 kg (z. B. „Power Knee“ von Össur).
Anforderungen an Fußpassteile
Was den Gangzyklus betrifft, haben wir festgestellt, dass es in vielen Fällen gar nicht zu einem physiologischen Abrollverhalten kommt. Das Fußpassteil sollte dennoch wichtige Anforderungen erfüllen. Ein erster Aspekt ist der lange Vorfußhebel. Er wird dem Anwender in seiner Suche nach Standfestigkeit und Abrollsicherheit helfen. Dazu ist die Carbonfeder über die ganze Länge des Fußes unerlässlich. Auch wenn sich die Frage stellt: Wozu benötigt der Anwender eine Carbonfußfeder, wenn er doch nicht die volle Abrollung nutzt? Es ist wichtig, dass der Abrollvorgang nicht abrupt endet, sondern möglichst gleichmäßig in die Gehrichtung ausläuft. Bei Fusspassteilen der Mobilitätsgrade 1 und 2 ohne Carbonfeder ist in der gummierten Fußhülle ein fester Kern integriert, der schon vor der Abrollkante des Fußes, also vor den Zehengrundgelenken, endet. Es wird hier eine unkontrollierte Zehenflexion simuliert, die für den Anwender ein starker Unsicherheitsfaktor sein kann. Natürlich wird der Anwender die Carbonfeder nicht so effizient nutzen wie ein dynamischer Läufer, der die Feder durch sein Körpergewicht und die Biegemomente der Vorwärtsbewegung in Vorspannung bringt und die Energierückgabe nutzt. Dennoch kann der Prothesenträger mit hohem Gewicht sein Körpergewicht nutzen und die fehlende Dynamik dadurch zum Teil ausgleichen, um ebenfalls Biegemomente in der Feder zu erzeugen, die ihm die Energierückgabe ermöglichen und die Schrittabwicklung positiv beeinflussen.
Der Einsatz multiaxialer Knöchelgelenke oder Prothesenfüße mit zu geringer Torsionssteifigkeit kann in der Versorgung von XXL-Patienten nicht unbedingt empfohlen werden. Zu hoch wiegt die Gewichtsbelastung auf die mechanische Gelenkkonstruktion. Außerdem zeigen diese Patienten aufgrund der weichteilbedingten verzögerten Kraftübertragung oft eine reduzierte propriozeptive Wahrnehmung, wodurch der Einsatz von Füßen mit festem Verformungsgrad sinnvoller erscheint.
Eine Aufspaltung der Carbonfeder im Vorfußbereich, um mehr Supination und Pronation zuzulassen, sollte unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten und der hohen Gewichtsbelastung stets geprüft werden. In unebenem Gelände erlaubt die gesplittete Vorfußfeder auch bei Schrägstellung mehr Kontaktfläche zum Boden, was auch zu größerer Sicherheit beiträgt. Dynamik und Progression beim Laufen sollten durch eine eher feste Ferse am Prothesenfuß positiv zu beeinflussen sein, allerdings korreliert eine feste Ferse auch stets mit einem geringeren Gangkomfort und einer höheren Stoßbelastung der noch vorhandenen großen Gelenke. Biomechanisch wird durch einen härteren Fersenauftritt ein flektierendes Moment auf das Kniegelenk erzeugt und die Tibiaprogression verstärkt, sodass der Anwender hierdurch eine raschere Einleitung der Abrollphase erfährt.
Eine wichtige Rolle bei der Versorgung mit XXL-Prothesen können auch Füße mit einem hydraulischen Knöchelgelenk spielen. Die Hydraulik kann in Plantarflexion und in Dorsalextension dem Körpergewicht und dem Mobilitätsgrad entsprechend eingestellt werden. Zur Energierückgabemöglichkeit empfiehlt sich ein Fuß mit Hydraulik und Carbonfußfeder. Die Feder erfährt bei Ende der Bewegungsmöglichkeit des Knöchelgelenkes in Richtung Dorsalextension, also beim Dorsalanschlag, eine Vorspannung. Dies geschieht durch das weitere Verlagern des Körperschwerpunktes vor den Drehpunkt des Köchelgelenkes. Die Feder lädt sich mit Energie auf, die für die Einleitung der Schwungphase genutzt werden kann. Durch die Hydraulikfunktion bleibt die dorsalextendierte Fußposition aus der terminalen Standphase erhalten, wodurch dem Anwender in der Schwungphase mehr Bodenfreiheit zur Verfügung steht. Im OSG weist ein solcher Fuß eine ausreichende und kontrollierbare Bewegung in Richtung A‑P auf und keine Bewegung in Richtung M‑L.
Insgesamt muss festgestellt werden, dass die Schemata der Mobilitätsgraduierung in den Herstellerangaben nicht immer zutreffen. Die Auswahltabellen für Passteile sehen stets einen Mix aus Körpergewicht, Fußgröße und Mobilitätsgrad vor. Die Entscheidung für ein Passteil für schwergewichtige XXL-Anwender ist aber viel stärker am Aspekt des Körpergewichtes orientiert als an Fußgröße und Mobilität.
Anforderungen an Kniepassteile
In erster Linie ist hierbei der erhöhte Sicherheitsbedarf des Anwenders zu berücksichtigen: Je höher das Körpergewicht und je größer der Körperumfang, desto höher der Sicherheitsbedarf. Die Patienten haben ein vermindertes Gleichgewichtsgefühl und können durch verringerte Eigenwahrnehmung die Kniegelenkbewegung schlechter erfassen.
Bei über- bzw. schwergewichtigen Anwendern können Stürze und Unfälle gravierende Folgen haben. Somit kann von der Notwendigkeit einer „blinden“ Verlässlichkeit bezüglich der Sicherheit des Kniegelenkes gesprochen werden.
Sicherheit im Kniegelenk kann durch verschiedene Komponenten erreicht werden: Sperren, polyzentrischer Achsenaufbau, Rückverlagerung des Kniedrehpunktes, Hydraulik und Standphasendämpfung. Elektronische Kniepassteile bieten den Vorteil, dass sie mit einer Stand- und Schwungphasenkontrolle ausgestattet werden können. Nicht nur die Standphase muss Sicherheit durch die Dämpfungsmöglichkeiten der Hydraulik bieten — auch die Schwungphase muss durch das Herunterregeln der Dämpfung auf ein Minimum kontrolliert werden bzw. autoadaptiv auf Änderungen der Gehgeschwindigkeit und der Neigung des Untergrundes reagieren. So reagiert das Kniepassteil entsprechend dem Gangbild auf die Standphase und die Schwungphase des Anwenders. In modernen mikroprozessorgesteuerten Kniepassteilen ist außerdem ein zusätzlicher Stolperschutz integriert. Sollte die Schwungphase durch äußere Einflüsse, zum Beispiel eine hochstehende Teppichkante, nicht zu Ende geführt werden können, wird im Kniegelenk die Flexionsdämpfung wieder aktiviert. Im Falle einer sehr schnell erzeugten Knieflexion schließt sich die Flexionsdämpfung sogar ganz, um einen eventuellen Sturz zu vermeiden.
Für den Anwender resultiert daraus, dass der Prothesenfuß für den nächsten Schritt bei Fersenauftritt wieder vor dem Körper bereitsteht und die Standphase bei Gewichtsübernahme in der gewohnten Standphasendämpfung erneut eingeleitet werden kann.
Von mikroprozessorgesteuerten Kniegelenken kann der XXL-Patient somit in besonderem Maße profitieren — bleibt nur die Frage des zulässigen Körpergewichtes für das entsprechende Kniepassteil.
Sonderfreigaben
Sonderfreigaben für Prothesenversorgungen außerhalb der Mobilitätssysteme der Hersteller sind in der Regel möglich und können bei den Herstellern der Passteile beantragt werden. Dazu sind in der Regel folgende Angaben erforderlich:
- Alter
- Gewicht
- Beruf
- Freizeitaktivitäten
- Mobilitätsgrad
- Körpergröße
- Fußgröße
- zu tragende Zusatzlasten
- tägliche Gehstrecke
Wenn der Hersteller aufgrund dieser Angaben zusätzliche Sonderbedingungen für die Freigabe des benötigten Passteils festlegt, sind diese Bedingungen einzuhalten. Zum Beispiel ist es möglich, dass aufgrund der erhöhten Anforderungen an die Passteile ein erhöhter Service-Intervall-Bedarf besteht. Diese Entscheidung ist stets einzelfallabhängig und obliegt alleine dem Hersteller.
Ziel: Rehabilitation
Die Wiedererlangung der Mobilität bedeutet noch nicht die volle Rehabilitation des Patienten, aber es ist damit ein erster Schritt getan, und das ist in der Regel sehr motivierend für den Betroffenen. Mit der Prothese folgen Physio- und Ergotherapie, die viel Ausdauer und Hartnäckigkeit erfordern. Mit Blick auf die möglichen Begleiterkrankungen stehen die Therapeuten dann vor der Aufgabe zu entscheiden, wie viel sie dem adipösen Patienten zumuten können. Die passende Prothese ist im Grunde erst das Eingangstor zur Rehabilitation – die eigentliche Arbeit für den Anwender beginnt erst dann. Der Orthopädie-Techniker steht dabei vor der Aufgabe, während der Rehabilitationsmaßnahme mit mehrfachen Nachpassungen und Umstellungen der Prothesenstatik konfrontiert zu sein. Veränderungen des Stumpfvolumens und des Gehverhaltens sind sehr wahrscheinlich, und der Orthopädie-Techniker muss darauf reagieren, um den reibungslosen Ablauf der Rehabilitation nicht aufzuhalten.
Fazit
Bei XXL-Patienten besteht in der Regel ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis, eine verminderte Beweglichkeit, ein reduzierter Aktionsradius sowie die oben genannten Begleiterkrankungen. Nicht selten ist das Übergewicht Folge einer generellen Nachlässigkeit der eigenen Gesundheit gegenüber. Das ist zwar nicht immer der Fall, aber Übergewichtigkeit und/oder Diabetes entstehen in vielen Fällen aus gerade diesem Grund. Der Betroffene steckt dabei in einem Teufelskreis, denn durch die Amputation hat er noch weniger Bewegung, die er im Falle der Adipositas jedoch dringend bräuchte 6
Die Orthopädie-Technik kann zwar bei der Auswahl der Passteile nicht aus dem Vollen schöpfen, aber es gibt ein gutes Angebot für Anwender bis ca. 150 kg. Versorgungen, die darüber hinausgehen, sind sehr selten und meistens nicht leistbar, da die Begleitumstände des Übergewichtes nach einer Majoramputation zu schwerwiegend sind.
Der Autor:
Maik Pollmeyer
Orthopädie-Technik Münsterland
Bültzingslöwen GmbH, Duisburg
Fuggerstr. 15
48165 Münster
maik.pollmeyer@otmuensterland.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Pollmeyer M. XXL-Passteile in der Beinprothetik — Anforderungen und Bedarf bei übergewichtigen Prothesenträgern. Orthopädie Technik, 2017; 68 (6): 36–41
BMI | Beispiel | |
---|---|---|
Untergewicht | weiniger als 18,5 | 69 kg/1,89 m = 18,25 |
Normalgewicht | 18,5–24,9 | 90 kg/1,89 m = 23 |
Übergewicht | 25–29,9 | 95 kg/1,89 m = 25,1 |
Adipositas Grad I | 30–34,9 | 107 kg/1,89 m = 30 |
Adipositas Grad II | 35–39,9 | 125 kg/1,89 m = 35 |
Adipositas Grad III | > 40 | 143 kg/1,89 m = 40 |
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- Statistisches Bundesamt. Jeder zweite Erwachsene in Deutschland hat Übergewicht [Pressemitteilung vom 05.11.2014]. https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2014/11/PD14_386_239.html (Zugriff am 15.03.2017)
- Latham Robinson J. Amputees & Obesity. http://www.360oandp.com/health-wellness-amputees-obesity.aspx (Zugriff am 15.03.2017)
- New South Wales Ministry of Health. Bariatric Components – Clinical Criteria. http://www.enable.health.nsw.gov.au/__data/assets/pdf_file/0010/262828/bariatric-tta-ppg-v2.0–051214.pdf (Zugriff am 15.03.2017)
- Edwards M. Solutions for the Prosthetic Fitting of Bariatric Patients Using Ottobock Components. The Academy Today, 2013; 9 (1): 14–15 (Zugriff am 15.03.2017)
- Streifeneder ortho.production GmbH. Passteile für Anwender mit hohem Körperge-wicht. http://www.streifeneder.de/op/produkte/prothetik/versorgung-fuer-anwender-mit-hohem-koerpergewicht (Zugriff am 15.03.2017)
- Schade H. Prothesen in Übergröße. http://www.deutschlandfunk.de/fettleibigkeit-prothesen-in-uebergroesse.709.de.html?dram:article_id=294195 (Zugriff am 15.03.2017)