„Wir trei­ben die Digi­ta­li­sie­rung voran“

Wie sieht es mit der Digitalisierung im Bereich der Orthopädie-Technik aus? Wo helfen digitale Technologien bei der Versorgung, wo wird das Potenzial noch nicht ausgeschöpft? Dazu ein Interview mit Alf Reuter, Präsident des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik (BIV-OT).

Was ist Digi­ta­li­sie­rung? Auf die­se Fra­ge ant­wor­tet das Baye­ri­sche For­schungs­in­sti­tut für Digi­ta­le Trans­for­ma­ti­on (bidt): „Der Begriff Digi­ta­li­sie­rung wird mitt­ler­wei­le breit und unscharf für den Ein­satz ver­schie­de­ner digi­ta­ler Tech­no­lo­gien und damit ver­bun­de­nen Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­sen in der Gesell­schaft und ihren gesell­schaft­li­chen Teil­sys­te­men, wie Wirt­schaft und Arbeit, Bil­dung, Poli­tik und Öffent­lich­keit, ver­wen­det.“ Die­se Ant­wort zeigt, dass es nicht die eine Digi­ta­li­sie­rung gibt, son­dern dass – je nach Kon­text – die Sicht­wei­se und Anfor­de­run­gen unter­schied­lich defi­niert wer­den kön­nen. Wie sieht es kon­kret im Bereich der Ortho­pä­die-Tech­nik aus? Wo hel­fen digi­ta­le Tech­no­lo­gien bei der Ver­sor­gung, wo wird das Poten­zi­al nicht aus­ge­schöpft? Um das zu klä­ren, hat die OT-Redak­ti­on mit Alf Reu­ter, Prä­si­dent des Bun­des­in­nungs­ver­ban­des für Ortho­pä­die-Tech­nik (BIV-OT), gesprochen.

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OT: Herr Reu­ter, der Inbus­schlüs­sel gehört zur Ortho­pä­die-Tech­nik wie das Amen in die Kir­che. Wie steht es mit der Digitalisierung?

Alf Reu­ter: Um im Bild zu blei­ben, digi­ta­le Werk­zeu­ge gehö­ren längst zum Kanon. Fast täg­lich kom­men neue Tech­no­lo­gien, Pro­gram­me und Funk­tio­nen hin­zu. Die Ortho­pä­die-Tech­nik ist sicher ein Trei­ber der Digi­ta­li­sie­rung im Gesund­heits­we­sen. Im Mai 2024 laden wir wie­der zur OTWorld ein. Da kann jeder bestau­nen, wie sehr das Fach digi­ta­le Tech­ni­ken in der Ver­sor­gung bereits heu­te ein­setzt. Wir model­lie­ren längst digi­tal und set­zen digi­ta­le Tools ein, wo immer es der Ver­sor­gung nutzt. Und in der Fach­zeit­schrift ORTHOPÄDIE TECHNIK sind die­se neu­es­ten Ent­wick­lun­gen regel­mä­ßig prä­sent. Eine ganz ande­re Fra­ge bleibt: Wie schafft es die Gesund­heits­po­li­tik, die all­ge­mei­ne Infra­struk­tur, die noch immer auf dem Papier­aus­druck und der Hand­schrift des Arz­tes und Pati­en­ten fußt, end­lich in die Neu­zeit zu brin­gen? Das Vor­ha­ben der Digi­ta­li­sie­rung die­ser Infra­struk­tur gibt es seit der Idee der Gesund­heits­kar­te 1995. Stand heu­te: Auf­grund der ana­lo­gen Pro­zes­se und des For­mu­lar­wus­tes wen­den unse­re Betrie­be mehr als 30 Pro­zent ihrer Zeit für nicht aus­wert­ba­re Versorgungs­dokumentationen auf. Für uns ein Skandal.

OT: Wie agie­ren die Bran­che und der Verband?

Reu­ter: Wir ticken anders als die Poli­tik. Wir machen ein­fach. Also haben wir schon früh das Pilot­pro­jekt E‑Verordnung für Hilfs­mit­tel auf­ge­setzt. Unter dem Dach des BIV-OT haben sich bereits 2021 die markt­füh­ren­den Soft­ware- und ERP-Dienst­leis­ter sowie Leis­tungs­er­brin­ger­ver­bän­de für das Pilot­pro­jekt zusam­men­ge­schlos­sen, um mit Sani­täts­häu­sern, Home­ca­re-Ver­sor­gern und Ärzt:innen die Digi­ta­li­sie­rung aktiv vor­an­zu­trei­ben. Wir sind mit dem Pilot­pro­jekt so weit wie kein ande­rer in Deutsch­land. Wir gestal­ten damit die Zukunft unse­res Faches. Dass die Bun­des­re­gie­rung den Start nun um ein Jahr auf 2027 ver­le­gen will, fin­det daher nicht unse­re Unter­stüt­zung. Es ist alles da, die Bran­che ist vor­be­rei­tet. War­um warten?

OT: Das E‑Rezept für Arz­nei­mit­tel ist bereits im Umlauf. Gibt es Fehlläufer?

Reu­ter: Der Gesetz­ge­ber hat das deut­lich aus­ge­schlos­sen. Den­noch hören wir ver­ein­zelt von unse­ren Mit­glieds­be­trie­ben, dass Arzt­pra­xen Hilfs­mit­tel per E‑Rezept ver­ord­nen. Wir haben das geprüft, und in Rück­spra­che mit der Kas­sen­ärzt­li­chen Bun­des­ver­ei­ni­gung, der Gema­tik und dem Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Gesund­heit kön­nen wir sagen, dass die­se Ver­ord­nun­gen lei­der Fehl­läu­fer sind und damit nicht abge­rech­net wer­den dür­fen. Das führt zu Unmut für alle Betei­lig­ten – von Ärzt:in über Leis­tungs­er­brin­ger und Patient:innen bis zur Kran­ken­kas­se. Jeder ein­zel­ne Fall soll­te doku­men­tiert und an unse­re Geschäfts­stel­le in Dort­mund geschickt wer­den. Wir müs­sen mit allen Mit­teln ver­hin­dern, dass die vom Gesetz­ge­ber eigent­lich abzu­si­chern­de Wett­be­werbs­gleich­heit von Apo­the­ken und Sani­täts­häu­sern auch an die­sem Punkt unter­gra­ben wird.

OT: Wie beur­tei­len Sie den im Juli vom Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Gesund­heit ver­öf­fent­lich­ten Kabi­netts­ent­wurf des Digi­tal-Geset­zes (DigiG)? Kom­men wir damit einen Schritt weiter?

Reu­ter: Teil­wei­se: So unter­streicht das Gesund­heits­mi­nis­te­ri­um die Bedeu­tung des Makel­ver­bo­tes, das fin­den wir natür­lich erfreu­lich. Was uns sehr irri­tiert, ist die Ver­schie­bung des Star­tes für die E‑Verordnung für Hilfs­mit­tel. Sie soll ver­bind­lich nun erst 2027 star­ten. Wir wol­len aber so früh wie mög­lich digi­ta­li­sie­ren. War­um der Gesund­heits­mi­nis­ter brem­sen will, ist für uns unver­ständ­lich. Eben­falls in der Klä­rung: Der Geset­zes­ent­wurf sieht noch immer kei­ne zuver­läs­si­ge Refi­nan­zie­rung der Kos­ten für die Ein­bin­dung der Gesund­heits­hand­wer­ke in die Tele­ma­tik­in­fra­struk­tur vor. Jetzt soll nicht mehr ver­han­delt wer­den, son­dern der GKV-Spit­zen­ver­band soll die Kos­ten­über­nah­me ein­sei­tig beschlie­ßen. Solan­ge hier die Kos­ten zu 100 Pro­zent getra­gen wer­den, soll uns das recht sein. Das ist aller­dings noch frag­lich. Eine „never ending sto­ry“ ist auch die Sache mit der Aus­ge­stal­tung der elek­tro­ni­schen Pati­en­ten­ak­te – kurz ePA. Wir for­dern des­halb gemein­sam mit den Kolleg:innen der ande­ren Gesund­heits­hand­wer­ke, dass wir vol­len Zugriff auf die ePA haben. Die durch die Ver­ord­nun­gen bei uns ver­an­lass­ten Leis­tun­gen haben enor­men Ein­fluss auf die Ver­sor­gung, und wir müs­sen auf den Stand der Ver­sor­gung eben­so zugrei­fen kön­nen wie selbst den Fort­schritt in der Ver­sor­gung doku­men­tie­ren kön­nen. Last but not least: Wir brau­chen eine kla­re Aus­kunft zum Wett­be­werbs­schutz. Denn die zeit­lich ver­zö­ger­te Ein­füh­rung darf zu kei­ner Wett­be­werbs­ver­zer­rung führen.

OT: Ein gro­ßes Argu­ment der Kran­ken­kas­sen in der aktu­el­len Debat­te um Refor­men der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung ist die Angst um Bei­trags­an­he­bun­gen. Eine güns­ti­ge Online-Ver­sor­gung, dank der Kos­ten für Fach­per­so­nal ein­ge­spart wer­den könn­ten, wür­de doch gut in die­ses Kon­zept pas­sen. War­um ist es aus Ihrer Sicht den­noch nicht der rich­ti­ge Weg?

Reu­ter: Die Vor­stel­lung, eine Fach­kraft zu erset­zen, weil sie zu teu­er ist, scheint mir doch im Gesund­heits­we­sen eine sehr zwei­fel­haf­te Ange­le­gen­heit. Nie­mand wür­de sich bei­spiels­wei­se gern von einem Lai­en ope­rie­ren las­sen, weil dann weni­ger Per­so­nal­kos­ten anfal­len. Die Kon­se­quenz ist dann auch rela­tiv ein­fach: Fehl­ver­sor­gun­gen. Das fin­den wir daher als Ver­band auch nicht wit­zig und tre­ten hier sehr mas­siv im Sin­ne des Anspruchs auf eine Ver­sor­gung nach Stand der Tech­nik auf. Das ist nicht allein mei­ne Sicht, dass bei einer rein digi­ta­len Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung die Pass­ge­nau­ig­keit nicht gewähr­leis­tet ist oder das fal­sche Hilfs­mit­tel für ein Krank­heits­bild aus­ge­wählt wer­den. Wir ken­nen das doch alle aus unse­rer täg­li­chen Pra­xis, was pas­siert, wenn die Ein­la­ge etwa beim dia­be­ti­schen Fuß nicht rich­tig sitzt. Viel­leicht weiß der Pati­ent gar nicht, dass er Dia­be­tes hat und gibt das fol­ge­rich­tig auch bei der Online­be­stel­lung nicht an. Spä­ter wun­dern sich dann alle, war­um der Fuß ampu­tiert wer­den muss. Auch bei Kom­pres­si­ons­strümp­fen oder Ban­da­gen ist die Pass­ge­nau­ig­keit ent­schei­dend, die­se muss regel­mä­ßig per­sön­lich über­prüft wer­den. Zahl­rei­che medi­zi­ni­sche Fach­ge­sell­schaf­ten haben immer wie­der betont, dass eine rein digi­ta­le Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung Patient:innen gefähr­den kann, wie zuletzt im August die Deut­sche Gesell­schaft für Ortho­pä­die und Unfall­chir­ur­gie (DGOU) und der Berufs­ver­band für Ortho­pä­die und Unfall­chir­ur­gie (BVOU). Die­se Exper­ten-Stim­men kön­nen wir doch nicht ein­fach igno­rie­ren. Per­sön­li­che Bera­tung, Anpas­sung und Kon­trol­le gehö­ren zu einer qua­li­täts­ge­si­cher­ten Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung dazu. Von die­sen Stan­dards dür­fen wir uns zum Woh­le der Patient:innen nicht run­ter­han­deln lassen.

OT: Wo kann man dann durch Digi­ta­li­sie­rung sparen?

Reu­ter: Büro­kra­tie­ab­bau! Büro­kra­tie­ab­bau! Bürokratieabbau!

OT: Wie kön­nen Sie Kran­ken­kas­sen davon über­zeu­gen, dass Hilfs­mit­tel ohne den per­sön­li­chen Besuch und die per­sön­li­che Bera­tung im Sani­täts­haus oder in der ortho­pä­die­tech­ni­schen Werk­statt nicht abge­ge­ben wer­den sollten?

Reu­ter: Wir müs­sen Kran­ken­kas­sen davon nicht über­zeu­gen. Der Gesetz­ge­ber sieht das so vor und es steht auch als abso­lu­te Min­dest­an­for­de­rung im Hilfs­mit­tel­ver­zeich­nis. Auch die Hilfs­mit­tel­richt­li­ne des Gemein­sa­men Bun­des­aus­schus­ses betont, dass der Arzt bei ver­an­lass­ten Leis­tun­gen davon aus­ge­hen muss, dass ein Fach­mann sich noch mal den Ver­si­cher­ten ansieht. Wenn Kos­ten­trä­ger die­se Fra­ge immer wie­der auf­wer­fen, dann geht es eigent­lich um eine gesell­schafts­po­li­ti­sche Fra­ge­stel­lung: Wol­len wir es uns immer noch leis­ten, Ver­si­cher­te nach Stand der Tech­nik zu ver­sor­gen oder soll­ten wir nicht deut­li­che Leis­tungs­kür­zun­gen vor­neh­men. Das kann man dis­ku­tie­ren – aber im Moment ist die Fra­ge ent­schie­den. Prof. Dr. Karl Lau­ter­bach betont, wie wich­tig es ihm ist, dass für jeden Ver­si­cher­ten das Sach­leis­tungs­prin­zip gilt. Danach hat jeder Ver­si­cher­te das Recht auf eine Ver­sor­gung nach Stand der Tech­nik und anschlie­ßend hat er das Recht dar­auf, dass eine Fach­kraft sich per­sön­lich von dem Krank­heits­bild über­zeugt und die ver­an­lass­ten Leis­tun­gen des Arz­tes verantwortet.

OT: Zahl­rei­che Fach­ge­sell­schaf­ten haben bereits dem­entspre­chen­de Gut­ach­ten erstellt, den­noch – so scheint es – wird die Online-Ver­sor­gung wei­ter­hin als ernst zu neh­men­de Opti­on von Kos­ten­trä­gern in Erwä­gung gezo­gen. Warum?

Reu­ter: Da kann ich nur spe­ku­lie­ren, dass der Finanz­druck auf die ein­zel­nen Kran­ken­kas­sen so hoch ist, dass die Skru­pel fal­len. Kos­ten­trä­ger for­dern ja auch, dass der Gesetz­ge­ber sie davon befreit, ihre maß­geb­li­chen Ver­trags­in­hal­te offen­zu­le­gen. Das müs­sen Sie sich ein­mal vor­stel­len: Kran­ken­kas­sen haben Angst davor, was pas­siert, wenn sie offen­le­gen müs­sen, wel­che Ver­trä­ge sie geschlos­sen haben. Sie wol­len ver­hin­dern, dass ihre Ver­si­cher­ten wis­sen, wel­che Leis­tungs­an­sprü­che zu wel­chen Kon­di­tio­nen bei wel­chem Ver­sor­ger bestehen. Ich den­ke, dass wir uns die Augen rei­ben wür­den, wel­che Bil­lig­an­ge­bo­te dann offen­ge­legt wür­den. Die Aus­schrei­bun­gen im Hilfs­mit­tel­be­reich haben uns einen klei­nen Ein­blick gege­ben, zu was Kos­ten­trä­ger fähig sind, wenn sie unter Finanz­not ste­hen – die Ver­si­cher­ten lei­den zum Teil noch heu­te unter den dama­li­gen Fehl­ver­sor­gun­gen im Bereich der Reha-Tech­nik und Inkontinenzversorgung.

OT: Die pri­va­te Kran­ken­kas­se Debe­ka hat mit einem Online-Händ­ler für Ein­la­gen eine Koope­ra­ti­on gestar­tet, die den Ver­si­cher­ten einen Rabatt gewährt bei Bestel­lung bei die­sem Händ­ler. Was den­ken Sie dar­über, wenn eine Kas­se mit 2,5 Mil­lio­nen Ver­si­cher­ten so eine Koope­ra­ti­on abschließt?

Reu­ter: Was soll ich dazu sagen? Es ist in jeder Hin­sicht ein alter Hut. Das Bun­des­amt für Sozia­le Siche­rung (BAS) hat­te die­se Art der kom­mer­zi­el­len und nicht medi­zi­nisch ver­tret­ba­ren „Ver­sor­gun­gen“ bei der gesetz­li­chen Kran­ken­kas­se Bar­mer am 19. Okto­ber 2021 gestoppt. Lei­der sind pri­va­te Kran­ken­kas­sen wie die Debe­ka nicht an das BAS gebun­den. Ich kann nur jedem Ver­si­cher­ten davon abra­ten, auf sol­che Ange­bo­te ein­zu­ge­hen. Wir haben die pri­va­ten Kran­ken­kas­sen infor­miert und die­se haben uns ver­stan­den und ihre Part­ner ent­spre­chend infor­miert. Mehr kön­nen und dür­fen wir nicht tun.

OT: Die ver­bind­li­che Prä­qua­li­fi­zie­rung für alle Hilfsmittel­versorger ist von der Poli­tik kas­siert wor­den. Nun dür­fen GKV-Spit­zen­ver­band und Apo­the­ken sogar gemein­sam dar­über berat­schla­gen, wel­che Hilfs­mit­tel ohne PQ abge­ge­ben wer­den. Wenn die bei­den Par­tei­en sich bei­spiels­wei­se dar­auf eini­gen, dass Hilfs­mit­tel der Kom­pres­si­ons­the­ra­pie dazu­ge­hö­ren, was bedeu­tet das ers­tens für die Qua­li­tät der Ver­sor­gung und zwei­tens für die Online-Versorgung?

Reu­ter: Egal, um wel­che Pro­dukt­grup­pe es im Bereich zwi­schen Blin­den­hund und Hand­werks­brief geht – ich fin­de es uner­träg­lich, dass die zustän­di­gen Berufs­ver­bän­de ein­fach von der Poli­tik vor die Tür gesetzt wer­den. Jetzt soll der für die wirt­schaft­li­chen Belan­ge zustän­di­ge Deut­sche Apo­the­ker Ver­band – also noch nicht ein­mal der Berufs­ver­band – über Ver­sor­gungs­be­rei­che ver­han­deln, die in der Mehr­heit über­haupt nicht in Apo­the­ken abge­ge­ben wer­den. Nur knapp zehn Pro­zent der Ver­sor­gun­gen mit Hilfs­mit­teln wer­den von Apo­the­ken ver­ant­wor­tet. In der Berufs­aus­bil­dung der Apo­the­ker kommt die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung über­haupt nicht vor. Im bes­ten Fall ken­nen sich Apo­the­ker bei Medi­zin­pro­duk­ten aus, was einen rie­si­gen Unter­schied macht. Nur weil Sie zum Bei­spiel ler­nen, was ein CE-Kenn­zei­chen ist und viel­leicht auch wis­sen, wie ein Herz­schritt­ma­cher oder ein Stent auf­ge­baut ist – kön­nen Sie ihn noch lan­ge nicht ver­sor­gen. Wenn Sie eine Sprit­ze ver­kau­fen kön­nen, heißt es noch nicht, dass Sie eine Sprit­ze set­zen kön­nen. War­um soll es dann bei einem Insu­lin­pen anders sein? Medi­zin­pro­duk­te sind von Hilfs­mit­tel­ver­sor­gun­gen klar zu tren­nen! Was uns auch gro­ße Sor­gen macht: Die meis­ten Ver­si­cher­ten, die eine Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung benö­ti­gen, sind mul­ti­pel krank, haben eine Behin­de­rung oder gehö­ren der Gene­ra­ti­on 65 plus an. Apo­the­ken haben in der Regel noch nicht ein­mal eine Behin­der­ten­toi­let­te. Im Jahr 2023 vor dem Hin­ter­grund der Inklu­si­on und der Umset­zung der UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­ti­on ein abso­lu­tes No-Go! Für uns unver­han­del­bar! Daher haben wir die Ver­fas­sungs­be­schwer­de gegen das Eng­pass­ge­setz beauftragt.

OT: Gleich­zei­tig besagt das neue Arz­nei­mit­tel-Lie­fer­eng­pass­be­kämp­fungs- und Ver­sor­gungs­ver­bes­se­rungs­ge­setz, dass Apo­the­ken­ver­bän­de und der GKV-Spit­zen­ver­band bis Ende die­ses Jah­res defi­nie­ren sol­len, wel­che Hilfs­mit­tel in Apo­the­ken ohne Prä­qua­li­fi­zie­rung abge­ge­ben wer­den dür­fen. Besteht da nicht die Gefahr, dass Hilfs­mit­tel über das E‑Rezept ver­ord­net wer­den und damit auto­ma­tisch in der Apo­the­ke landen?

Reu­ter: Doc­Mor­ris steht längst in den Start­lö­chern. Jetzt haben sie ein Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fah­ren bei der EU ein­ge­reicht, dass sie als Online-Ver­sor­ger in Deutsch­land benach­tei­ligt sind. Der­zeit sehen wir jedoch, dass die Bun­des­re­gie­rung sich klar gegen die Online-Ver­sor­gung stellt. Auch die Auf­sichts­be­hör­de der Kran­ken­kas­sen hat sich deut­lich dafür aus­ge­spro­chen, dass Online-Ver­sor­gun­gen nicht dem gesetz­ge­be­ri­schen Wil­len ent­spre­chen. Wenn also hier ein Damm­bruch kom­men soll­te, dann nicht wegen der Apo­the­ken, son­dern weil die Bun­des­re­gie­rung ihrer Ver­ant­wor­tung nicht nach­kommt und sich doch für Leis­tungs­kür­zun­gen bei den Schwächs­ten in die­ser Gesell­schaft ent­schei­det. Dann stellt sie Bil­lig­keit vor Sach­leis­tungs­prin­zip und medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung nach Stand der Tech­nik. Aber wie gesagt, das sehe ich im Moment nicht. Im Gegenteil.

OT: Vie­le Sani­täts­häu­ser bie­ten einen Online-Rezept­ser­vice an. Die­ser kann je nach Betrieb sehr unter­schied­lich gestal­tet sein. Von einer Über­mitt­lung eines Fotos per Whats­app und dem ver­sand­kos­ten­frei­en Ver­sen­den bis zur Über­mitt­lung der Daten über gesi­cher­te Kanä­le und Anpas­sung und Abho­lung im Betrieb reicht die Band­brei­te. War­um unter­schei­den sich die Ange­bo­te der Sani­täts­häu­ser so sehr und kann aus die­sem Fli­cken­tep­pich nicht ein­heit­li­cher Ser­vice zuguns­ten von Patient:innen, Leistungs­erbringern und Kos­ten­trä­gern geschaf­fen wer­den, der kei­ne Grau­zo­nen für eine patienten­gefährdende Ver­sor­gung in sich trägt?

Reu­ter: Also, ob die­se Band­brei­te dem DSGVO ent­spricht, möch­te ich mal deut­lich infra­ge stel­len. Daher ist es schon allein wegen des Daten­schut­zes wich­tig, dass die E‑Verordnung für Hilfs­mit­tel zügig kommt. Hier soll ein ein­heit­li­cher Stan­dard, rechts- und gema­tik­kon­form und mit frei­er Wahl des Leis­tungs­er­brin­gers durch die Patient:innen erfol­gen, der alle Betei­lig­ten mit ein­schließt: vom Arzt über Patient:innen und Orthopädietechniker:innen bis zur Krankenkasse.

OT: Was wür­den Sie sich wün­schen, in wel­che Rich­tung Poli­tik, Kos­ten­trä­ger und Leis­tungs­er­brin­ger in naher wie fer­ner Zukunft gehen sollten?

Reu­ter: Ich habe gro­ßes Ver­ständ­nis, dass alle auf ihre Bud­gets ach­ten wol­len. Unse­ren Häu­sern ren­nen ja auch die Kos­ten davon. Aber Poli­tik, Kos­ten­trä­ger und wir Leis­tungs­er­brin­ger müs­sen aus dem Den­ken in lin­ke Tasche und rech­te Tasche her­aus­kom­men. Wir haben die gemein­sa­me Auf­ga­be, gemäß den gesetz­li­chen Vor­ga­ben die Men­schen zu ver­sor­gen und Teil­ha­be zu ermög­li­chen, und das lang­fris­tig. Wir müs­sen also lang­fris­tig und in gesamt­gesellschaftlichen Kos­ten denken.

Die Fra­gen stell­te Hei­ko Cordes.

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