Prof. Dr. med Frank Braatz von der Universitätsmedizin und der PFH aus Göttingen eröffnete die Veranstaltung mit einem medizinischen Beitrag zum Thema „Osseointegration und TMR als operative Option an der oberen Extremität“. Prof. Braatz gab einen eindrücklichen Überblick, wie sich dieser Bereich als Teilgebiet der Technischen Orthopädie aktuell aus seiner Sicht, aber auch im Hinblick auf die internationale Datenlage darstellt. Neben Versorgungsbeispielen aus Göttingen erläuterte er sehr schematisch und strukturiert die operationstechnischen Hintergründe und ging auf Fragestellungen zur korrekten Indikationsstellung ein. Dabei lag der Schwerpunkt gleichermaßen auf Aspekten rund um die Osseointegration wie auf der Targeted Muscle Reinnervation (TMR) im Sinne einer motorisch orientierten Reinnervation. Prof. Braatz nahm das Auditorium sowohl mit auf die chirurgischen Pfade als auch auf die anschließenden rehabilitativen Wege.
Die Osseointegration ist ein vielseitig und häufig, aber zum Teil auch kontrovers diskutiertes Thema, welches Prof. Braatz den Zuhörer:innen darlegte. Sachlich und fundiert dokumentierte er die Möglichkeiten und die Grenzen des Setzens eines Implantats in den Amputationsknochen mit einer Durchleitung eines „Adapters“ durch die Haut, um nicht einen konventionellen Oberflächenschaft für die Adaption der Prothesenkomponenten herzustellen, sondern eine direkt transkutane Adaptionsmöglichkeit zu erhalten. Auch die verschiedenen Implantate mit ihren potentiellen Vor- und Nachteilen sind basierend auf der aktuell verfügbaren internationalen Literatur ausführlich erörtert worden.
Um anschließend im direkten Kontext des ersten Referats in die Praxis überzuleiten, legten James Sheridan vom Implantat-Hersteller Integrum und Orthopädietechniker Stewe Jönsson von Team Olmed – beide aus Schweden – ihre Aspekte dar. Sheridan zeigte eindrücklich auf, wie sich die Implantat-Entwicklung über die Jahrzehnte hinweg verändert hat und wie die Implantate heute aussehen. Per-Ingvar Branemark hatte in den 1950er-Jahren bereits Pionierarbeit bei der Osseointegration geleistet – damals noch mit dem ursprünglichen Fokus im Bereich der Dentalversorgung, die seinerzeit noch in den Kinderschuhen steckte und erst in den 1960ern tatsächlich Einzug in die Versorgung erhielt. Bis heute sind 500 Patient:innen mit einem Integrum-System versorgt. Zielsetzung: freie Gelenkbeweglichkeit, verbesserte Lebensqualität, aber auch das Ausbleiben typischer Komplikationen der konventionellen Prothetik.
Das Auditorium in Leipzig bekam im weiteren Verlauf eine differenzierte Darstellung der unterschiedlichen Implantate und der verschiedenen Adaptionen. Unterstrichen wurden die Ausführungen durch verschiedene Fallbeispiele, die einen guten Eindruck zum Handling mit dem System in Verbindung mit angeschlossenen Prothesenpassteilen vermittelten. Dazu gehörte auch ein Ausblick auf eOPRA – ein Implantat, welches in Verbindung mit Elektrodenimplantaten die Ausleitung der direkt abgegriffenen EMG-Signale erlaube. Bislang noch ein Forschungsprojekt, aber mit dem konkreten Ziel zur weiteren Finalisierung bis zur CE-Kennzeichnung und Vermarktung.
Erfahrungen aus der Praxis
Abgerundet wurde das Themenfeld von Stewe Jönnson, der als gelernter Techniker und CPO von Team Olmed die Weiterentwicklung der Osseointegration seit den 1990er-Jahren verfolgt und mitgestaltet. Gemeinsam mit dem Versorgungsteam und den Patient:innen müssten klare Zielvorstellungen definiert werden. Insbesondere die zeitliche Komponente und die therapeutischen Maßnahmen während des Rehabilitationsprozesses müssten thematisiert und erörtert werden. In der Regel könne von vier bis sechs Monaten ausgegangen werden, bevor die eigentliche Umsetzung und Adaption von Prothesenkomponenten beginnen. Jönsson zeigte auf, wie potentielle vorhandene konventionelle Armprothesen modifiziert werden können, um den Patient:innen in der Heilungs- und Rehabilitationsphase nach der Osseointegration auch weiterhin eine prothetische Nutzung zu erlauben. Gleichzeitig wurde das sogenannte Abutment erörtert und diskutiert – also der Teil der Osseointegration, der außerhalb der Haut liegt. Im weiteren Verlauf stellte der Referent den eigentlichen prothetischen Versorgungsverlauf dar.
Schließlich ging der Techniker noch auf die Option von osseointegrierten Finger- bzw. Daumenimplantaten ein. Das Für und Wider einer Osseointegration wurde offen und klar diskutiert. Insbesondere beim Verlust des Daumens sorgen diese osseointegrierten Systeme für eine hohe Stabilität der Fingerprothese und einen hohen funktionellen Erfolg und Effekt. Sehr spannend waren die persönlichen Erfahrungen des Orthopädietechnikers bzgl. der stets diskutierten Problematik von Infektionen in Verbindung mit der Osseointegrations-Prothetik. Seines Erachtens nach ist im Bereich der oberen Extremität zumeist nur einmal jährlich mit einer oberflächlichen Infektion zu rechnen und ihm seien im Gegensatz zur unteren Extremität keine extremen Infektionsverläufe bekannt.
Frank Naumann von der Firma Orthovital stellte danach ein Versorgungskonzept für die Kombination einer Osseointegration und TMR vor. Ein Patient hatte nach einem komplexen Polytrauma und damit verbundenen erheblichen funktionellen Einschränkungen eine klare Vorstellung an einen funktionellen Ersatz formuliert. Es erfolgten zunächst eine elektive Oberarmamputation und eine klassische myoelektrische Versorgung. Einige Monate später schloss sich geplant eine kombinierte TMR und Osseointegration mit anschließendem Signal- und Belastungstraining an. Das Versorgungskonzept mit den Komponenten wurde bereits zu Beginn festgelegt und klar mit dem Kostenträger kommuniziert, um ein nachhaltiges Gesamtkonzept sicherzustellen. Postoperativ wurde ein thermoplastischer Trainingsschaft hergestellt, um eine reproduzierbare Positionierung der Elektroden auf den Hotspots für das Heimtraining sicherstellen zu können.
Erkenntnisgewinn
Michael Schäfer, Vorsitzender des VQSA e. V. und Geschäftsführer der Pohlig GmbH, stellte anschließend eine kurze Zusammenfassung seiner Erfahrungen mit osseointegrativen Prothesenversorgungen an den oberen Extremitäten vor. Er verdeutlichte seine bisherige Zurückhaltung, räumte aber auch ein, dass inzwischen die Erkenntnisse ein Niveau erreicht hätten, das die Option der Osseointegration näher in den Fokus der Möglichkeiten rücke. Als Indikator hob er besonders kurze Stümpfe hervor. Die bisherigen Versorgungen von Daumen‑, Finger- und einer Oberarmversorgung seien insgesamt positiv verlaufen und als zielführend zu bewerten. Schäfer stellte einen Patienten nach Oberarmamputation vor, der bislang konventionell versorgt wurde, eine gute Funktion demonstrierte, jedoch hinsichtlich Transpiration, Tragekomfort und einer persistenten Schmerzproblematik mit der klassischen Prothese an seine Grenzen stieß. Insbesondere der Schmerzproblematik geschuldet wurde primär eine TMR angedacht, in diesem Rahmen aber auch unmittelbar eine Osseointegration geplant. Schäfer übergab nach diesem Beitrag an den vorgestellten Patienten, der den Teilnehmer:innen persönlich von seinem Werdegang nach seinem Verkehrsunfall berichtete. Die Schilderung verdeutlichte das erforderliche persönliche Engagement des Patienten in der Heilungsphase bzw. der Rehabilitation und die hohen Aufwendungen, er stellte aber auch klar, dass er sich aufgrund der Schmerzreduktion, der neuen Freiheiten und des hohen Komfortzuwachses klar zur Gesamtversorgung bekenne und sich jederzeit wieder für den Eingriff entscheiden würde. Im Dialog konnten die Teilnehmer:innen auch persönliche Fragen etwa zum Gefühl, Kälteempfinden, Pflegemaßnahmen und persönlichen Eindrücken stellen.
Fazit und Dank
In der Gesamtbetrachtung ist insbesondere das Thema der Osseointegration technisch zweifellos den Kinderschuhen entwachsen und kann für Patient:innen eine deutliche Funktionsverbesserung bringen. Unter regulatorischen Aspekten der MDR (Medical Device Regulation) ist das Thema allerdings noch kritisch zu bewerten. Die Zuständigkeiten und Risiken sind noch nicht vollständig beschrieben. Hier ist weiterhin ein intensiver Dialog zwischen der Ärzteschaft, der Orthopädie-Technik und der Industrie erforderlich, um gemeinsam das Risiko für Patienten gering zu halten, während die individuellen Anforderungen berücksichtigt werden können. Der VQSA bedankte sich herzlich bei den Referenten für die interessanten Beiträge, dem Patienten für die Teilhabe an seiner Versorgung und den Teilnehmer:innen für die anregenden Diskussionen.
Merkur Alimusaj und Boris Bertram
Im Rahmen der diesjährigen Mitgliederhauptversammlung des Vereins zur Qualitätssicherung in der Armprothetik e. V. (VQSA), welche in Präsenz in Leipzig abgehalten wurde, fanden wieder Vorstandswahlen statt. Der bisherige Vorstand um seinen Vorsitzenden Michael Schäfer hatte sich erneut zur Wahl gestellt. Die Vollversammlung bestätige die Kandidaten. Der alte und neue Vorstand beschloss sogleich, die bisherigen Aufgabenverteilungen beizubehalten und sich weiterhin den gestellten Aufgaben zu widmen. „Schulungen, nicht nur für Kostenträger, sollen angeboten werden. Auch im wissenschaftlichen Programm der kommenden OTWorld 2022 in Leipzig werden wir präsent sein und Symposien ausrichten – Wissenschaft und Handwerk erfahren so eine gute Verbindung“, so der Vorstand. Nicht zuletzt arbeite man intensiv an der zweiten Auflage des Qualitätsstandards für den Bereich der Prothetik der oberen Extremität. Hierfür konnten neue Expert:innen aus der Medizin und Forschung gewonnen werden, die sich sehr gewinnbringend für das Werk einbringen. Ziel ist es, im Laufe des kommenden Jahres ins Lektorat zu gehen. Eine kontinuierliche Weiterentwicklung des Werks sei zwingend erforderlich, aber auch sehr aufwendig. „Auch die Leitlinienarbeit wird nicht gescheut und wir bringen uns bei der Vereinigung Technische Orthopädie (VTO) fachlich ein“, so der Verein. Einstimmig hat so die Versammlung daher entschieden, das Thema der Assessments zu adressieren. Ziel soll es sein, ein Werkzeug zu erarbeiten, welches zu noch fundierteren Ergebnissen in der Versorgung führen und den bereits sehr gut nachvollziehbaren Versorgungspfad nochmals bereichern soll. Der Verein und der Vorstand bedanken sich gleichermaßen für das Vertrauen, welches ihnen entgegengebracht wird: „Gemeinsam mit und für das Fach wollen wir in die Zukunft blicken und freuen uns auf die anstehenden Aufgaben.“
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