Vom Pati­en­ten zum Kollegen

Er selbst bezeichnet sich als das Versuchskaninchen in der Werkstatt. An seinem Bein „hängt immer etwas Neues“. Bis vor ein paar Jahren war Stefan Schu noch Patient, heute gehört er als Orthopädietechniker zum Team der „Lentes Prothesenwerkstatt“ in Köln.

Ein Unfall im Jahr 2014 und die anschlie­ßen­de Ampu­ta­ti­on sei­nes Ober­schen­kels führ­te ihn nicht nur in den Betrieb, son­dern reg­te ihn auch zum Nach­den­ken über das Leben und zum Umden­ken an. Sei­ne Besu­che in der Werk­statt weck­ten sein Inter­es­se für das ihm vor­her unbe­kann­te Hand­werk. Begeis­tert sah er zu, mit wel­chen Mate­ria­li­en die Techniker:innen in Berüh­rung kom­men und wie Pro­the­sen ent­ste­hen. Und er fühl­te sich zurück­ver­setzt in sei­ne Stu­di­en­zeit der Bild­haue­rei. Für Schu hat­te die Werk­statt ­eine Ate­lier­at­mo­sphä­re. Sei­nen Beruf als Gra­fik­de­si­gner hat­te er bis dahin mit Lei­den­schaft aus­ge­übt, den­noch woll­te er den Schritt wagen und mit über 40 etwas Neu­es begin­nen. „In dem Alter?“, frag­te Inha­ber Jan Len­tes noch mal nach. Dann führ­te schnell eins zum ande­ren: Prak­ti­kum, Aus­bil­dung und schließ­lich die Fest­an­stel­lung. Ganz aus sei­ner Haut kommt Schu aber nicht, arbei­tet neben­bei noch immer als Gra­fik­de­si­gner. Erfin­de­risch wer­den kann er aber in bei­den Beru­fen. „Krea­ti­vi­tät ent­steht über­all da, wo man sich Gedan­ken über Lösun­gen machen muss. Und die Per­son, die zu mir kommt, braucht eine Lösung. Und die ist immer indivi­duell und herausfordernd.“

Anzei­ge

Darf man das fragen?

Die­se Arbeits­ein­stel­lung blieb auch Len­tes nicht ver­bor­gen. „Ich ken­ne ihn als Kun­den. Er macht alles mit Lei­den­schaft, selbst die Anpro­ben, und passt mensch­lich zu 100 Pro­zent in unser Team“, betont er. Die Pro­the­se steht im Hin­ter­grund. Den­noch geben bei­de zu beden­ken: Ein Zucker­schle­cken ist der Beruf kör­per­lich mit einem Bein nicht. Schu arbei­tet regu­lär acht Stun­den pro Tag, trägt schwe­re Gips­sä­cke von A nach B und lässt sich – wie er sagt – ungern hel­fen. „Die Gren­ze des nicht Mög­li­chen habe ich noch nicht gefun­den“, scherzt er, wohl wis­send, dass nicht jede:r der Belas­tung stand­hal­ten kann. Schu ist nicht der ers­te und letz­te Mit­ar­bei­ter mit Pro­the­se im Team. Ein Kol­le­ge ist eben­falls ober­schen­kel­am­pu­tiert, im August star­te­te eine lang­jäh­ri­ge Pati­en­tin als Aus­zu­bil­den­de. Mit­ar­bei­ter und gleich­zei­tig Betrof­fe­ner zu sein, hilft bei der Arbeit, fin­det der 47-Jäh­ri­ge. Wäh­rend eini­ge sei­ner Kund:innen nur gut ver­sorgt wer­den möch­ten und sei­ne Ampu­ta­ti­on kei­ne Rol­le spielt, schafft genau die­se bei ande­ren eine beson­de­re Nähe und Ver­trau­en. „Eini­ge sehen mich lau­fen und sind dadurch moti­viert, selbst wie­der auf die Bei­ne zu kom­men“, freut sich Schu, als gutes Bei­spiel vor­an­ge­hen zu kön­nen. Dass die Hemm­schwel­le oft gerin­ger und die Kun­den­bin­dung enger ist, stellt eben­falls Inha­ber Jan Len­tes immer wie­der fest. „Sie stel­len ihm Fra­gen, die sie sich bei ande­ren Mit­ar­bei­tern nicht trau­en wür­den zu fra­gen“, berich­tet er. Er weiß, wann es Zeit ist, den Raum zu ver­las­sen und sei­nen Kol­le­gen mit dem Kun­den oder der Kun­din allein zu las­sen – und auch, wann es Zeit ist, ihn dazu­zu­ho­len, um die Situa­ti­on zwi­schen ver­zwei­fel­tem Kun­den und über­for­der­tem Kol­le­gen zu kit­ten. „Darf man das fra­gen?“, horcht das Team gern mal bei Schu nach. Der OTler bemän­gelt in dem Zusam­men­hang, dass die schu­li­sche Aus­bil­dung nur tech­nisch auf den Arbeits­all­tag vor­be­rei­te. „Es wur­de nie ein Satz dazu gesagt, wie man mit Pati­en­ten umgeht“. Das Wis­sen habe er sich ledig­lich durch die Pra­xis und die eige­ne Lebens­er­fah­rung ange­eig­net. „Dass wir Kol­le­gen mit Pro­the­se haben, wird sehr posi­tiv auf­ge­nom­men“, so Len­tes. Das führt Schu aber auch grund­sätz­lich auf die Phi­lo­so­phie des Hau­ses zurück: klein, fami­li­är und menschlich.

Pro­the­se Mar­ke Eigenbau

Der 47-Jäh­ri­ge weiß, dass er nicht alle Anwender:innen über einen Kamm sche­ren und von sich auf ande­re schlie­ßen darf. Auch wenn er selbst ampu­tiert ist, bedeu­tet das nicht, dass er alle Kund:innen und deren Pro­ble­me kennt oder nach­voll­zie­hen kann. Das Schmerz­emp­fin­den bei­spiels­wei­se sei bei jedem und jeder anders.

Friseur:innen wech­seln stän­dig ihre Haar­far­be und ‑schnit­te, Bäcker:innen backen ihre eige­nen Bröt­chen und Kfz-Mechaniker:innen grei­fen gern zum Werk­zeug und repa­rie­ren ihr Auto. Wenn jemand selbst Orthopädietechniker:in und gleich­zei­tig ampu­tiert ist, liegt die Fra­ge also nicht fern, ob sich die­ser jemand sei­ne Pro­the­se selbst baut. Und das tut Schu tat­säch­lich. Am liebs­ten, scherzt er, hät­te er für jeden Tag eine ande­re Pro­the­se – immer ange­passt an Stim­mung und Anlass. Oft läuft er ohne Kos­me­tik her­um, und wenn doch, dann greift er gern auf sei­ne aus Car­bon zurück. Der täg­li­che Beglei­ter: der Test­schaft. Als Ver­suchs­ka­nin­chen tes­tet er für die Kolleg:innen gern neue Gelen­ke. Immer wie­der gibt es neue Ideen, die umge­setzt und aus­pro­biert wer­den wol­len. Und: Preist ein Ver­tre­ter ein neu­es Pro­dukt groß an, muss das Team kei­nen Anwen­der fin­den, um Pro­be zu lau­fen. Schu tes­tet es gleich aus.

Wunsch nach Aufklärung

Auch auf ganz ande­rer Ebe­ne pro­fi­tiert das Team von dem 47-jäh­ri­gen Kol­le­gen. Für die Gestal­tung des Online-Auf­tritts und der Social-Media-Kanä­le lag es nahe, auf sei­ne Gra­fik­de­sign­kennt­nis­se zurück­zu­grei­fen. „Das hät­ten wir von kei­ner Wer­be­agen­tur so bekom­men“, betont Len­tes. Und das meint er nicht nur in Bezug auf die Optik. „Unse­re Web­site ent­hält die Infor­ma­tio­nen, die ich mir damals als frisch Ampu­tier­ter gewünscht hät­te“, berich­tet Schu. Er habe nach sei­nem Unfall kei­ne Stel­le gefun­den, die ihm Ant­wor­ten auf grund­sätz­li­che Fra­gen lie­fer­te. Nur durch Recher­che auf vie­len Web­sei­ten setz­te er sich die Puz­zle­tei­le selbst zu einem Gesamt­bild zusam­men. „Ich hät­te mir gute Auf­klä­rung gewünscht“, sagt Schu, auch von­sei­ten der Betrie­be. Anfangs tin­gel­te er durch die Häu­ser, war unzu­frie­den, weil er sich nicht abge­holt und nicht pro­fes­sio­nell betreut fühl­te. „Sie sind ein klas­si­scher C‑Leg-Läu­fer“, habe es zum Bei­spiel gehei­ßen. „Aber ich wuss­te nicht, was das ist“. Was bedeu­tet es eigent­lich, eine Inte­rims­ver­sor­gung zu bekom­men? Wel­che Gelen­ke gibt es? Wie geht es wei­ter? „Es wur­de ein­fach nur gemacht.“ Sein Appell an alle Betrie­be: „Erklärt den Kun­den, was mit ihnen pas­siert, wie die nächs­ten Schrit­te aus­se­hen und was mög­lich ist und was nicht. Auf­klä­rung ist das, was man sich in die­sem Moment wünscht.“

Pia Engel­brecht

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