Ein Unfall im Jahr 2014 und die anschließende Amputation seines Oberschenkels führte ihn nicht nur in den Betrieb, sondern regte ihn auch zum Nachdenken über das Leben und zum Umdenken an. Seine Besuche in der Werkstatt weckten sein Interesse für das ihm vorher unbekannte Handwerk. Begeistert sah er zu, mit welchen Materialien die Techniker:innen in Berührung kommen und wie Prothesen entstehen. Und er fühlte sich zurückversetzt in seine Studienzeit der Bildhauerei. Für Schu hatte die Werkstatt eine Atelieratmosphäre. Seinen Beruf als Grafikdesigner hatte er bis dahin mit Leidenschaft ausgeübt, dennoch wollte er den Schritt wagen und mit über 40 etwas Neues beginnen. „In dem Alter?“, fragte Inhaber Jan Lentes noch mal nach. Dann führte schnell eins zum anderen: Praktikum, Ausbildung und schließlich die Festanstellung. Ganz aus seiner Haut kommt Schu aber nicht, arbeitet nebenbei noch immer als Grafikdesigner. Erfinderisch werden kann er aber in beiden Berufen. „Kreativität entsteht überall da, wo man sich Gedanken über Lösungen machen muss. Und die Person, die zu mir kommt, braucht eine Lösung. Und die ist immer individuell und herausfordernd.“
Darf man das fragen?
Diese Arbeitseinstellung blieb auch Lentes nicht verborgen. „Ich kenne ihn als Kunden. Er macht alles mit Leidenschaft, selbst die Anproben, und passt menschlich zu 100 Prozent in unser Team“, betont er. Die Prothese steht im Hintergrund. Dennoch geben beide zu bedenken: Ein Zuckerschlecken ist der Beruf körperlich mit einem Bein nicht. Schu arbeitet regulär acht Stunden pro Tag, trägt schwere Gipssäcke von A nach B und lässt sich – wie er sagt – ungern helfen. „Die Grenze des nicht Möglichen habe ich noch nicht gefunden“, scherzt er, wohl wissend, dass nicht jede:r der Belastung standhalten kann. Schu ist nicht der erste und letzte Mitarbeiter mit Prothese im Team. Ein Kollege ist ebenfalls oberschenkelamputiert, im August startete eine langjährige Patientin als Auszubildende. Mitarbeiter und gleichzeitig Betroffener zu sein, hilft bei der Arbeit, findet der 47-Jährige. Während einige seiner Kund:innen nur gut versorgt werden möchten und seine Amputation keine Rolle spielt, schafft genau diese bei anderen eine besondere Nähe und Vertrauen. „Einige sehen mich laufen und sind dadurch motiviert, selbst wieder auf die Beine zu kommen“, freut sich Schu, als gutes Beispiel vorangehen zu können. Dass die Hemmschwelle oft geringer und die Kundenbindung enger ist, stellt ebenfalls Inhaber Jan Lentes immer wieder fest. „Sie stellen ihm Fragen, die sie sich bei anderen Mitarbeitern nicht trauen würden zu fragen“, berichtet er. Er weiß, wann es Zeit ist, den Raum zu verlassen und seinen Kollegen mit dem Kunden oder der Kundin allein zu lassen – und auch, wann es Zeit ist, ihn dazuzuholen, um die Situation zwischen verzweifeltem Kunden und überfordertem Kollegen zu kitten. „Darf man das fragen?“, horcht das Team gern mal bei Schu nach. Der OTler bemängelt in dem Zusammenhang, dass die schulische Ausbildung nur technisch auf den Arbeitsalltag vorbereite. „Es wurde nie ein Satz dazu gesagt, wie man mit Patienten umgeht“. Das Wissen habe er sich lediglich durch die Praxis und die eigene Lebenserfahrung angeeignet. „Dass wir Kollegen mit Prothese haben, wird sehr positiv aufgenommen“, so Lentes. Das führt Schu aber auch grundsätzlich auf die Philosophie des Hauses zurück: klein, familiär und menschlich.
Prothese Marke Eigenbau
Der 47-Jährige weiß, dass er nicht alle Anwender:innen über einen Kamm scheren und von sich auf andere schließen darf. Auch wenn er selbst amputiert ist, bedeutet das nicht, dass er alle Kund:innen und deren Probleme kennt oder nachvollziehen kann. Das Schmerzempfinden beispielsweise sei bei jedem und jeder anders.
Friseur:innen wechseln ständig ihre Haarfarbe und ‑schnitte, Bäcker:innen backen ihre eigenen Brötchen und Kfz-Mechaniker:innen greifen gern zum Werkzeug und reparieren ihr Auto. Wenn jemand selbst Orthopädietechniker:in und gleichzeitig amputiert ist, liegt die Frage also nicht fern, ob sich dieser jemand seine Prothese selbst baut. Und das tut Schu tatsächlich. Am liebsten, scherzt er, hätte er für jeden Tag eine andere Prothese – immer angepasst an Stimmung und Anlass. Oft läuft er ohne Kosmetik herum, und wenn doch, dann greift er gern auf seine aus Carbon zurück. Der tägliche Begleiter: der Testschaft. Als Versuchskaninchen testet er für die Kolleg:innen gern neue Gelenke. Immer wieder gibt es neue Ideen, die umgesetzt und ausprobiert werden wollen. Und: Preist ein Vertreter ein neues Produkt groß an, muss das Team keinen Anwender finden, um Probe zu laufen. Schu testet es gleich aus.
Wunsch nach Aufklärung
Auch auf ganz anderer Ebene profitiert das Team von dem 47-jährigen Kollegen. Für die Gestaltung des Online-Auftritts und der Social-Media-Kanäle lag es nahe, auf seine Grafikdesignkenntnisse zurückzugreifen. „Das hätten wir von keiner Werbeagentur so bekommen“, betont Lentes. Und das meint er nicht nur in Bezug auf die Optik. „Unsere Website enthält die Informationen, die ich mir damals als frisch Amputierter gewünscht hätte“, berichtet Schu. Er habe nach seinem Unfall keine Stelle gefunden, die ihm Antworten auf grundsätzliche Fragen lieferte. Nur durch Recherche auf vielen Webseiten setzte er sich die Puzzleteile selbst zu einem Gesamtbild zusammen. „Ich hätte mir gute Aufklärung gewünscht“, sagt Schu, auch vonseiten der Betriebe. Anfangs tingelte er durch die Häuser, war unzufrieden, weil er sich nicht abgeholt und nicht professionell betreut fühlte. „Sie sind ein klassischer C‑Leg-Läufer“, habe es zum Beispiel geheißen. „Aber ich wusste nicht, was das ist“. Was bedeutet es eigentlich, eine Interimsversorgung zu bekommen? Welche Gelenke gibt es? Wie geht es weiter? „Es wurde einfach nur gemacht.“ Sein Appell an alle Betriebe: „Erklärt den Kunden, was mit ihnen passiert, wie die nächsten Schritte aussehen und was möglich ist und was nicht. Aufklärung ist das, was man sich in diesem Moment wünscht.“
Pia Engelbrecht
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