Einleitung
Die Entwicklung von Virtual-Reality-Unterhaltungselektronik hat in den letzten Jahren große Fortschritte erzielt 1. Besonders Auflösung, Sichtfeld und Bewegungssensorik der VR-Systeme werden mit jeder neuen Hardware-Generation besser. Auch ergonomische Faktoren, insbesondere der Tragekomfort, spielen zunehmend eine Rolle bei der Gestaltung der sogenannten Head-Mounted Displays (HMDs). Dabei handelt es sich um augennahe Bildschirme, häufig in Form sogenannter VR-Brillen. Auch wenn die primären VR-Zielmärkte zunächst im Medien- und Unterhaltungsbereich gesehen wurden, sind die Geräte heute vermehrt auch im professionellen Bereich im Einsatz und bergen große Chancen, z. B. für digitale Therapien unterschiedlicher körperlicher oder psychischer Erkrankungen. So wurden z. B. VR-Systeme für die Ergotherapie 2, die Spiegeltherapie 3 und die Expositionstherapie 4 entwickelt.
Im BMBF-geförderten „VReha“-Projekt 5 entwickelt ein interdisziplinäres Team aus klinischen, technischen und wissenschaftlichen Partnern eine VR-basierte Toolbox („Werkzeugkasten“) zur digitalen Diagnostik und Therapie kognitiver Beeinträchtigungen, wie sie z. B. bei Alzheimer- oder Schlaganfallpatienten auftreten. Die VR-Toolbox beinhaltet Test- und Trainingsaufgaben, die die bisherigen „Papier-und-Bleistift-Verfahren“ ergänzen und verbessern sollen. Wie in Abb. 1 dargestellt, wurden im Rahmen von „VReha“ bislang zwei Aufgaben entwickelt: eine „immersive Virtual Memory Task” (imVMT; „M“ für „Memory“) und eine „immersive Virtual Supermarket Task” (imVST; „S“ für „Supermarket“). Die „imVMT“ adressiert mit einer VR-Memory-Aufgabe das räumliche Gedächtnis. Die Basisaufgabe besteht darin, sich zufällig auf einem Tisch verteilte Alltagsgegenstände einzuprägen und in einem zweiten Durchgang die erinnerte Anordnung möglichst präzise mit den eigenen Händen wieder auf den Tisch zu stellen (Abb. 2). In der Anwendung „imVST“ werden mittels komplexerer Einkaufsaufgaben, bei denen sich die Patienten durch einen VR-Supermarkt bewegen und virtuelle Produkte suchen und einsammeln, exekutive Funktionen angesprochen. Beide Aufgaben enthalten Untermodule zur Diagnostik und zur darauf aufbauenden Rehabilitation und sind für den Einsatz sowohl in Kliniken als auch – in naher Zukunft – im privaten, häuslichen Umfeld konzipiert.
In den folgenden Kapiteln werden die konzeptionellen, wissenschaftlichen, technischen und klinischen Details erläutert, die „VReha“ zugrunde liegen bzw. in diesem Zusammenhang umgesetzt werden, um das vielschichtige Potenzial der VR-Technologien für Diagnostik und Rehabilitation aufzuzeigen (Abb. 1).
VR in Grundlagenforschung und Machbarkeitstestung
VR – die Technologie und ihre Geschichte
Die Technologie der Virtuellen Realität ermöglicht es, mit computergenerierten Umgebungen und Inhalten zu interagieren, um ein „immersives“ Erlebnis zu ermöglichen. Unter „Immersion“ (von lat. „immersio“ = Eintauchung) versteht man das komplette Eintauchen in eine virtuelle Welt, ohne dabei Reizen aus der realen Welt ausgesetzt zu sein. Bei „nichtimmersiver“ VR interagieren die Benutzer mit 3D-Computergrafiken auf einem 2D-Bildschirm, während bei „immersiver“ VR die Menschen durch die Verwendung von stereoskopischen Head-Mounted Displays (HMDs) und von Body-Tracking-Sensoren vollständig in die virtuelle Umgebung „eingebettet“ werden. Nachdem es in den 1960ern und den 1990ern bereits zwei „VR-Wellen“ gegeben hatte, die aus verschiedenen Gründen (z. B. die schlechte Qualität der Bildwiedergabe) wieder abebbten, erlebt der neue Anlauf seit der Gründung des Startups „Oculus“ zur Entwicklung und zum Vertrieb eines erschwinglichen VR-Headsets im Jahr 2012 in den USA eine rasante Entwicklung mit immer günstigeren und performanteren VR-Geräten (s. u.), was zu einer Verbreitung auch in Anwendungsgebiete jenseits der Unterhaltungselektronik führt, zum Beispiel in die empirische Grundlagenforschung.
Die Lücke zwischen Labor und Leben: externe Validität
Ein wichtiges Gütekriterium von – zum Beispiel neurowissenschaftlichen oder psychologischen – Forschungsergebnissen ist ihre externe Validität: Lassen sich Laborergebnisse (z. B. Änderungen des Verhaltens oder der Physiologie) auf andere Kontexte verallgemeinern? Welche Relevanz haben sie im „echten Leben“? Dadurch, dass bei Versuchsaufbauten alle möglichen Störfaktoren vermieden werden oder kontrolliert sein müssen, sind Experimente oft abstrakt und „alltagsfern”. Um die „Lücke zwischen Labor und Leben“ zu schließen, gibt es zwei Ansätze: Entweder man integriert das Labor ins Leben oder man holt das Leben ins Labor. Ein Beispiel für den ersten Ansatz sind tragbare Messgeräte (z. B. Smartphones oder ‑watches), mit denen bspw. die Herzfrequenz von Probanden in ihrem Alltag gemessen werden kann z. B. 6.
Eine Brücke zwischen Labor und Leben: VR
Eine Lösung, das Leben ins Labor zu holen, bietet VR, mit der es möglich ist, eine komplexe, naturalistische Umgebung computergeneriert – und dadurch weitgehend kontrolliert – ins Labor zu holen. Zentrale Bauteile der VR-Technologie sind heute in fast jedem Smartphone verbaut (ein hochauflösendes Display, Beschleunigungssensoren und tiefenerfassende Kameras), sodass VR-Brillen im Kern nichts anderes sind als horizontal vor die Augen geschnallte Smartphones. VR entspricht also der Anzeige räumlich empfundener 360°-Inhalte, die an die Kopfbewegungen und andere Nutzerinteraktionen angepasst werden. Dabei ist es möglich, das Verhalten der Probanden mit einer hohen Genauigkeit zu erfassen und auszuwerten. Ebenso können zusätzlich physiologische Parameter wie die elektrische Signalweiterleitung im Gehirn (z. B. durch elektroenzephalographische Ableitung an der Schädeldecke) oder anderen Körperteilen (z. B. Elektrokardiographie) gemessen werden.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die (neue Generation der) VR-Technologie für die empirische Grundlagenforschung vielfach Vorteile bietet und weitreichende Hoffnungen weckt, insbesondere bezüglich der folgenden Aspekte:
- Sie ist technisch unaufwendig und relativ preisgünstig verfügbar,
- sie erlaubt eine naturalistischere Stimulation bei voller experimenteller Kontrolle,
- sie erhöht dadurch möglicherweise die externe Validität (auch: Alltagsgültigkeit) der Forschungsergebnisse und
- sie ermöglicht eine gleichzeitige Messung neurophysiologischer Signale durch die Kombination mit anderen tragbaren Geräten.
VR in der Klinik
Ein ähnliches Potenzial wie bei der Nutzung von VR in der empirischen Grundlagenforschung herrscht im klinischen Bereich. Das bereits angesprochene Prinzip der externen Validität ist eng verwandt mit dem als „Translation“ bezeichneten Prinzip in der klinischen Forschung, also der Maxime, Forschungsergebnisse von der Labor-„Bank” in eine Anwendung am Krankenbett zu übertragen. Mit anderen Worten: Das, was klinische Forscher im Labor ermitteln, soll dem Patienten tatsächlich bei der Krankheitsvermeidung oder seiner Genesung helfen. Die klassischen Ansätze dazu können mittels VR erweitert werden: Neben dem Petrischalenmodell – „in vitro“ – und dem lebenden Modell – „in vivo“ – gibt es im Zeitalter der Digitalisierung nun auch das computersimulierte Modell – „in silico“ – und das virtuelle (Realitäts-)Modell – „in virtuo“. Kurz gesagt verspricht die neue Technologie, Krankheiten mittels VR besser erforschen, diagnostizieren und therapieren zu können.
Interaktionstechnologie für immersive Diagnostik- und Trainingstools
Auch wenn enorme Fortschritte bei den kommerziell erhältlichen VR-Systemen erzielt werden konnten, gibt es weiterhin viele Herausforderungen, die sich während der Implementierung von VR-Anwendungen im Allgemeinen und insbesondere im klinischen Anwendungskontext ergeben. Um sowohl Therapeuten als auch Patienten eine effektive Nutzung dieser neuen Technologie zu ermöglichen, müssen ganzheitliche VR-Lösungen entwickelt werden, die neben strukturellen, hygienischen und ergonomischen auch unterschiedliche technische Aspekte berücksichtigen. So wurde in „VReha“ bei der Entwicklung der virtuellen Testumgebungen, in denen die Aufgaben durchgeführt werden, neben einem neutralen, aber realistischen Design der Räume insbesondere in der Anwendung „imVMT“ (der Gedächtnisaufgabe) großer Wert auf die Auswahl und Gestaltung der verwendeten virtuellen Gegenstände gelegt. Die virtuellen Haushaltsobjekte, die für die verschiedenen Bedingungen der Memory-Aufgabe genutzt werden, wurden gezielt ausgewählt, für die Interaktion optimiert und umfangreich validiert 7.
Da aktuelle VR-Brillen eine qualitativ hochwertige, realistische Darstellung von VR-Umgebungen ermöglichen, erwarten VR-Nutzer auch eine natürliche oder realistische Interaktion. In „VReha“ liegt daher ein starker Fokus der technischen Entwicklung auf der natürlichen Interaktion und der Fortbewegung (Lokomotion) innerhalb der VR, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse neurologischer Patienten (z. B. Durchführung von Übungen im Sitzen bei Einschränkungen der Fortbewegung). Technisch wird die natürliche Interaktion mittels einer optischen Erfassung der Hände und Körperteile des Patienten umgesetzt, die ohne am Körper getragene Marker oder Eingabegeräte auskommt. Wie in Abbildung 2 dargestellt, werden Hand- und Fingerbewegungen über eine auf der VR-Brille (1) befestigte Kamera (2) erfasst. Die Ganzkörperbewegungen werden von außen über eine weiter entfernte Kamera (3) aufgenommen. Dadurch kann der Patient als sich natürlich bewegender Avatar (4) in der VR-Testumgebung (5) repräsentiert werden.
Zur Auswertung der Körperbewegungen und der Greifgesten hat das Fraunhofer HHI einen auf maschinellem Lernen basierten Ansatz entwickelt: Farb- und Tiefendaten der 3D-Kameras werden analysiert, um anhand dessen Handbewegungen und Handhaltungen zu erkennen, die ein zuverlässiges Greifen und Loslassen virtueller Objekte unterschiedlicher Größe und Form sowie eine genaue Darstellung der Hand ermöglichen 8. Weiterhin wurden zur Erhöhung der Genauigkeit und der Gebrauchstauglichkeit der Handinteraktion Filter für die Kamera-Rohdaten sowie besondere audiovisuelle Feedbacks implementiert (Abb. 3).
Das „VReha“-Interaktionssystem erlaubt es Patienten, die „imVMT“-Memory-Aufgabe sowohl sitzend als auch stehend durchzuführen, was für die Einbindung von Menschen mit Paresen besonders wichtig ist. Falls erforderlich, ist auch eine einhändige Bedienung möglich. Alle Instruktionen werden in der virtuellen Welt gezeigt und visuell erläutert. Dies erleichtert auch Menschen mit einer Aphasie das Instruktionsverständnis. Da auch dieBearbeitung der Aufgaben durch eine natürliche Handinteraktion erfolgt, ist diese ebenfalls für Menschen mit Aphasie möglich. Außerdem werden dadurch für die Bedienung und Manipulation der Objekte keine zusätzlichen kognitiven Ressourcen benötigt, sodass diese vollständig für die Bearbeitung der eigentlichen kognitiven Aufgabe zur Verfügung stehen. Die „VReha“-Interaktionslösung verkürzt zudem die Vorbereitungszeit der Untersuchungen und Trainings, da die Patienten keine zusätzlichen Geräte oder Verkabelungen benötigen.
Ein nicht zu vernachlässigender Aspekt der VR-Nutzung ist eine als „Cybersickness“ oder „VR-Krankheit“ bekannte Nebenwirkung, die zu Unwohlsein und Übelkeit vor allem bei der Fortbewegung in der VR-Umgebung führen kann. Eine der möglichen Ursachen dafür ist der Wahrnehmungskonflikt, dass eine Bewegung in der VR gesehen wird, die vom übrigen Körper, vor allem vom Gleichgewichtsorgan, aber nicht wahrgenommen wird. Diese Diskrepanz zwischen visueller und propriozeptiver Wahrnehmung gilt es zu minimieren, z. B. durch einen eingeschränkten Sichtbereich während der Fortbewegung 9. In „VReha“ betrifft dies vor allem die „Supermarktaufgabe“ („imVST“, s. o.), in der der Proband sich durch einen großen virtuellen Raum bewegen muss. Dazu wurden im Projekt neue, patiententaugliche Fortbewegungskonzepte entwickelt, um die Symptome der VR-Krankheit zu minimieren. Eine Evaluation und Publikation dieser Ergebnisse wird in naher Zukunft erfolgen.
Nutzerfreundliche und sichere Schnittstellen
Neben den Anforderungen der Patienten an die Interaktion innerhalb der VR-Aufgaben wurden auch die Bedürfnisse der Kliniker als Betreiber des Systems berücksichtigt. Aus diesem Grund wurde im Rahmen des Projektes eine zentrale, einfach benutzbare Online-Plattform entwickelt, auf der alle Studieninformationen aggregiert werden. Das Hosting erfolgt bei einem Projektpartner in Deutschland, wodurch die bereits pseudonymisierte Patientendaten zusätzlich vor Fremdzugriffen geschützt werden. Die Web-Plattform ist sowohl über eine Web-Benutzerschnittstelle als auch über die VR-Applikationen für die Therapeuten zugänglich. Sie ermöglicht die Verwaltung der Studiendaten, die Durchführung von Befragungen mittels Fragebögen sowie optional die Steuerung der VR-Verfahren. Die erhobenen Informationen sind einem Studienteilnehmer zugeordnet. Der jeweilige Therapeut hat nur Zugriff auf die Daten der von ihm getesteten Studienteilnehmer aus seiner Einrichtung.
Die Weboberfläche beinhaltet alle notwendigen Fragebögen sowohl für die Studienteilnehmer als auch für die durchführenden Therapeuten. Dafür kommen eigens entwickelte Fragebögen zum Einsatz, die sowohl allgemeine als auch VR-relevante Aspekte abfragen. Zur Erfassung von Symptomen der VR-Krankheit werden die Studienteilnehmer zu ihrem Befinden vor und nach der VR-Sitzung befragt. Die Antwortmöglichkeiten bestehen größtenteils aus Einfach- und Mehrfachauswahl, aber auch andere Antwortformen sind möglich. Zudem werden Ergebnisse etablierter Testverfahren (z. B. ROCF; s. u.) mit erfasst. Die Fragebögen können auf der Webseite angelegt und bearbeitet werden (Abb. 4).
Auf der „VReha“-Online-Plattform werden alle relevanten Informationen zentral abgelegt. Es werden nur die minimal notwendigen Daten und keine personenbezogenen Daten erfasst. Die Identifizierung der Studienteilnehmer erfolgt über IDs, wobei die Zuordnung realer Personen zu IDs getrennt von der Plattform erfolgt. Die erhobenen Daten werden sowohl während der Übertragung als auch innerhalb der Datenbank verschlüsselt übertragen und abgelegt. Dies erfolgt automatisch im Hintergrund durch das System und erfordert keine speziellen Eingaben des Therapeuten. Der Zugang der Webseite ist auf autorisierte Anwender limitiert. Jeder beteiligte Therapeut hat individuelle Zugangsdaten, über die seine Sicht auf die Studieninformationen und die verfügbaren Funktionen eingeschränkt wird. Über eine Exportfunktion werden die Daten für eine weitergehende statistische Auswertung zur Verfügung gestellt.
Gestaltung virtueller Diagnostik-Werkzeuge
Im Rahmen des „VReha“-Projektes wurden die VR-Tools zur neurokognitiven Diagnostik in mehreren iterativen Schritten entwickelt und evaluiert. Dabei entstand umfangreiches Know-how, das bei der Entwicklung neuer VR-basierter Werkzeuge behilflich sein kann. Das „VReha“-Konsortium hat aufbauend auf den eigenen Erfahrungen und Literaturrecherchen systematische Evaluationskriterien in Form eines „VR-Check-Frameworks“ entwickelt, um die Ausschöpfung des VR-Potenzials in zukünftigen Entwicklungen zu erleichtern und zu maximieren 10. Eine Auswahl wichtiger Aspekte für die Diagnostik kognitiver Störungen ist im Folgenden näher dargestellt.
Verbesserte ökologische Relevanz
Bestehende neuropsychologische Testverfahren werden typischerweise als Papier-und-Bleistift-Tests durchgeführt und weisen häufig ein hohes Abstraktionsniveau auf. Ein Beispiel hierfür ist der Rey-Osterrieth Complex Figure Test (ROCF, Abb. 5) zur Erfassung der räumlich-visuellen Konstruktions- und Gedächtnisleistung 11. Dabei wird die Testperson aufgefordert, eine Figur aus komplexen geometrischen Mustern zunächst abzuzeichnen und im weiteren Verlauf aus dem Gedächtnis zu reproduzieren. Während die psychometrischen Eigenschaften dieser klassischen Testverfahren in der neuropsychologischen Literatur gut untersucht sind, wird zunehmend in Frage gestellt, inwiefern mit derartigen Testverfahren funktionell relevante Defizite abgebildet werden können.
Die Fähigkeit, alltagsrelevante kognitive Einschränkungen zu erfassen, kann als „ökologische Relevanz“ eines Testverfahrens bezeichnet werden 12. Unter diesem Aspekt bietet Virtual Reality deutliche Vorteile gegenüber klassischen Verfahren: Die Erstellung virtueller Welten ermöglicht die Simulation alltagsnaher Umgebungen (z. B. häusliches Umfeld, Arbeitsplatz) und alltagsrelevanter Anforderungen (z. B. Orientierung im Straßenverkehr, Zubereitung einer Mahlzeit). Im Gegensatz zur Durchführung solcher Aufgaben im echten Leben bietet VR darüber hinaus volle Kontrolle über potenzielle Störfaktoren (z. B. die Anzahl der Passanten auf einer Straße), verringert den logistischen Aufwand (z. B. bezüglich des Transports und der Begleitung der Patienten) und vermeidet die tatsächlichen physischen Risiken (z. B. beim Überqueren einer Kreuzung).
Digitalisierung und Automatisierung der Testauswertung
Die Auswertung klassischer Testverfahren beruht typischerweise auf der initialen Datenerfassung im Rahmen der Testsitzung und der anschließenden Bewertung der Testleistung durch geschultes Personal. Derartige personengebundene Auswertungsverfahren binden Zeitressourcen und sind je nach Testverfahren unterschiedlich stark von der subjektiven Einschätzung und Erfahrung der auswertenden Person abhängig. Darüber hinaus basiert die Auswertung klassischer Verfahren typischerweise auf diskreten Skalen (z. B. „Anzahl der korrekt erinnerten Testitems“). Im Gegensatz dazu erfolgt die Datenerfassung in VR digital; computergestützt können zeitlich und räumlich hochaufgelöste Verhaltensdaten automatisch aufgezeichnet werden. Je nach Test und technischem Setup lässt sich das Testverhalten neben den aufgabenspezifischen Aktionen über eine Vielzahl potenziell informativer Messgrößen beschreiben, etwa die Bewegung im virtuellen Raum, die Dauer bestimmter Interaktionen oder – im Falle einer VR-Brille – die Blickrichtung sowie die Kopfbewegungen des Probanden. Die Auswertung dieser Messgrößen erfolgt typischerweise durch programmierte Analysealgorithmen, was die Dauer der Auswertung verkürzt und – sofern erforderlich – auch Feedback in Echtzeit ermöglicht. Darüber hinaus lässt sich die Testleistung auf diese Weise mittels kontinuierlicher Messgrößen beschreiben, was eine feingliedrigere Einordnung zulässt.
Ansätze für eine individualisierte Medizin
Ein solches multidimensionales Verhaltensprofil bietet die Chance, kognitive Defizite nicht nur möglichst früh zu erfassen, sondern auch in zunehmend individualisierter Form zu charakterisieren. Insbesondere im Hinblick auf therapeutische Optionen ermöglicht die neurokognitive Diagnostik mit VR auf diese Weise die Anpassung der anschließenden Trainingsprogramme hinsichtlich Trainingsinhalt und ‑schweregrad an die individuellen Defizite der Patienten.
Vorteile kognitiver VR-Rehabilitation
Im Projekt „VReha“ wird die VR-Technologie nicht nur zur Untersuchung kognitiver Leistungen eingesetzt, sondern auch die Möglichkeiten von VR für die Entwicklung von Trainingsaufgaben genutzt. Dazu zählen folgende Aspekte:
- Enge Verzahnung zwischen Diagnostik und Training: Mit VR ist es möglich, Parameter zu definieren, auf deren Basis der Schwierigkeitsgrad für ein Training direkt aus der Leistung in der Diagnostikaufgabe abgeleitet und im Verlauf des Trainings jeweils individuell angepasst wird.
- Zahlreiche Möglichkeiten zur Förderung der Trainingsmotivation: Da die Gestaltung der virtuellen Welten beliebig viele Möglichkeiten bietet, kann eine Vielzahl von Trainingsaufgaben generiert werden, sodass ähnliche Aufgaben unter unterschiedlichen Umgebungsbedingungen trainiert werden können. Dies stellt eine wesentliche Erleichterung gegenüber traditionellen Trainingsaufgaben dar – ist doch inzwischen bekannt, dass Häufigkeit und Intensität des Trainings die wichtigsten Einflussfaktoren auf den Trainingserfolg sind 13. Kann das Training abwechslungsreich gestaltet werden, erhöht dies die Motivation, spezifische Aufgaben wiederholt zu trainieren. Darüber hinaus bietet sich eine Reihe von Möglichkeiten, den Patienten ein spezifisches Feedback in Bezug auf ihre jeweilige Leistung oder auch ein motivationales Feedback im Verlauf des Trainings zu vermitteln. Auch dadurch können Trainingsmotivation und ‑compliance erhöht werden.
- Parametrische Variation des Schwierigkeitsgrades: Des Weiteren können die kognitiven Anforderungen der Aufgaben über unterschiedliche Parameter variiert werden. Beispielsweise kann in der „imVMT“-Aufgabe neben der Anzahl zu erinnernder Objekte und der Rotationsbedingungen, die auch in der Diagnostikaufgabe variiert werden, auch die Dauer der Lern- und Abrufzeit vom Patienten selbst bestimmt werden. Darüber hinaus können Patienten durch die Vermittlung von Gedächtnisstrategien und durch Hilfestellungen systematisch unterstützt werden. So wird bei visuellräumlichen Gedächtnisaufgaben z. B. die Aufmerksamkeit auf die Exploration der Umgebungsreize oder auch auf die räumliche Beziehung der zu erinnernden Objekte untereinander gelenkt. Das Ausmaß der Unterstützung beim Einsatz der Strategien wird dabei über die Sitzungen hinweg langsam reduziert. Die zeitgenaue Erfassung des Verhaltens der Patienten bietet die Möglichkeit, frühzeitig zu erkennen, ob ein Patient von den dargebotenen Strategien profitiert oder nicht, und in der nächsten Sitzung das Training entsprechend anzupassen. So erhält jeder Patient ein individuell auf ihn zugeschnittenes Training, sodass der Trainingserfolg optimiert wird.
Erste Erfahrungen – Praxisbeispiel zu „imVMT“
In „VReha“ wurde eine erste Trainingsaufgabe mit einer ausgewählten Stichprobe neurologischer Patienten unterschiedlicher Ätiologie durchgeführt. Neben dem eigentlichen Trainingseffekt hinsichtlich der kognitiven Leistungsfähigkeit richtete sich die primäre Fragestellung auf Verträglichkeit und Akzeptanz bei wiederholter Nutzung von VR. Die Patienten nahmen über 5 Sitzungen am Training teil und führten visuell-räumliche Gedächtnisaufgaben in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden und mit verschiedenen Lernstrategien durch. Die Aspekte „Zufriedenheit“ sowie „Cybersickness“ wurden mit verschiedenen Fragebögen vor und nach jeder Trainingssitzung erfasst vgl. 14. Insgesamt waren die Patienten mit dem Training sehr zufrieden; die Trainingsmotivation blieb über die 5 Sitzungen hinweg stabil. Mit Hilfe des SSQ-Fragebogens (Simulator Sickness Questionnaire) wurden Symptome von Unwohlsein nach Durchführung der „imVMT“-Diagnostik-Aufgabe erfasst. Dabei gaben die Probanden nach dem Training weniger Symptome von Cybersickness an (Abb. 6).
Fazit
Auch wenn Nutzung und Entwicklung von Diagnose- und Rehabilitationswerkzeugen mit neuen VR-Technologien einige Herausforderungen mit sich bringen, überwiegen die Chancen und das große Potenzial für ein solches Anwendungsszenario. Da der VR-Markt sich rasant weiterentwickelt und die VR-Brillen immer bessere Qualität zu immer günstigeren Kosten bieten, werden sich Verbreitung und Akzeptanz dieser Technologie in naher Zukunft deutlich erhöhen. Die Hürden für den Einsatz der VR sind insbesondere für technikfremde Nutzer – auch im medizinischen Kontext – deutlich gefallen. Dies war auch eine der zentralen Motivationen des „VReha“-Konsortiums, VR-Werkzeuge zur Diagnostik und Rehabilitation kognitiver Einschränkungen zu entwickeln. Die bisherigen Ergebnisse des Projektes machen das Potenzial von VR im medizinischen Bereich sichtbar. Die VR-Aufgaben und die Interaktion mit den Objekten werden von den Patienten als natürlich wahrgenommen. Die Machbarkeit und experimentelle Stringenz der Anwendung „imVMT“ wurde bereits in zwei Stichproben (einer Stichprobe mit gesunden Probanden und einer klinischen Stichprobe) empirisch nachgewiesen 15.
Die nächsten Schritte befassen sich unter anderem mit den Herausforderungen einer natürlichen und praxistauglichen Fortbewegung in VR, die den Patienten möglichst wenig belastet und keine VR-Krankheit hervorruft. Dies ist ein wichtiger und grundlegender Bestandteil vieler VR-Aufgaben und daher auch der Konzepte zur Umsetzung der Supermarkt-Aufgaben (Anwendung „imVST“) für exekutive Funktionen.
Des Weiteren werden die noch laufenden Nutzerstudien ausgewertet und veröffentlicht. Informationen dazu werden auf der VReha-Projektwebseite 16 publiziert. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die „VReha“Tools in der Praxis sowohl von Patienten als auch von Therapeuten einfach und effizient eingesetzt werden können. Deshalb ist zu empfehlen, die im Rahmen des Projekts gewonnenen Erkenntnisse bei eigenen Entwicklungen VR-basierter Rehabilitationswerkzeuge zu nutzen und z. B. die frei verfügbare VR-Objektbibliothek 17 und den Kriterienkatalog zur Optimierung klinischer VR-Anwendungen 18 zu verwenden.
Die Ergebnisse des Projektes werden in der Fachwelt positiv wahrgenommen. So wurde die Anwendung „imVMT“ auf der Internationalen Konferenz für Virtuelle Rehabilitation (ICVR) in Tel Aviv im Jahr 2019 als beste VR-Anwendung ausgezeichnet. Dies ermutigt zu weiteren Aktivitäten in diesem Bereich und legt nahe, dass ein Training mit VR für neurologische Patienten auch mit anderen Störungsbildern sehr gut einsetzbar ist.
Danksagung
Die hier vorgestellten Arbeiten wurden im Rahmen des BMBF-Verbundprojektes „VReha“ unter dem Kennzeichen 13GW0206A gefördert. Wir bedanken uns für die Unterstützung durch das Ministerium und den Projektträger VDI Technologiezentrum GmbH.
Für die Autoren:
Dipl.-Psych. Paul Chojecki
Project Manager
Abteilung Vision & Imaging Technologies
Fraunhofer-Institut für Nachrichtentechnologie
Heinrich-Hertz-Institut, HHI
Einsteinufer 37, 10587 Berlin
paul.chojecki@hhi.fraunhofer.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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- Der Verlag OT wünscht frohe Weihnachten! — 23. Dezember 2024
- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
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