Einleitung
Bewegungsanalysen mittels des Verfolgens („Tracking“) von Oberflächenmarkern liefern sehr flexibel an die jeweilige Fragestellung anpassbare Erfassungsmöglichkeiten für ausgewählte Lage- bzw. Ortsdaten bestimmter „anatomical landmarks“, aus denen sich mit geeigneten Marker-Setups auch Orientierungen von Körpersegmenten und somit die Körperhaltung („pose“, Lage und Orientierung) berechnen lassen. Dieser Flexibilität stehen hohe Kosten gegenüber – sowohl für die Infrastruktur (wobei die wachsenden Raumkosten durch die sinkenden Kosten für die Technik nicht kompensiert werden) als auch die langfristig bedeutsameren Arbeitskosten. Letztere werden dominiert durch die „Rüstzeiten“, gegebenenfalls das Aufbauen der Messtechnik, aber auch das Applizieren der Reflexmarker in Laboren mit fest installierten Kameras. Bei standardisierten Abläufen erfolgen Messen und Auswerten häufig schnell. Zu den Einsatzmöglichkeiten und Grenzen der etablierten bewegungsanalytischen Verfahren vgl. Witte und Günther 1.
Bei eingeschränkten Genauigkeitsforderungen kann die Nutzung von Microsoft® Kinect® für ausgewählte Fragestellungen Zeit und Kosten sparen. Bei einer Fokussierung auf die Bewegung des Körperschwerpunktes kann die Nutzung von Kraftmessplatten genauere Daten bei geringerem Zeitaufwand liefern.
Einsatz von Microsoft® Kinect® in der direkten Bewegungsanalyse
Bei der überwiegend angewendeten direkten Bewegungsanalyse erfolgt eine Beobachtung und Beurteilung der Raum-Zeit-Verläufe der ablaufenden Bewegung. Dazu werden oft kostenintensive und in der Vorbereitung zeitaufwendige dreidimensionale Bewegungsanalysesysteme wie Vicon® oder Qualisys® verwendet. Über am Körper der untersuchten Person angebrachte Marker und ein um den Bewegungsraum herum positioniertes Mehrkamerasystem erfolgen dabei Aufzeichnung und Bewertung der Bewegung. Eine andere Möglichkeit bietet das preiswerte, aber auch deutlich fehlerbehaftetere Kinect®-System von Microsoft® 2, das ursprünglich zur Steuerung der Spielekonsole Xbox® entwickelt wurde. Mit Hilfe des von Microsoft® zur Verfügung gestellten Software Development Kits (SDK) wird Entwicklern und Wissenschaftlern der Zugriff auf die Datenkanäle von Kinect ermöglicht. Dies wiederum gestattet vielseitige Anwendungsänderungen des Systems. Ein solcher Anwendungsfall wird im Folgenden als einfach aus der Ergonomie in die Orthopädie zu übertragendes Beispiel vorgestellt. Dabei geht es um den Einsatz von Kinect® zur Online-Abschätzung des Gefährdungspotenzials einer manuellen Tätigkeit nach der „Leitmerkmalmethode Heben, Halten, Tragen“ 3.
Zur Gefährdungsanalyse von Arbeitsplätzen nach §§ 5 und 6 des Arbeitsschutzgesetzes sowie nach § 2 der Lastenhandhabungsverordnung empfiehlt die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) verschiedene Leitmerkmalmethoden (LMM). Diese LMM erlauben eine Vorhersage der möglichen Gefährdung für die Gesundheit von Beschäftigten. Aufbauend auf dem Konzept von Suzaly und Kollegen 4 wurde ein Gesamtkonzept für die Verwendung von Microsoft® Kinect® Version 2 (im Folgenden nur noch Kinect® genannt) zur Körperhaltungsanalyse nach der LMM entwickelt 5. Basierend auf den von der Tiefenkamera generierten sogenannten „stick figures“ („Stabmännchen“, wird von der Software erzeugt und verdeutlicht ungefähr das Skelett, dessen „joints“ die Gelenke repräsentieren) und deren zugehörigen „joint“-Daten (Abb. 1) werden verschiedene Abstände und Winkel bestimmt, deren Verläufe mit Schnappschüssen der jeweils zugehörigen Bewegungen exemplarisch in Abbildung 2 zu sehen sind.
Kinect® ist in der Lage, mit einer Bildrate von 30 fps („frames per second“) Realbilder und Tiefendaten („joint“-Daten) zu liefern. Dies wiederum ermöglicht eine Betrachtung der Bewegung in 30 quasistatischen Körperhaltungen pro Sekunde. Diese Körperhaltungen können mittels definierter Parameter entsprechend der LMM 6 analysiert werden. Für jeden der Beurteilungsparameter der Haltungsgewichtung aus der LMM (Lastabstand, Oberkörperneigung und ‑verdrehung, kniende, hockende oder stehende Bewegungsausführung) werden geeignete Verläufe der Bewegungen herangezogen und berechnet. Über die Parameter „Schulterwinkel“ und „Lastabstand zum Oberkörper“ wird die Lastposition bewertet. Der Hüftwinkel wird für die Beurteilung der Oberkörperneigung herangezogen. Der Kniewinkel gibt an, ob eine kniende oder hockende Position eingenommen wurde. Die Verdrehung des Oberkörpers wird über den Drehwinkel zwischen oberem und unterem Torsodreieck beschrieben. Anhand dieser Parameter und eines schwellwertbasierten Entscheidungsbaums erfolgt die Klassifikation der quasistatischen Körperhaltungen entsprechend den Kategorien für die Körperhaltungsbewertung nach LMM 7. Dabei treten allerdings Fehlerkennungen durch Verdeckungen oder andere Fehler auf, welche die Datenauswertung erschweren bzw. zu falschen Ergebnissen führen (können).
Abschließend wird auf weitere Ansätze für Einsatzmöglichkeiten von Kinect® zur Bewegungsanalyse eingegangen.
Ermittlung anthropometrischer Daten
Die Anthropometrie spielt eine wichtige Rolle im Industriedesign, in der Ergonomie und in der Kleidungsindustrie. Allerdings ist die Ermittlung anthropometrischer Daten durch manuelle Vermessung sehr zeitintensiv. Verfahren der digitalen Anthropometrie können dabei einzelne Prozesse vereinfachen. Es gab bereits erste Ansätze, anthropometrische Daten mittels Microsoft® Kinect® Version 1 zu erheben, z. B. durch Aslam et al. 8 sowie durch Chiu et al. 9. Mit dem Wechsel des technischen Prinzips von der Structured-light- (Kinect® Version 1) zur Time-of-flight-Technologie (Kinect® Version 2) und der daraus folgenden Erhöhung der „joint“-Anzahl sowie der „joint“-Positionsgenauigkeit 10 ist eine deutliche Verbesserung der Datenqualität zu erwarten. Wenzel und Kollegen 11 konnten bereits lineare Trends zwischen manuellen und digitalen Messungen auf Basis der Kinect®-Daten aufzeigen. Können die anthropometrischen Werte ausgehend von den „joint“-Daten von Kinect® bestimmt werden, ermöglicht dies, die Fehlerkennungen von Kinect® zu verringern und somit die Algorithmen für die Körperhaltungsanalyse zu verbessern. Dadurch wäre der Weg zum Einsatz eines solchen Kinect®-Systems für die digitale Anthropometrie geebnet.
Gestensteuerung in der Mensch-Technik-Interaktion
Die direkte Bewegungsanalyse mit Kinect® ermöglicht neben der reinen Bewegungsanalyse auch den Einsatz als Sensor für alternative Interaktionsformen. Durch die Beschreibung von Gesten wie Zeigen 12 und deren Erkennung, basierend auf den „joint“-Daten von Microsoft® Kinect®, ist bereits ohne zusätzliche Interpretation von Kontextinformationen eine Erkennungsrate über 80 % realisierbar (gleichbedeutend mit der Nutzbarkeit als Input für Gestensteuerungen).
Analyse der Schwerpunktbahn mittels Bodenreaktionskraftmessungen
Für Menschen ist die Fortbewegung als Veränderung der Körperpose (Lage und Orientierung im Raum) der Vorgang mit dem größten physikalischen Leistungsbedarf. Dafür muss der Stoffwechsel einen deutlich über den Grundumsatz hinausgehenden Betrag an Energie bereitstellen, der vom Bewegungsapparat in mechanische Arbeit umgesetzt werden kann. Auch wenn Rotationen der Extremitätensegmente und Biegungen wie Torsionen des Rumpfes in großem Umfang für die Fortbewegung genutzt werden, ist die Translationsbewegung des Körperschwerpunktes ein für die Bewegungen des gesamten Körpers repräsentatives Maß. In der Orthopädie eignet sich damit die Analyse der Bewegung des Körperschwerpunktes für die Triage wie zur Verlaufskontrolle, denn Veränderungen von Teilkörperbewegungen gegenüber dem Normalen werden in Veränderungen der Bewegungen des Körperschwerpunktes abgebildet.
Aufgrund des dritten Newton’schen Axioms ist die Beschleunigung des Körperschwerpunktes bei konstanter Körpermasse (in der Biomechanik der Ausdauersportarten ist die Einhaltung dieser Randbedingung nicht selbstverständlich) proportional zur Summe aller auf den Körperschwerpunkt wirkenden Kräfte, die im Körperinneren entstehen (Gravitationswirkung, Trägheitskräfte) oder von außen in ihn eingetragen werden, z. B. über Hände und Füße. Bei menschlicher Fortbewegung haben zumeist nur die Füße Kontakt mit der Umwelt. Deren „Bodenreaktionskräfte“ können mit kommerziell erhältlichen „Kraftmessplatten“ gemessen werden, welche die Beschleunigungen des Körperschwerpunktes mit hoher Genauigkeit abbilden („indirekte Bewegungsanalyse“); wegen der fehlenden Übertragungsfehler durch Weichteileffekte ist dies genauer als mit „direkten Verfahren“ möglich. Dabei ist es physikalisch irrelevant, ob der Zusammenhalt der beobachteten Masse starr oder nachgiebig gestaltet ist. Die Berechnung der Weggrößen aus den indirekt (als Kraft pro Masse) gemessenen Beschleunigungen erfolgt über eine zweifache numerische Integration mit der Notwendigkeit zur Bestimmung zweier Integrationskonstanten (initialer Lage- und Geschwindigkeitsvektor). Deren Bestimmung ist real nur fehlerbehaftet möglich; zusammen mit den Fehlern der numerischen Verfahren ergeben sich Messunsicherheiten für die Bewegung des Gesamtkörperschwerpunktes wie bei direkten Verfahren. Diese Fehler lassen sich aber bei Betrachtung räumlich und zeitlich zyklischer Bewegungen stark reduzieren. Das Idealbeispiel hierfür ist das Aufstehen und Wiederhinsetzen; weil es für die klinische Praxis (noch) relevanter ist, wird im Folgenden das Gehen auf dem Laufband betrachtet. Vorteilhaft ist aber in jedem Fall der im Vergleich zur klassischen „direkten“ Bewegungsanalyse deutlich geringere und somit kostensparende Platzbedarf für die Messungen, da keine großen seitlichen Abstände zur sagittalen Beobachtungsebene erforderlich sind.
In der Bewegungsforschung ist die indirekte Methode etabliert und methodische Grundlage einer Vielzahl wissenschaftlicher Studien, als Beispiel sei nur die Grundlagenarbeit von Winter 13 genannt.
Anwendungsbeispiel
Dieses Beispiel ist aus Witte et al. 14entnommen, dort findet sich eine detailliertere Darstellung. Die mit den kommerziell für die Bewegungsanalyse angebotenen Kraftmessplatten gelieferte Software bietet durchweg die Berechnung der Körperschwerpunktbahn aus den Kraftmessdaten an. Die Ausgabe der Weg-Zeit-Daten eignet sich nach eigenen Tests aber nicht zur in der medizinischen Praxis etablierten Blickdiagnostik in der Routine – sie wird allenfalls als Kurvendiskussion von Experten in der Forschung angewendet. Angesichts der klinischen Etablierung der Raum-Raum-Darstellung „area of sway“ in der Posturographie (Standdiagnostik) (15; vgl. auch 161718; zur Aufbereitung kondensierter Daten für die Diagnostik vgl. 19; hinsichtlich der Fehlermöglichkeiten vgl. aber auch20) mit der Möglichkeit sowohl direkter Blickdiagnostik als auch der Ableitung einfacher quantitativer Parameter möchten die Autoren die Umsetzung dieses Konzeptes auch für die klinische Bewegungsdiagnose anregen. Dies wird im Folgenden am Beispiel der Ganganalyse verdeutlicht (vgl. auch den Beitrag der Verfasser über das Gehen als einfach zu handhabende Reiz-Reaktions-Methode der Systemprovokation des menschlichen Bewegungsapparates in 21).
In dem Beispiel wurde ein „Kistler-Koordinatensystem“ zur Messung und Berechnung verwendet: + x zeigt immer in Bewegungsrichtung, + z nach oben, und + y ergibt sich quer zur Bewegungsrichtung zwangsläufig und eindeutig aus der Forderung nach einem rechtshändigen Koordinatensystem als „nach links“ zeigend. Der Koordinatenursprung wird durch die Lage des Schwerpunktes zu einem im Weiteren definierten Ereignis festgelegt. Durch strikte Vorgabe der Gehrichtung über die Mittelachse der Reihe der Kraftmessplatten erübrigt sich in der Praxis die Kompensation von Rotationsfehlern („Links-“ oder „Rechtskurve“). Bei Auftreten von Kurvenbewegungen durch z. B. neurologische Pathologien müssen die Rotationseinflüsse aber berücksichtigt werden 22.
Die Bodenreaktionskraftsignale des linken und rechten Fußes werden addiert und zu Zyklen zusammengefasst (mindestens ein „Doppelschritt“; Abb. 3). Die Konstante des ersten Integrationsschrittes, die Anfangsgeschwindigkeit, kann mittels einer Vielzahl von Verfahren, z. B. einer Lichtschrankenmessung, ermittelt werden. Die zweite Integrationskonstante (der Weg zu Beginn der Integration) kann insbesondere bei Definition des Doppelschrittes durch das gleiche Ereignis bei allen Messungen (z. B. „heel-on“ oder „toe-off“ des linken oder rechten Fußes) zu „null“ gesetzt werden, da für den angestrebten Mustervergleich die Absolutwerte nicht erforderlich sind und Flächenberechnungen unter den Kurven unverfälscht bleiben. Anders ausgedrückt wird der Koordinatenursprung durch dieses Ereignis für jeden Doppelschritt definiert. Für das Beispiel wurde das lokale Minimum der Bodenreaktionskraft des führenden linken Fußes („leading limb“) als Repräsentation des Startzeitpunktes eines Zyklus gewählt.
Zum Gewinnen „quasistationärer“ Muster wurde im Beispiel für das Gehen der Geschwindigkeits-Zeit-Verlauf in Fortbewegungsrichtung ebenfalls auf „null“ normiert, die mittlere Geschwindigkeit in x vom Signal subtrahiert und somit nur die Geschwindigkeitsschwankung um die mittlere Geschwindigkeit weiter verrechnet bzw. dargestellt.
Abbildung 4 zeigt beispielhaft für eine gesunde männliche Versuchsperson die Zeitverläufe der Koordinaten der Körperschwerpunktbewegung während eines Doppelschrittes. Zur Demonstration der Effekte von Störungen des Gangbildes in den Diagrammen sind im Vergleich mit der ungestörten Bewegung (schwarze Kurven) die folgenden Aspekte dargestellt:
- Beugehemmung des linken Kniegelenkes mit auf der Streckseite kreuzweise angelegtem Tape (rote Kurven)
- asymmetrische Störung der Rumpf- und Wirbelsäulenbewegung mit einem dorsalen Tape vom linken Beckenkamm zur rechten Thoraxapertur (blaue Kurven)
- Tragen einer Last (12 kg) in Vorhalte (lila Kurven)
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Abbildung 5 zeigt die Projektionen der Raum-Raum-Kurven auf die drei Hauptebenen und somit cum grano salis auf die anatomischen Hauptebenen des Körpers der Versuchsperson.
Eine differenzierte Diskussion der sich darbietenden Bilder ist angesichts fehlender Normdaten obsolet. Jedoch wird jeder Leser angesichts der Formveränderungen und Lageverschiebungen der Kurven sofort Hypothesen entwickeln – das konnten die Autoren bei alleiniger Betrachtung der standardmäßig zur Verfügung stehenden Weg-Zeit-Darstellungen der Schwerpunktbahn nur selten erleben. Offensichtlich ist auch, dass auch bei einer nach klinischer Untersuchung bewegungsgesunden Versuchsperson die Kurven keineswegs achsensymmetrisch sind – Geschlechtsspezifika und Einflüsse der Händigkeit sind Gegenstände aktueller Untersuchungen.
Schlussfolgerung
Neben der immer gebotenen Neuentwicklung von Messmethoden sollte unter Effizienzaspekten die nutzergerechte Aufbereitung der Daten bereits etablierter Methoden vorangetrieben werden.
Für die Autoren:
Dr.-Ing. Stefan Lutherdt
TU Ilmenau, Fakultät für Maschinenbau
Fachgebiet Biomechatronik
Max-Planck-Ring 12, 98693 Ilmenau
stefan.lutherdt@tu-ilmenau.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
- Anforderungen an additiv gefertigte medizinische Kopfschutzhelme — 4. Dezember 2024
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