Einleitung
Versorgungsmanagement umfasst die aktive Gestaltung des Versorgungsprozesses von Patienten vor, während und nach einer Leistungserbringung im Gesundheitswesen. Es handelt sich um einen unterstützenden oder steuernden, sektorenübergreifenden Ansatz und einen Sammelbegriff für verschiedene Ansätze, z. B. im Sinne von strukturierten Behandlungsprogrammen, Disease-Management-Programmen, Case Management, Integrierter Versorgung oder Hausarztzentrierter Versorgung. Ziel ist die Verbesserung der Patientenversorgung, die Behebung von Schnittstellenproblemen im Gesundheitswesen und die Reduktion von Kosten.
Herausforderungen bei der Versorgung
Krankheitsbilder mit einem umfangreichen und speziellen Versorgungsbedarf erfordern eine ganzheitliche Betreuung, die alle Aspekte sowohl resultierend aus dem Krankheitsbild als auch aus der persönlichen Situation des Patienten berücksichtigt. Benötigt wird dazu ein Team aus qualifiziertem Fachpersonal, das auf die jeweiligen Krankheitsbilder, den Verlauf und die Versorgungsmöglichkeiten spezialisiert ist. So können zu sämtlichen Herausforderungen individuelle Lösungskonzepte erarbeitet und eine adäquate Versorgung in die Wege geleitet werden. Diese Aufgabe stellt für Ärzte, Pflegekräfte und Versorger, aber auch für Patienten und Angehörige eine große Herausforderung dar.
Versorgungsbeispiel
Eine typische Vorgehensweise wird im Folgenden an einem Beispiel aus dem Raum Ulm aufgezeigt, wo in einer neurologischen Fachklinik (RKU) Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) behandelt werden. Bei ALS handelt es sich um eine progrediente neurologische Erkrankung, die zu fortschreitenden Lähmungen unterschiedlichster Körperregionen bis hin zur Beatmungspflichtigkeit führt und für die es derzeit keinen kurativen Heilungsansatz gibt. Speziell die Lähmung der Atemmuskulatur erfordert im Akutfall die Aufnahme ins Klinikum. Bei einer respiratorischen Dekompensation erfolgt die Anpassung eines Beatmungsgeräts. Auch kann die Durchführung einer PEG-Anlage (perkutane endoskopische Gastrostomie zur Sondenernährung) bei den betroffenen Patienten wegen einer möglichen Schluckstörung erforderlich sein.
Zur Koordination der Betreuung nach dem Klinikaufenthalt wird der Sozialdienst eingeschaltet: Dieser klärt ab, ob die Versorgung zu Hause gesichert ist oder ob ein Pflegedienst involviert oder sogar eine Pflegeeinrichtung gesucht werden muss.
Die Ermittlung des Hilfsmittelbedarfs erfolgt in der Klinik in Zusammenarbeit mit Patient, Arzt, behandelnden Therapeuten, Angehörigen und nicht zuletzt mit dem Pflegedienst, der ggf. die Betreuung zu Hause übernimmt. Um die Lieferung der verordneten Hilfsmittel indikations- und zeitgerecht gewährleisten zu können, ist die Zusammenarbeit mit einem qualifizierten Versorger erforderlich. Nach Rücksprache mit dem Patienten und den Angehörigen entscheidet der Patient, welcher Versorger mit der Lieferung der erforderlichen Hilfsmittel beauftragt wird. Dabei entsteht häufig ein Entscheidungskonflikt, ob der spezialisierte Versorger, der sich im intensiven Austausch mit dem Klinikteam befindet, beauftragt werden soll oder ob der wohnortnahe Versorger gewählt wird, der zwar logistische Vorteile hat, aber aufgrund der geringen Fallzahlen möglicherweise nicht alle Aspekte berücksichtigt, die sich aus dem fortschreitenden Krankheitsverlauf ergeben.
Die Verordnung der notwendigen Hilfsmittel wie Beatmungsgerät(e), externer Akku für das Beatmungsgerät, Aktivbefeuchtung, Hustenassistent, Absauggerät(e), Vernebler, Ernährungspumpe, Infusionsständer inklusive sämtlichen Zubehörs, Hilfsmittel zur Mobilisation und bei Bedarf Hilfsmittel zur Kommunikation und Umfeldsteuerung erfolgt durch die Klinik.
Auch wenn die grundsätzliche Entscheidung über den Hilfsmittelbedarf bei der Klinik liegt, ist in der Regel ein Besuch in der häuslichen Umgebung des Patienten durch den Versorger erforderlich. Denn oft kann erst durch Sichtung der konkreten Wohnsituation geklärt werden, welche genauen Ausführungsdetails bei den Hilfsmitteln erforderlich sind oder an welchen Stellen sich anhand der Wohnsituation vielleicht noch ein zusätzlicher Bedarf an Reha-Hilfsmitteln ergibt. Als mögliche Reha-Hilfsmittel kommen u. a. Pflegebett, Rollstuhl, Toilettenstuhl, Patientenlifter, Antidekubitushilfsmittel, Lagerungsschienen, Bewegungstrainer und Rampen infrage, bei Bedarf auch eine Umfeldsteuerung und ein Kommunikationsgerät. Außerdem wird das häusliche Umfeld hinsichtlich seiner Barrierefreiheit untersucht. Zu klären ist beispielsweise, ob Türen breit genug für den Rollstuhl sind, ob Treppenstufen überwunden werden müssen oder ob überhaupt das häusliche Umfeld verlassen werden kann. Die Hilfsmittel werden nach sämtlichen Gesichtspunkten der speziellen Krankheitssituation ausgewählt, immer auch im Hinblick auf die Möglichkeit einer Erweiterung bzw. Anpassung bei Veränderungen, die bei dieser Erkrankung zu erwarten sind.
Der Versorger kümmert sich um die Beschaffung und Genehmigung aller Hilfsmittel. Steht der Entlassungstermin fest, so werden alle Hilfsmittel termingerecht geliefert. Mit Angehörigen und Pflegedienst werden eine Einweisung bzw. Schulungstermine für die Geräte vereinbart. Auch am Tag der Entlassung ist der Versorger vor Ort, klärt noch offene Fragen und steht mit Rat und Tat zur Seite.
In der ersten Zeit zu Hause sind häufig noch Änderungen oder Anpassungen der Versorgung notwendig, da sich vieles erst noch einspielen muss und die Einschränkungen zunehmen können. Im weiteren Verlauf bleibt der enge Kontakt mit dem Versorger bestehen. Es erfolgen regelmäßige Hausbesuche. Ein entsprechendes Feedback erfolgt an die Klinik. Dadurch ergibt sich oft die Situation, dass der Patient eher den Hilfsmittelversorger als den Arzt als Ansprechpartner bei auftretenden Problemen ansieht. In Ulm entstand auf diese Weise ein enger Kontakt zwischen Atem-/Ergotherapeuten, Ärzten und Versorgern. Der Patient hat in Person des Versorgers immer einen Ansprechpartner, der ihn kompetent beraten und betreuen kann. Der Versorger gerät so in die Rolle eines Koordinators — eine Rolle, die sich angesichts der Strukturen der gesetzlichen Krankenversicherung jedoch nicht finanziell darstellen lässt.
Patienten mit diesem speziellen Krankheitsbild haben wie bereits dargestellt einen hohen Beratungsund im Anschluss an die Versorgung auch einen hohen Betreuungsbedarf. Die Versorgung in Ulm funktioniert auf diese Weise recht gut, jedoch ist das nicht in allen Regionen Deutschlands der Fall. Es ergeben sich somit einige grundsätzliche Fragen bezüglich der Mitwirkung des Versorgers im Behandlungsteam:
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- Wer kann überhaupt eine so umfangreiche Betreuung leisten, und welche Voraussetzungen müssen dafür gegeben sein?
- Wer übernimmt die Kosten?
- Sollen Versorgung und Nachbetreuung ausschließlich in der Hand des Versorgers liegen?
- Wer überwacht und kontrolliert die Beatmungseinstellungen bzw. ändert diese nach Bedarf?
- Gibt es eine Ambulanz bzw. ein Weaningzentrum (Weaning = Beatmungsentwöhnung), das ggf. auch Hausbesuche leistet?
- Wie kann auf Änderungen bzw. Verschlechterungen während des Krankheitsverlaufs adäquat, schnell und unkompliziert reagiert werden?
- Wer unterstützt beratend bei der Suche nach einem Pflegedienst?
- Wer hilft bei rechtlichen Fragen, z. B. bei der Ablehnung von Hilfsmitteln?
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Versorgungsrealität
Solange sich der Betroffene in einer Fachklinik befindet, können alle erforderlichen Maßnahmen, Hilfsmittel und Versorgungskonzepte verordnet, bezeichnet und angewendet werden. Sobald er jedoch wieder in die Häuslichkeit zurückkehrt, können schon kurz nach der Entlassung aufgrund des progredienten Krankheitsverlaufs die ersten Probleme und Fragen auftreten.
Oft sind Hausärzte überfordert mit diesen speziellen Krankheitsbildern; Kenntnisse über Beatmung, Sekretmanagement, Sondenernährung und spezielle Therapien sind nicht oder nur unzureichend vorhanden. Die Fachklinik ist weit entfernt, und ein Besuch in der entsprechenden Ambulanz ist mit zu viel Anstrengung und — vor allem bei Immobilität des Patienten — unter Umständen mit hohen Kosten verbunden. Auch in der Klinik gibt es keine bezeichneten Ansprechpartner, die sich nach dem Klinikaufenthalt um die Weiterversorgung kümmern bzw. den Erfolg und Verlauf der Therapie überwachen. Pflegedienste können bei ihren Besuchen zwar Veränderungen in der Patientensituation erkennen, haben aber häufig nicht die Voraussetzungen, einen veränderten Hilfsmittelbedarf zu erkennen bzw. angepasste Hilfsmittelversorgung zu empfehlen.
Der Versorger als Bindeglied, der sowohl Kontakt zur Klinik als auch zum Patienten hält, ist laut Auftrag eigentlich nur für die Lieferung und das reibungslose technische Funktionieren der Hilfsmittel zuständig. Dies führt dazu, dass sich Betroffene in ihrer Situation allein gelassen fühlen. Nicht selten leben sie über lange Zeit mit massiven Einschränkungen und hohem Leidensdruck, was durch eine gezielte Therapie oder ein geeignetes Hilfsmittel zu überwinden wäre.
Lösungsansätze
Überleitmanagement bedeutet also nicht nur, den Patienten mit allen Hilfsmitteln von der Klinik nach Hause zu entlassen und ihn dann mehr oder weniger alleine zu lassen, sondern ihm eine fortlaufende Betreuung zur Seite zu stellen, damit er den Alltag zu Hause adäquat „managen“ kann und ihm bei neu auftretenden Problemen eine Lösungsmöglichkeit aufgezeigt werden kann. Damit wäre ein „Alltagsmanagement“ möglich; Klinikbesuche und ‑aufenthalte könnten signifikant verringert werden, was für schwerstbetroffene tetraplegische Patienten ein Segen wäre. Das hilft nicht nur in erster Linie dem Betroffenen — die Versorgung wird auch weniger kostenintensiv.
Aus diesen Überlegungen ergeben sich einige Ansätze zu einer veränderten Struktur des Überleitmanagements:
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- Bildung eines unabhängigen „Versorgungsteams“ (Atmungs‑, Ergo‑, Logo- und Physiotherapeuten, Ernährungsberater usw.);
- das Versorgungsteam leistet eine ambulante Beatmungsvisite, erfasst den aktuellen Stand des Krankheitsverlaufs und leitet bei Bedarf eine Ausweitung oder Änderung der Versorgung in die Wege;
- Installation eines „Nachsorgeteams“ in der Klinik;
- Aufbau einer Kommunikationsebene „Nachsorgeteam Klinik — Versorgungsteam“;
- Dokumentation des kompletten Versorgungsverlaufs;
- die Nachbetreuung zu Hause muss über die Krankenkasse abrechenbar sein.
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Es bleibt festzustellen, dass die o. g. Ansätze bisher lediglich in der Theorie vorhanden sind und oftmals aus finanziellen oder fachlichen Gründen scheitern. Das heißt, eine durchgängige Versorgungsqualität für ALS-Betroffene gibt es zurzeit noch nicht. Vieles wird im Moment von den Versorgern „nebenher“ geleistet; Anspruch auf eine solche Unterstützung hat der Betroffene allerdings nicht, und auch nicht alle Versorger können einen solchen Service leisten, ganz abgesehen von der rechtlichen Problematik. Angesichts dieser Gründe halten die Verfasser ein Umdenken und eine Neuausrichtung bei schwerstbetroffenen Patienten für dringend erforderlich.
Für die Autoren:
Annette Mader
Häussler Medizin- und
Rehatechnik GmbH
Jägerstraße 6
89081 Ulm
mader@haeussler-ulm.de
Begutachteter Beitrag/ reviewed paper
Mader A, Willkomm F. Überleitmanagement: Aufgaben der Klinik – Aufgaben des Versorgers. Orthopädie Technik, 2017; 68 (8): 46–48
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