Sys­te­ma­ti­sches Ver­sor­gungs­kon­zept zur Mobi­li­sie­rung von Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten mit neu­ro­lo­gisch beding­ten Geh­stö­run­gen mit Hil­fe orthe­ti­scher Gelenke

D. Böhle, J. Fior, R. Gentz
Die Umsetzung einer bedarfsgerechten Beinorthese erfordert ein systematisches Vorgehen. Ein adäquates Konzept hilft bei der Versorgung von Patienten mit neurologisch bedingten Gehstörungen. Von deren Begutachtung über die Planung der Orthese unter Berücksichtigung biomechanischer Aspekte bis hin zur Übergabe der Orthese zeigt der Artikel ein umfassendes Konzept zur erfolgreichen Versorgung mit orthetischen Gelenken auf. Dabei wird die Bedeutung einer frühen Berücksichtigung des Grundaufbaus der Orthese unter Beachtung der Patientendaten und der Aufbaurichtlinien veranschaulicht. Mittels eines Versorgungsbeispiels einer an Multipler Sklerose erkrankten Patientin wird die Anwendung des Konzeptes aufgezeigt.

Ein­lei­tung

Sys­tem­ge­len­ke für die unte­re Extre­mi­tät fin­den sich sowohl in kon­fek­tio­nier­ten als auch in indi­vi­du­el­len Bein­or­the­sen. In die­sem Arti­kel gilt der Fokus Sys­tem­knö­chel- und Sys­tem­knie­ge­len­ken, die in indi­vi­du­el­len Bein­or­the­sen ver­ar­bei­tet sind. Bein­or­the­sen mit Sys­tem­ge­len­ken sind ein wich­ti­ger Bestand­teil der The­ra­pie von Pati­en­ten mit neu­ro­lo­gisch beding­ten Geh­stö­run­gen. Immer häu­fi­ger sind Sys­tem­ge­len­ke modu­lar umrüst­bar, sodass sich die Gelenk­funk­ti­on indi­vi­du­ell an Ver­än­de­run­gen der Bedürf­nis­se des Pati­en­ten anpas­sen lässt.

Anzei­ge

In der Pro­the­tik ist eine sol­che Modu­la­ri­tät schon lan­ge eta­bliert. Der deut­li­che inno­va­ti­ve Vor­sprung gegen­über der Orthe­tik ist nicht unbe­grün­det: Im und nach dem Ers­ten und Zwei­ten Welt­krieg konn­te die immense Nach­fra­ge nach Bein­pro­the­sen nur durch tech­ni­schen Inno­va­ti­ons­geist und indus­tri­el­le Kom­po­nen­ten­bau­wei­se­be­frie­digt wer­den 1. Aber die Orthe­tik hat auf­ge­holt und ihr einst­mals “ver­staub­tes Image” abge­legt: Heut­zu­ta­ge herr­schen dort funk­tio­nel­le Gelenk­sys­te­me in Ver­bin­dung mit hoch belast­ba­ren und leich­ten Faser­ver­bund­werk­stof­fen vor; rein stüt­zen­de, klo­bi­ge und schwe­re Schie­nen-Schel­len-Appa­ra­te aus Stahl und Leder gehö­ren end­gül­tig der Ver­gan­gen­heit an. Auch die Metho­den haben sich stark ver­bes­sert, sind aber auch anspruchs­vol­ler gewor­den: Für eine moder­ne anfor­de­rungs­ge­rech­te Bein­or­the­se emp­fiehlt sich ein sys­te­ma­ti­sches Vor­ge­hen unter Berück­sich­ti­gung bio­me­cha­ni­scher Wir­kungs­wei­sen, wie im Fol­gen­den auf­ge­zeigt wird.

Bio­me­cha­ni­sche Überlegungen

Das Ziel der orthe­ti­schen Ver­sor­gung von Pati­en­ten mit neu­ro­lo­gisch beding­ten Geh­stö­run­gen ist die Ver­bes­se­rung oder sogar Wie­der­her­stel­lung der phy­sio­lo­gi­schen Geh- und Steh­fä­hig­keit. Eine moder­ne Bein­or­the­se hat die Auf­ga­be, ver­lo­ren gegan­ge­ne mus­ku­lä­re Sicher­heit so aus­zu­glei­chen, dass der Pati­ent in sei­nem Bewe­gungs­um­fang mög­lichst wenig ein­ge­schränkt wird. Je nach­dem, wie viel die Mus­ku­la­tur aktiv zum Ste­hen und Gehen bei­trägt, sorgt die von extern unter­stüt­zen­de mecha­ni­sche Hebel­ak­ti­vie­rung der Orthe­se für eine Wie­der­her­stel­lung der Sicher­heit. Knie­si­chern­de Kom­pen­sa­ti­ons­me­cha­nis­men wie eine Hyper­ex­ten­si­on des Knies, eine star­ke Innen­ro­ta­ti­on der Bein­ach­se oder eine Ober­kör­per­vor­nei­gung wer­den dadurch redu­ziert oder sogar ganz besei­tigt. Der Anspruch ist es, den Pati­en­ten die Abhän­gig­keit vom Roll­stuhl, Rol­la­tor oder Geh­stüt­zen zu neh­men, um all­täg­li­che Din­ge frei­hän­dig aus­füh­ren zu können.

Um die­ses Ziel zu errei­chen, wird die Unter­stüt­zungs­flä­che zum Boden genutzt: Die Unter­stüt­zungs­flä­che einer Orthe­se wird durch die Fer­sen­kan­te und den höchs­ten Punkt des Abroll­be­rei­ches der Fuß­scha­le defi­niert. Über die Fuß­scha­le erfolgt die Ein­lei­tung der Boden­re­ak­ti­ons­kraft in die Orthe­se. Das Hin­ein­leh­nen der Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten in die ven­tra­le anlie­gen­de Unter­schen­kel­scha­le ermög­licht die Ein­lei­tung der Gewichts­kraft in die Orthe­se. Die dar­aus resul­tie­ren­den Hebel­ar­me der Fuß­scha­le und der Unter­schen­kel­scha­le akti­vie­ren im Zusam­men­spiel mit dem Dor­sal­an­schlag mecha­nisch den Vor­fuß­he­bel. Die­se exter­ne Hebel­kraft erfolgt idea­ler­wei­se über einen dyna­mi­schen Dor­sal­an­schlag mit einem direkt wir­ken­den Grund­wi­der­stand einer vor­kom­pri­mier­ten Feder (Abb. 1). Die dyna­mi­sche Begren­zung der Bewe­gung in Rich­tung Dor­sal­ex­ten­si­on ermög­licht eine Aus­rich­tung des Kör­per­schwer­punk­tes über der Unter­stüt­zungs­flä­che – der Pati­ent steht dadurch in einem sta­bi­len Gleichgewicht.

Das Gehen mit phy­sio­lo­gi­schen Gelenk­win­keln wird mit einer Kom­bi­na­ti­on aus stüt­zen­den und dyna­mi­schen Ele­men­ten ermög­licht. Die vor­kom­pri­mier­ten Federn las­sen bei Kraft­ein­lei­tung eine gewis­se Dyna­mik zu und erlau­ben auf­grund der knie­si­chern­den Wir­kung eine siche­re Schritt­ab­wick­lung des betrof­fe­nen Bei­nes. Dyna­mi­sche Feder­ele­men­te spei­chern die vom Pati­en­ten ein­ge­brach­te Ener­gie in der Stand­pha­se; die Ener­gie­rück­ge­win­nung unter­stützt die Ein­lei­tung der Schwungphase.

Sys­te­ma­ti­sches Versorgungskonzept

Ein sys­te­ma­ti­sches Orthe­sen­ver­sor­gungs­kon­zept ist in meh­re­re Pha­sen geglie­dert, die im Fol­gen­den vor­ge­stellt werden.

Begut­ach­tung der Patienten

Die sorg­fäl­ti­ge Erhe­bung der rele­van­ten Pati­en­ten­da­ten (Abb. 2) wirkt sich nach­hal­tig auf die Funk­ti­on der Bein­or­the­se aus. Zur Bedarfs­er­mitt­lung bezüg­lich der Orthe­sen­funk­ti­on wird erho­ben, in wel­chem Maß die vor­han­de­ne Mus­kel­kraft der Pati­en­ten zum phy­sio­lo­gi­schen Ste­hen und Gehen aktiv bei­tra­gen kann. Dabei spielt die für die Läh­mung ursäch­li­che Indi­ka­ti­on eine Rolle:

  • Bei peri­phe­ren und spi­na­len Läh­mun­gen eig­net sich der Mus­kel­funk­ti­ons­test nach Jan­da 2, um die für die Fort­be­we­gung rele­van­ten Mus­kel­grup­pen zu prüfen.
  • Bei Indi­ka­tio­nen mit erhöh­ter mus­ku­lä­rer Ermü­dung (Fati­gue) wie der Mul­ti­plen Skle­ro­se wird der Zustand sowohl ohne als auch mit Fati­gue berück­sich­tigt. Dazu wird nach dem ers­ten Mus­kel­funk­ti­ons­test mit dem 6‑Mi­nu­ten-Geh­test 3 eine Ermü­dung her­vor­ge­ru­fen, damit bei unmit­tel­bar erneu­ter Durch­füh­rung des Tests der von der Fati­gue beein­fluss­te Mus­kel­sta­tus ermit­telt wer­den kann 4.
  • Für die Bedarfs­er­mitt­lung von Pati­en­ten mit zen­tra­len Läh­mun­gen wird die Klas­si­fi­ka­ti­on nach Gang­mus­ter in der mitt­le­ren Stand­pha­se bevorzugt.
  • Bei Schlag­an­fall­pa­ti­en­ten fin­det die N.A.P. Gait Clas­si­fi­ca­ti­on 5 Anwendung.
  • Pati­en­ten mit Zere­bral­pa­re­se las­sen sich schnell mit der Ams­ter­dam Gait Clas­si­fi­ca­ti­on beur­tei­len 6.

Da sich kon­trakt erschei­nen­de Mus­ku­la­tur unter dyna­mi­scher Belas­tung deh­nen kann und pas­siv ermit­tel­te Gelenk­win­kel häu­fig nicht mit der dyna­mi­schen Funk­ti­on über­ein­stim­men 7, erfolgt in jedem Fall eine zusätz­li­che visu­el­le Gang­ana­ly­se. Begleit­erkran­kun­gen, die beruf­li­che Tätig­keit, Hob­bys, das häus­li­che Umfeld, die Topo­gra­phie am Wohn­ort sowie geplan­te inter­dis­zi­pli­nä­re The­ra­pien (z. B. Was­ser­the­ra­pie) wer­den eben­falls berücksichtigt.

Pla­nung der Orthese

Mit den ermit­tel­ten Pati­en­ten­da­ten beginnt die Pla­nung der zu erle­di­gen­den ortho­pä­die­tech­ni­schen Auf­ga­ben. Dabei gilt es den maxi­ma­len Funk­ti­ons­aus­gleich für die beein­träch­tig­te Mus­ku­la­tur bei gleich­zei­tig hoher Belast­bar­keit der Orthe­se zu erzie­len, ohne den Pati­en­ten über- oder unter­zu­ver­sor­gen. Dem­nach gilt das Mot­to “So wenig wie mög­lich, so viel wie nötig”. Aus gewichts­tech­ni­schen, opti­schen sowie öko­no­mi­schen Grün­den wird nach Mög­lich­keit eine uni­la­te­ra­le Bein­or­the­se ange­strebt. Denn eine unnö­ti­ge Über­di­men­sio­nie­rung der Orthe­se wirkt sich auch nega­tiv auf die Com­pli­ance des Pati­en­ten aus 8.

Es gilt aus einer Fül­le an Gelenk­sys­te­men mit ver­schie­de­nen Funk­tio­nen, Sys­tem­brei­ten und Mate­ria­li­en bedarfs­ge­recht aus­zu­wäh­len. Sys­tem­knö­chel­ge­len­ke ste­hen mit sta­ti­schen und dyna­mi­schen Dor­sal- und Plant­ar­an­schlä­gen sowie in frei beweg­li­cher Aus­füh­rung zur Aus­wahl. Sys­tem­knie­ge­len­ke gibt es in frei beweg­li­cher, auto­ma­ti­scher oder gesperr­ter Aus­füh­rung. Neben der bedarfs­ge­rech­ten Aus­wahl der Sys­tem­ge­len­ke spielt die Belast­bar­keit der Orthe­se für die Sicher­heit der Pati­en­ten und die Kraft­über­tra­gung zwi­schen Pati­ent und Orthe­se eine wich­ti­ge Rol­le. Die Wahl der Sys­tem­brei­te sowie die uni- oder bila­te­ra­le Bau­wei­se der Orthe­se sind abhän­gig von den erho­be­nen Pati­en­ten­da­ten und der gewähl­ten Arbeits­tech­nik. Ver­län­ger­te Hebel­ar­me zwi­schen Last­li­nie und Gelenk­dreh­punkt – bedingt durch mög­li­che Exten­si­ons- und Bewe­gungs­li­mi­tie­run­gen sowie Achs­ab­wei­chun­gen in Fron­tal- und Sagit­tal­ebe­ne – erhö­hen die in den Sys­tem­ge­len­ken wir­ken­den Belas­tun­gen 9 und müs­sen daher eben­falls bei der Pla­nung der Bau­wei­se beach­tet werden.

Eben­so soll­te der spä­te­re Grund­auf­bau der Orthe­se unter bio­me­cha­ni­schen Gesichts­punk­ten berück­sich­tigt wer­den. Unter Beach­tung bio­me­cha­ni­scher Auf­bau­richt­li­ni­en gelingt eine bedarfs­ge­rech­te Aus­wahl und ein opti­ma­les Zusam­men­spiel zwi­schen Knö­chel- und Knie­ge­lenk­sys­te­men. Im Fol­gen­den wer­den die Auf­bau­richt­li­ni­en für die nach Per­ry 10 defi­nier­ten Gang­pha­sen “mid stance” und “loa­ding repon­se” erläu­tert. Dabei wird der Ver­lauf des Vek­tors der Boden­re­ak­ti­ons­kraft berücksichtigt.

Auf­bau­richt­li­nie “mid stance”

Der Grund­auf­bau der Orthe­se erfolgt in Anleh­nung an die phy­sio­lo­gi­schen Gelenk­win­kel in “mid stance” mit leich­ter Knief­le­xi­on und Tibia­vor­nei­gung 11, sodass der Boden­re­ak­ti­ons­kraft-Vek­tor durch die Unter­stüt­zungs­flä­che ver­läuft (Abb. 3). Die Begren­zung der Bewe­gung in Rich­tung Dor­sal­ex­ten­si­on eines Sys­tem­knö­chel­ge­len­kes mit Dor­sal­an­schlag ermög­licht die Last­über­nah­me ab “mid stance” auf das betrof­fe­ne Bein. Für eine knie­si­chern­de Funk­ti­on der Orthe­se ver­läuft der Boden­re­ak­ti­ons­kraft-Vek­tor vor dem Knie­kom­pro­miss­dreh­punkt 12 des betrof­fe­nen Bei­nes (Abb. 3, links). Mit­tels Rück­ver­la­ge­rung der mecha­ni­schen Knie­ach­se eines frei beweg­li­chen Sys­tem­knie­ge­len­kes wird die Knie­si­cher­heit erhöht 13. Ein Exten­si­ons­an­schlag ver­hin­dert eine Hyper­ex­ten­si­on des Knies. Phy­sio­lo­gi­sche Knie­win­kel wer­den mit Sys­tem­knie­ge­len­ken mit dyna­mi­schem Exten­si­ons­an­schlag erzielt. Ver­läuft der Boden­re­ak­ti­ons­kraft-Vek­tor auf­grund von Exten­si­ons­li­mi­tie­run­gen in Knie- und/oder Hüft­ge­lenk hin­ter dem Knie­dreh­punkt (Abb. 3, rechts), wirkt dies knief­lek­tie­rend 14. Häu­fig ist eine eigen­stän­di­ge mus­ku­lä­re Knie­si­che­rung ent­ge­gen der Knief­le­xi­on bei gelähm­ter knie­si­chern­der Mus­ku­la­tur nicht mög­lich. In die­sem Fall ist neben einer Limi­tie­rung in Dor­sal­ex­ten­si­on auch eine pas­si­ve Limi­tie­rung in Rich­tung Knief­le­xi­on ein­zu­pla­nen. Abhän­gig von der Aus­prä­gung der Exten­si­ons­li­mi­tie­run­gen wird im Ide­al­fall ein Stand­pha­sen­si­che­rungs­ge­lenk ein­ge­plant. Die­ses sichert auto­ma­tisch die Stand­pha­se und erlaubt ein phy­sio­lo­gisch frei­es Durch­schwin­gen des Bei­nes in der Schwung­pha­se. Gesperr­te Sys­tem­knie­ge­len­ke mit blo­ckier­ter Schwung­pha­se und den damit ein­her­ge­hen­den Kom­pen­sa­ti­ons­me­cha­nis­men erhö­hen den Ener­gie­ver­brauch 15 und wer­den nur dann ein­ge­setzt, wenn Stand­pha­sen­si­che­rungs­ge­len­ke auf­grund zu stark aus­ge­präg­ter Exten­si­ons­li­mi­tie­run­gen nicht ein­setz­bar sind oder der Mus­kel­sta­tus dies gene­rell nicht zulässt.

Auf­bau­richt­li­nie “loa­ding response”

In “loa­ding respon­se” ver­läuft der Boden­re­ak­ti­ons­kraft-Vek­tor hin­ter dem Knie­dreh­punkt (Abb. 4), was bei vie­len knie­un­si­che­ren Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten mit Läh­mun­gen zu Kom­pen­sa­ti­ons­me­cha­nis­men wie Hyper­ex­ten­si­on und/oder Ober­kör­per­vor­nei­gung führt. Wäh­rend der Belas­tungs­über­nah­me in “loa­ding respon­se” bedarf es daher bei der Wahl frei beweg­li­cher Sys­tem­knie­ge­len­ke einer Rest­ak­ti­vi­tät der knie­si­chern­den Mus­ku­la­tur, um das Knie­ge­lenk zu kon­trol­lie­ren. Die Akti­vie­rung des Fer­sen­kipp­he­bels wird durch das Sys­tem­knö­chel­ge­lenk unter­stützt und trägt zur Knie­kon­trol­le bei. Auf den Pati­en­ten abge­stimm­te Feder­kräf­te sor­gen für eine Anhe­bung des Fußes in der Schwung­pha­se und ver­ein­fa­chen dadurch den für die Ansteue­rung des Fer­sen­kipp­he­bels wich­ti­gen Fer­sen­kon­takt in “initi­al cont­act”. Der dyna­mi­sche Plant­ar­an­schlag des Sys­tem­knö­chel­ge­len­kes ermög­licht somit eine kon­trol­lier­te pas­si­ve Plant­ar­fle­xi­on in “loa­ding respon­se”. Ein Blo­ckie­ren der Fer­sen­kipp­he­bel­funk­ti­on ver­ur­sacht ein zu star­kes Knief­le­xi­ons­mo­ment in “loa­ding respon­se”. Dies führt zu Unsi­cher­heit auf der Knie­ebe­ne und pro­vo­ziert Kompensationsmechanismen.

Stand­pha­sen­si­che­rungs­ge­len­ke oder gesperr­te Sys­tem­knie­ge­len­ke sichern das Knie­ge­lenk der Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten bei star­ker Insuf­fi­zi­enz der knie­si­chern­den Mus­ku­la­tur. Aber auch die­se Gelenk­sys­te­me las­sen sich nur mit einer Akti­vie­rung des Fer­sen­kipp­he­bels ver­ein­ba­ren, um einen star­ken Vor­schub der Hüf­te und dar­aus resul­tie­ren­de Kom­pen­sa­ti­ons­me­cha­nis­men in “loa­ding respon­se” zu vermeiden.

Bei der Pla­nung einer bedarfs­ge­rech­ten und belast­ba­ren Bein­or­the­se unter­stüt­zen intel­li­gen­te Berech­nungs­sys­te­me wie der soge­nann­te Orthe­sen-Kon­fi­gu­ra­tor 16 die Aus­wahl von Gelenk­funk­ti­on, Arbeits­tech­nik, Bau­wei­se, Scha­len­an­ord­nung, Sys­tem­brei­te und Mate­ria­li­en nach Ein­ga­be der pati­en­ten­spe­zi­fi­schen Daten.

Modell­tech­nik

Der geplan­te Grund­auf­bau wird bereits bei der Erstel­lung des Modells umge­setzt. Die Aus­rich­tung der Pati­en­ten mit mög­lichst phy­sio­lo­gi­schen Gelenk­win­keln in Anleh­nung an “mid stance” lie­fert idea­le Vor­aus­set­zun­gen für ein phy­sio­lo­gi­sches Gehen. Die Posi­tio­nie­rung der Gelenk­dreh­punk­te erfolgt unter mög­lichst hoher Kon­gru­enz zwi­schen mecha­ni­scher und ana­to­mi­scher Bein­ach­se. Für die mecha­ni­sche Knie­si­che­rung wird – je nach Aus­prä­gung der Insuf­fi­zi­enz der knie­si­chern­den Mus­ku­la­tur – der Knie­kom­pro­miss­dreh­punkt zurück­ver­la­gert. Ab dem höchs­ten Punkt des defi­nier­ten Abroll­be­rei­ches, der die Unter­stüt­zungs­flä­che nach vor­ne begrenzt, wird der Spit­zen­hub für die Fuß­scha­le eingearbeitet.

Her­stel­lung der Orthese

Damit die aus­ge­wähl­ten Sys­tem­ge­len­ke die Geh- und Steh­fä­hig­keit der Pati­en­ten posi­tiv beein­flus­sen kön­nen, wer­den sie in hoch­be­last­ba­re, aus Faser­ver­bund­werk­stoff gefer­tig­te Orthe­sen­scha­len ein­ge­ar­bei­tet. Für die Belast­bar­keit der Orthe­se sorgt eine auf den jewei­li­gen Pati­en­ten abge­stimm­te last­auf­neh­men­de Pro­fi­lie­rung. Die dadurch erziel­te hohe Stei­fig­keit wirkt sich posi­tiv auf die Funk­tio­na­li­tät der Bein­or­the­se aus 17. Teil­fle­xi­ble, kom­for­ta­ble Area­le im Sitz­be­reich sowie ein moder­nes Orthe­sen­de­sign sor­gen für eine ver­bes­ser­te Com­pli­ance der Pati­en­ten. Eine ein­fach repro­du­zier­ba­re Arbeits­tech­nik führt zu zuver­läs­si­gen Fertigungsergebnissen.

Über­ga­be der Orthese

Die Über­ga­be glie­dert sich in drei Pha­sen: Kon­trol­le des Auf­baus auf der Werk­bank, sta­ti­sche Kon­trol­le sowie dyna­mi­sche Kon­trol­le. Dazu im Ein­zel­nen (vgl. jeweils Abbil­dung 5):

Einen für den Pati­en­ten siche­ren Grund­auf­bau garan­tiert die vor­he­ri­ge Kon­trol­le auf der Werk­bank (Abb. 5, Pha­se 1). Dabei “steht” die Bein­or­the­se im Schuh. Für eine opti­ma­le Kraft­über­tra­gung zwi­schen Pati­ent und Orthe­se bil­den die Orthe­se und der sta­bi­le Schuh mit fes­ter Soh­le eine Ein­heit. Von late­ral wird die vor­de­re Hälf­te der Unter­stüt­zungs­flä­che (½ u) defi­niert. Das Mar­kie­ren des pro­xi­ma­len Drit­tels der Unter­stüt­zungs­flä­che grenzt den Lot­be­reich nach vor­ne noch exak­ter ein (grün mar­kiert). Die Lot­li­nie fällt aus­ge­hend von der Mit­te der Ober­schen­kel­scha­le vor die mecha­ni­sche Knie­ach­se mit­tig durch das ap-Knie­maß und durch den defi­nier­ten Lot­be­reich der Unter­stüt­zungs­flä­che. Die Sys­tem­ge­len­ke befin­den sich dabei im Anschlag. Die Kon­trol­le des Grund­auf­baus in Anleh­nung an “mid stance” in phy­sio­lo­gi­scher Knief­le­xi­on und Tibia­vor­nei­gung ist somit erfolgreich.

Der Stand wird sodann sta­tisch an der Pati­en­tin bzw. am Pati­en­ten kon­trol­liert (Abb. 5, Pha­se 2). Die aus dem Kör­per­schwer­punkt des Pati­en­ten ent­ste­hen­de Last­li­nie dient als Lot für die Über­prü­fung des Grund­auf­baus und fällt durch das Hüft­ge­lenk vor die mecha­ni­sche Knie­ach­se und durch den defi­nier­ten Lot­be­reich der Unter­stüt­zungs­flä­che. Die Sys­tem­ge­len­ke befin­den sich dabei im Anschlag. Mit­tels aus­tausch­ba­rer Federn in den dyna­mi­schen Anschlä­gen wird die Feder­stär­ke bei nicht aus­rei­chen­der mecha­ni­scher Hebel­ak­ti­vie­rung ange­passt. Der Grund­auf­bau wird ggf. über stu­fen­los ein­stell­ba­re Sys­tem­knö­chel- und Sys­tem­knie­ge­len­ke nach­jus­tiert. Die sta­ti­sche Anpro­be ist dann erfolg­reich, wenn der Pati­ent in einem sta­bi­len Gleich­ge­wicht steht. Die für das spä­te­re Gehen not­wen­di­ge Gewichts­ver­la­ge­rung von einem Bein auf das ande­re wird unter Ein­hal­tung der maxi­ma­len Hebel­län­gen der Orthe­sen­scha­len über­prüft. Ist eine siche­re Gewichts­ver­la­ge­rung mög­lich, so ist auch die Belast­bar­keit der Orthe­se gegeben.

In der dyna­mi­schen Kon­trol­le der Bein­or­the­se wird das siche­re Gehen mit mög­lichst phy­sio­lo­gi­schen Gelenk­win­keln ange­strebt (Abb. 5, Pha­se 3). Bestimm­te Hilfs­mit­tel der Wahl, z. B. ein Geh­stock, unter­stüt­zen die Pati­en­ten bei Unsi­cher­hei­ten mit der neu­en Orthe­se. Um dem Anspruch der Annä­he­rung an ein phy­sio­lo­gi­sches Gehen gerecht zu wer­den, wird die Schritt­ab­wick­lung der Pati­en­ten mit der gebräuch­li­chen Ein­tei­lung der Gang­pha­sen nach Per­ry über­prüft. Für eine genaue Ana­ly­se wer­den meh­re­re Schrit­te betrach­tet. Eine zu lang­sa­me oder zu schnel­le Geh­ge­schwin­dig­keit erschwert die Dif­fe­ren­zie­rung der Gang­pha­sen und deu­tet auf Unsi­cher­hei­ten hin. Fin­det eine der nach Per­ry defi­nier­ten Gang­pha­sen nicht statt oder wird sie über­sprun­gen, gilt es her­aus­zu­fin­den, ob sie aus patho­lo­gi­schen Grün­den der Pati­en­ten oder aus funk­tio­nel­len Grün­den der Orthe­se nicht umge­setzt wer­den kann.

Ver­sor­gungs­bei­spiel

Unter Anwen­dung des zuvor vor­ge­stell­ten Kon­zep­tes wur­de eine seit mehr als 20 Jah­ren an Mul­ti­pler Skle­ro­se erkrank­te Pati­en­tin ver­sorgt. Die Pati­en­tin lei­det an spas­ti­schen Läh­mungs­er­schei­nun­gen, kom­bi­niert mit einer gestör­ten Kör­per­wahr­neh­mung der lin­ken Kör­per­hälf­te. Die mus­ku­lä­ren Defi­zi­te wur­den im aus­ge­ruh­ten Zustand mit dem Mus­kel­funk­ti­ons­test nach Jan­da beid­sei­tig ana­ly­siert (Tab. 1). Im Rah­men eines 6‑Mi­nu­ten-Geh­tests konn­te die Pati­en­tin 480 Meter zurück­le­gen. Die Fati­gue wur­de durch einen unmit­tel­bar im Anschluss durch­ge­führ­ten zwei­ten Mus­kel­funk­ti­ons­test berücksichtigt.

Die visu­el­le Gang­ana­ly­se zeigt in “mid stance” eine star­ke Ober­kör­per­vor­nei­gung bei gleich­zei­ti­ger Hyper­ex­ten­si­on des lin­ken Knies (Abb. 6a). Mit die­sen Kom­pen­sa­ti­ons­me­cha­nis­men ver­sucht die Pati­en­tin ihre ver­lo­ren­ge­gan­ge­ne mus­ku­lä­re Sicher­heit zu kom­pen­sie­ren und das Ein­bre­chen des Knies zu ver­hin­dern. Dadurch wer­den Fatique und Ener­gie­ver­brauch zusätz­lich erhöht. Zur Ver­hin­de­rung eines Stur­zes muss sie jedoch zusätz­lich von ihrem Ortho­pä­die­tech­ni­ker gestützt wer­den, um so ihre Unter­stüt­zungs­flä­che zum Boden zu ver­grö­ßern. Die für sie nahe­zu unkon­trol­lier­ba­re Spas­tik in bei­den Bei­nen ver­schlech­tert ihr Gang­bild zusätzlich.

Bio­me­cha­ni­sche Betrach­tung der Gelenkauswahl

Die Pati­en­ten­da­ten erlau­ben unter Anwen­dung der Faser­ver­bund­tech­nik uni­la­te­ral ver­bau­te Sys­tem­ge­len­ke. Durch die leich­te Bau­wei­se bei den­noch hoher Belast­bar­keit wird die Fati­gue der Pati­en­tin nicht zusätz­lich begüns­tigt. Auf­grund der spas­ti­schen Läh­mung war es wich­tig, wei­che, dyna­mi­sche Gelenk­an­schlä­ge zu ver­bau­en, um die Spas­tik der Pati­en­tin nicht zusätz­lich zu trig­gern. Daher wur­den die beid­sei­tig gelähm­ten Plant­ar­flex­o­ren und Dor­sal­ex­ten­so­ren durch den Ein­satz hoch­funk­tio­na­ler Knö­chel­ge­lenk­sys­te­me mit dyna­mi­schen Dor­sal- und Plant­ar­an­schlä­gen ausgeglichen.

Die inte­grier­ten Kap­pen in den ven­tra­len Ver­schluss­sys­te­men der Unter­schen­kel­scha­len ermög­li­chen der Pati­en­tin die Kraft­ein­lei­tung in die Orthe­se. Die im Grund­auf­bau berück­sich­tig­te Tibia­vor­nei­gung erlaubt ihr das siche­re Anleh­nen an die ven­tra­len Anla­ge­flä­chen der Unter­schen­kel­scha­len. Die auf den Mus­kel­sta­tus abge­stimm­ten hohen Feder­kräf­te der dyna­mi­schen Dor­sal­an­schlä­ge akti­vie­ren extern die Vor­fuß­he­bel. Dadurch kann die Pati­en­tin ihren Kör­per­schwer­punkt wie­der über der Unter­stüt­zungs­flä­che aus­rich­ten und nut­zen. Kom­bi­niert mit der zurück­ver­la­ger­ten mecha­ni­schen Knie­ach­se des frei beweg­li­chen Sys­tem­knie­ge­len­kes auf der stär­ker betrof­fe­nen lin­ken Bein­sei­te erlangt die Pati­en­tin wie­der ein siche­res Ste­hen und Gehen ohne Kom­pen­sa­ti­ons­me­cha­nis­men (Abb. 6b u. c).

Die dyna­mi­schen Plant­ar­an­schlä­ge der Sys­tem­ge­len­ke ver­lei­hen der Pati­en­tin durch die Fuß­an­he­bung ein frei­es Durch­schwin­gen in der Schwung­pha­se und einen siche­ren Fer­sen­auf­tritt. Die anhand des Mus­kel­sta­tus der Dor­sal­ex­ten­so­ren aus­ge­wähl­ten Feder­ein­hei­ten kon­trol­lie­ren über die Fer­sen­kipp­he­bel­funk­ti­on der Sys­tem­knö­chel­ge­len­ke die pas­si­ve Plant­ar­fle­xi­on. Zusam­men mit der mus­ku­lä­ren Rest­ak­ti­vi­tät der Knie­ex­ten­so­ren wer­den so die Knie wäh­rend der Belas­tungs­über­nah­me gesi­chert. Über die hoch­funk­tio­na­len Sys­tem­knö­chel­ge­len­ke wur­de die Knie­si­cher­heit bei­der Bei­ne dyna­misch erhöht. Dadurch war es mög­lich, auf ein Sys­tem­knie­ge­lenk für das weni­ger betrof­fe­ne rech­te Bein zu verzichten.

Ergeb­nis

Die Wie­der­her­stel­lung der bio­me­cha­ni­schen Funk­ti­on bei kor­rek­ter Ansteue­rung der Mus­ku­la­tur und unter gerin­ger Ein­schrän­kung der Beweg­lich­keit erhält die Steh- und Geh­fä­hig­keit der Pati­en­tin und beugt Kon­trak­tu­ren vor. Die bedarfs­ge­rech­ten Bein­or­the­sen ermög­li­chen ihr ein akti­ves Trai­ning in phy­sio­the­ra­peu­ti­schen Übun­gen und unter­stüt­zen sie dabei, die vom inter­dis­zi­pli­nä­ren Team gemein­sam mit der Pati­en­tin defi­nier­ten The­ra­pie­zie­le zu erreichen.

Fazit und Ausblick

Unter Anwen­dung des hier vor­ge­stell­ten sys­te­ma­ti­schen Ver­sor­gungs­kon­zep­tes gelingt eine erfolg­rei­che orthe­ti­sche Ver­sor­gung von Pati­en­ten mit neu­ro­lo­gisch beding­ten Geh­stö­run­gen. Die gründ­li­che Pla­nung des Grund­auf­baus der Orthe­se unter Berück­sich­ti­gung bio­me­cha­ni­scher Auf­bau­richt­li­ni­en ermög­licht eine Bein­or­the­se mit bedarfs­ge­rech­ten Gelenk­sys­te­men und redu­ziert Anpro­be­zei­ten. Die knie­si­chern­de Wir­kung kor­rekt ein­ge­stell­ter, hoch­funk­tio­na­ler Sys­tem­knö­chel­ge­len­ke gilt es bei der Aus­wahl mög­li­cher Sys­tem­knie­ge­len­ke zu berücksichtigen.

Ein stra­te­gi­sches Arbei­ten wird zukünf­tig auf­grund des Fach­kräf­te­man­gels in der Bran­che immer wich­ti­ger wer­den, um Arbeits­zei­ten effi­zi­ent zu nut­zen. Her­stel­lungs­pro­zes­se wer­den durch neue Arbeits­tech­ni­ken wei­ter ver­ein­facht. Inno­va­ti­ve Gelenk­sys­te­me wer­den immer weni­ger die Phy­sio­lo­gie des Pati­en­ten ein­schrän­ken. Doch die sich maß­geb­lich auf die Funk­tio­na­li­tät der Bein­or­the­se aus­wir­ken­de Pla­nung des Orthe­sen­auf­baus und die sorg­fäl­ti­ge Aus­wahl geeig­ne­ter Gelenk­sys­te­me wer­den auch wei­ter­hin eine wich­ti­ge Exper­ti­se des Ortho­pä­die­tech­ni­kers bleiben.

Inter­es­sen­kon­flikt:

Die Autoren sind Mit­ar­bei­ter des Unter­neh­mens Fior & Gentz Gesell­schaft für Ent­wick­lung u. Ver­trieb von ortho­pä­die­tech­ni­schen Sys­te­men mbH.

Der Autor:
David Böh­le B. Eng., Ortho­pä­die­tech­ni­ker Tech­ni­scher Support
Fior & Gentz Gesell­schaft für Ent­wick­lung u. Ver­trieb von ortho­pä­die­tech­ni­schen Sys­te­men mbH
Doret­te-von-Stern-Stra­ße 5
21337 Lüne­burg
david.boehle@fior-gentz.de

Begut­ach­te­ter Artikel/reviewed paper

Zita­ti­on
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