Einleitung
Systemgelenke für die untere Extremität finden sich sowohl in konfektionierten als auch in individuellen Beinorthesen. In diesem Artikel gilt der Fokus Systemknöchel- und Systemkniegelenken, die in individuellen Beinorthesen verarbeitet sind. Beinorthesen mit Systemgelenken sind ein wichtiger Bestandteil der Therapie von Patienten mit neurologisch bedingten Gehstörungen. Immer häufiger sind Systemgelenke modular umrüstbar, sodass sich die Gelenkfunktion individuell an Veränderungen der Bedürfnisse des Patienten anpassen lässt.
In der Prothetik ist eine solche Modularität schon lange etabliert. Der deutliche innovative Vorsprung gegenüber der Orthetik ist nicht unbegründet: Im und nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg konnte die immense Nachfrage nach Beinprothesen nur durch technischen Innovationsgeist und industrielle Komponentenbauweisebefriedigt werden 1. Aber die Orthetik hat aufgeholt und ihr einstmals “verstaubtes Image” abgelegt: Heutzutage herrschen dort funktionelle Gelenksysteme in Verbindung mit hoch belastbaren und leichten Faserverbundwerkstoffen vor; rein stützende, klobige und schwere Schienen-Schellen-Apparate aus Stahl und Leder gehören endgültig der Vergangenheit an. Auch die Methoden haben sich stark verbessert, sind aber auch anspruchsvoller geworden: Für eine moderne anforderungsgerechte Beinorthese empfiehlt sich ein systematisches Vorgehen unter Berücksichtigung biomechanischer Wirkungsweisen, wie im Folgenden aufgezeigt wird.
Biomechanische Überlegungen
Das Ziel der orthetischen Versorgung von Patienten mit neurologisch bedingten Gehstörungen ist die Verbesserung oder sogar Wiederherstellung der physiologischen Geh- und Stehfähigkeit. Eine moderne Beinorthese hat die Aufgabe, verloren gegangene muskuläre Sicherheit so auszugleichen, dass der Patient in seinem Bewegungsumfang möglichst wenig eingeschränkt wird. Je nachdem, wie viel die Muskulatur aktiv zum Stehen und Gehen beiträgt, sorgt die von extern unterstützende mechanische Hebelaktivierung der Orthese für eine Wiederherstellung der Sicherheit. Kniesichernde Kompensationsmechanismen wie eine Hyperextension des Knies, eine starke Innenrotation der Beinachse oder eine Oberkörpervorneigung werden dadurch reduziert oder sogar ganz beseitigt. Der Anspruch ist es, den Patienten die Abhängigkeit vom Rollstuhl, Rollator oder Gehstützen zu nehmen, um alltägliche Dinge freihändig ausführen zu können.
Um dieses Ziel zu erreichen, wird die Unterstützungsfläche zum Boden genutzt: Die Unterstützungsfläche einer Orthese wird durch die Fersenkante und den höchsten Punkt des Abrollbereiches der Fußschale definiert. Über die Fußschale erfolgt die Einleitung der Bodenreaktionskraft in die Orthese. Das Hineinlehnen der Patientinnen und Patienten in die ventrale anliegende Unterschenkelschale ermöglicht die Einleitung der Gewichtskraft in die Orthese. Die daraus resultierenden Hebelarme der Fußschale und der Unterschenkelschale aktivieren im Zusammenspiel mit dem Dorsalanschlag mechanisch den Vorfußhebel. Diese externe Hebelkraft erfolgt idealerweise über einen dynamischen Dorsalanschlag mit einem direkt wirkenden Grundwiderstand einer vorkomprimierten Feder (Abb. 1). Die dynamische Begrenzung der Bewegung in Richtung Dorsalextension ermöglicht eine Ausrichtung des Körperschwerpunktes über der Unterstützungsfläche – der Patient steht dadurch in einem stabilen Gleichgewicht.
Das Gehen mit physiologischen Gelenkwinkeln wird mit einer Kombination aus stützenden und dynamischen Elementen ermöglicht. Die vorkomprimierten Federn lassen bei Krafteinleitung eine gewisse Dynamik zu und erlauben aufgrund der kniesichernden Wirkung eine sichere Schrittabwicklung des betroffenen Beines. Dynamische Federelemente speichern die vom Patienten eingebrachte Energie in der Standphase; die Energierückgewinnung unterstützt die Einleitung der Schwungphase.
Systematisches Versorgungskonzept
Ein systematisches Orthesenversorgungskonzept ist in mehrere Phasen gegliedert, die im Folgenden vorgestellt werden.
Begutachtung der Patienten
Die sorgfältige Erhebung der relevanten Patientendaten (Abb. 2) wirkt sich nachhaltig auf die Funktion der Beinorthese aus. Zur Bedarfsermittlung bezüglich der Orthesenfunktion wird erhoben, in welchem Maß die vorhandene Muskelkraft der Patienten zum physiologischen Stehen und Gehen aktiv beitragen kann. Dabei spielt die für die Lähmung ursächliche Indikation eine Rolle:
- Bei peripheren und spinalen Lähmungen eignet sich der Muskelfunktionstest nach Janda 2, um die für die Fortbewegung relevanten Muskelgruppen zu prüfen.
- Bei Indikationen mit erhöhter muskulärer Ermüdung (Fatigue) wie der Multiplen Sklerose wird der Zustand sowohl ohne als auch mit Fatigue berücksichtigt. Dazu wird nach dem ersten Muskelfunktionstest mit dem 6‑Minuten-Gehtest 3 eine Ermüdung hervorgerufen, damit bei unmittelbar erneuter Durchführung des Tests der von der Fatigue beeinflusste Muskelstatus ermittelt werden kann 4.
- Für die Bedarfsermittlung von Patienten mit zentralen Lähmungen wird die Klassifikation nach Gangmuster in der mittleren Standphase bevorzugt.
- Bei Schlaganfallpatienten findet die N.A.P. Gait Classification 5 Anwendung.
- Patienten mit Zerebralparese lassen sich schnell mit der Amsterdam Gait Classification beurteilen 6.
Da sich kontrakt erscheinende Muskulatur unter dynamischer Belastung dehnen kann und passiv ermittelte Gelenkwinkel häufig nicht mit der dynamischen Funktion übereinstimmen 7, erfolgt in jedem Fall eine zusätzliche visuelle Ganganalyse. Begleiterkrankungen, die berufliche Tätigkeit, Hobbys, das häusliche Umfeld, die Topographie am Wohnort sowie geplante interdisziplinäre Therapien (z. B. Wassertherapie) werden ebenfalls berücksichtigt.
Planung der Orthese
Mit den ermittelten Patientendaten beginnt die Planung der zu erledigenden orthopädietechnischen Aufgaben. Dabei gilt es den maximalen Funktionsausgleich für die beeinträchtigte Muskulatur bei gleichzeitig hoher Belastbarkeit der Orthese zu erzielen, ohne den Patienten über- oder unterzuversorgen. Demnach gilt das Motto “So wenig wie möglich, so viel wie nötig”. Aus gewichtstechnischen, optischen sowie ökonomischen Gründen wird nach Möglichkeit eine unilaterale Beinorthese angestrebt. Denn eine unnötige Überdimensionierung der Orthese wirkt sich auch negativ auf die Compliance des Patienten aus 8.
Es gilt aus einer Fülle an Gelenksystemen mit verschiedenen Funktionen, Systembreiten und Materialien bedarfsgerecht auszuwählen. Systemknöchelgelenke stehen mit statischen und dynamischen Dorsal- und Plantaranschlägen sowie in frei beweglicher Ausführung zur Auswahl. Systemkniegelenke gibt es in frei beweglicher, automatischer oder gesperrter Ausführung. Neben der bedarfsgerechten Auswahl der Systemgelenke spielt die Belastbarkeit der Orthese für die Sicherheit der Patienten und die Kraftübertragung zwischen Patient und Orthese eine wichtige Rolle. Die Wahl der Systembreite sowie die uni- oder bilaterale Bauweise der Orthese sind abhängig von den erhobenen Patientendaten und der gewählten Arbeitstechnik. Verlängerte Hebelarme zwischen Lastlinie und Gelenkdrehpunkt – bedingt durch mögliche Extensions- und Bewegungslimitierungen sowie Achsabweichungen in Frontal- und Sagittalebene – erhöhen die in den Systemgelenken wirkenden Belastungen 9 und müssen daher ebenfalls bei der Planung der Bauweise beachtet werden.
Ebenso sollte der spätere Grundaufbau der Orthese unter biomechanischen Gesichtspunkten berücksichtigt werden. Unter Beachtung biomechanischer Aufbaurichtlinien gelingt eine bedarfsgerechte Auswahl und ein optimales Zusammenspiel zwischen Knöchel- und Kniegelenksystemen. Im Folgenden werden die Aufbaurichtlinien für die nach Perry 10 definierten Gangphasen “mid stance” und “loading reponse” erläutert. Dabei wird der Verlauf des Vektors der Bodenreaktionskraft berücksichtigt.
Aufbaurichtlinie “mid stance”
Der Grundaufbau der Orthese erfolgt in Anlehnung an die physiologischen Gelenkwinkel in “mid stance” mit leichter Knieflexion und Tibiavorneigung 11, sodass der Bodenreaktionskraft-Vektor durch die Unterstützungsfläche verläuft (Abb. 3). Die Begrenzung der Bewegung in Richtung Dorsalextension eines Systemknöchelgelenkes mit Dorsalanschlag ermöglicht die Lastübernahme ab “mid stance” auf das betroffene Bein. Für eine kniesichernde Funktion der Orthese verläuft der Bodenreaktionskraft-Vektor vor dem Kniekompromissdrehpunkt 12 des betroffenen Beines (Abb. 3, links). Mittels Rückverlagerung der mechanischen Knieachse eines frei beweglichen Systemkniegelenkes wird die Kniesicherheit erhöht 13. Ein Extensionsanschlag verhindert eine Hyperextension des Knies. Physiologische Kniewinkel werden mit Systemkniegelenken mit dynamischem Extensionsanschlag erzielt. Verläuft der Bodenreaktionskraft-Vektor aufgrund von Extensionslimitierungen in Knie- und/oder Hüftgelenk hinter dem Kniedrehpunkt (Abb. 3, rechts), wirkt dies knieflektierend 14. Häufig ist eine eigenständige muskuläre Kniesicherung entgegen der Knieflexion bei gelähmter kniesichernder Muskulatur nicht möglich. In diesem Fall ist neben einer Limitierung in Dorsalextension auch eine passive Limitierung in Richtung Knieflexion einzuplanen. Abhängig von der Ausprägung der Extensionslimitierungen wird im Idealfall ein Standphasensicherungsgelenk eingeplant. Dieses sichert automatisch die Standphase und erlaubt ein physiologisch freies Durchschwingen des Beines in der Schwungphase. Gesperrte Systemkniegelenke mit blockierter Schwungphase und den damit einhergehenden Kompensationsmechanismen erhöhen den Energieverbrauch 15 und werden nur dann eingesetzt, wenn Standphasensicherungsgelenke aufgrund zu stark ausgeprägter Extensionslimitierungen nicht einsetzbar sind oder der Muskelstatus dies generell nicht zulässt.
Aufbaurichtlinie “loading response”
In “loading response” verläuft der Bodenreaktionskraft-Vektor hinter dem Kniedrehpunkt (Abb. 4), was bei vielen knieunsicheren Patientinnen und Patienten mit Lähmungen zu Kompensationsmechanismen wie Hyperextension und/oder Oberkörpervorneigung führt. Während der Belastungsübernahme in “loading response” bedarf es daher bei der Wahl frei beweglicher Systemkniegelenke einer Restaktivität der kniesichernden Muskulatur, um das Kniegelenk zu kontrollieren. Die Aktivierung des Fersenkipphebels wird durch das Systemknöchelgelenk unterstützt und trägt zur Kniekontrolle bei. Auf den Patienten abgestimmte Federkräfte sorgen für eine Anhebung des Fußes in der Schwungphase und vereinfachen dadurch den für die Ansteuerung des Fersenkipphebels wichtigen Fersenkontakt in “initial contact”. Der dynamische Plantaranschlag des Systemknöchelgelenkes ermöglicht somit eine kontrollierte passive Plantarflexion in “loading response”. Ein Blockieren der Fersenkipphebelfunktion verursacht ein zu starkes Knieflexionsmoment in “loading response”. Dies führt zu Unsicherheit auf der Knieebene und provoziert Kompensationsmechanismen.
Standphasensicherungsgelenke oder gesperrte Systemkniegelenke sichern das Kniegelenk der Patientinnen und Patienten bei starker Insuffizienz der kniesichernden Muskulatur. Aber auch diese Gelenksysteme lassen sich nur mit einer Aktivierung des Fersenkipphebels vereinbaren, um einen starken Vorschub der Hüfte und daraus resultierende Kompensationsmechanismen in “loading response” zu vermeiden.
Bei der Planung einer bedarfsgerechten und belastbaren Beinorthese unterstützen intelligente Berechnungssysteme wie der sogenannte Orthesen-Konfigurator 16 die Auswahl von Gelenkfunktion, Arbeitstechnik, Bauweise, Schalenanordnung, Systembreite und Materialien nach Eingabe der patientenspezifischen Daten.
Modelltechnik
Der geplante Grundaufbau wird bereits bei der Erstellung des Modells umgesetzt. Die Ausrichtung der Patienten mit möglichst physiologischen Gelenkwinkeln in Anlehnung an “mid stance” liefert ideale Voraussetzungen für ein physiologisches Gehen. Die Positionierung der Gelenkdrehpunkte erfolgt unter möglichst hoher Kongruenz zwischen mechanischer und anatomischer Beinachse. Für die mechanische Kniesicherung wird – je nach Ausprägung der Insuffizienz der kniesichernden Muskulatur – der Kniekompromissdrehpunkt zurückverlagert. Ab dem höchsten Punkt des definierten Abrollbereiches, der die Unterstützungsfläche nach vorne begrenzt, wird der Spitzenhub für die Fußschale eingearbeitet.
Herstellung der Orthese
Damit die ausgewählten Systemgelenke die Geh- und Stehfähigkeit der Patienten positiv beeinflussen können, werden sie in hochbelastbare, aus Faserverbundwerkstoff gefertigte Orthesenschalen eingearbeitet. Für die Belastbarkeit der Orthese sorgt eine auf den jeweiligen Patienten abgestimmte lastaufnehmende Profilierung. Die dadurch erzielte hohe Steifigkeit wirkt sich positiv auf die Funktionalität der Beinorthese aus 17. Teilflexible, komfortable Areale im Sitzbereich sowie ein modernes Orthesendesign sorgen für eine verbesserte Compliance der Patienten. Eine einfach reproduzierbare Arbeitstechnik führt zu zuverlässigen Fertigungsergebnissen.
Übergabe der Orthese
Die Übergabe gliedert sich in drei Phasen: Kontrolle des Aufbaus auf der Werkbank, statische Kontrolle sowie dynamische Kontrolle. Dazu im Einzelnen (vgl. jeweils Abbildung 5):
Einen für den Patienten sicheren Grundaufbau garantiert die vorherige Kontrolle auf der Werkbank (Abb. 5, Phase 1). Dabei “steht” die Beinorthese im Schuh. Für eine optimale Kraftübertragung zwischen Patient und Orthese bilden die Orthese und der stabile Schuh mit fester Sohle eine Einheit. Von lateral wird die vordere Hälfte der Unterstützungsfläche (½ u) definiert. Das Markieren des proximalen Drittels der Unterstützungsfläche grenzt den Lotbereich nach vorne noch exakter ein (grün markiert). Die Lotlinie fällt ausgehend von der Mitte der Oberschenkelschale vor die mechanische Knieachse mittig durch das ap-Kniemaß und durch den definierten Lotbereich der Unterstützungsfläche. Die Systemgelenke befinden sich dabei im Anschlag. Die Kontrolle des Grundaufbaus in Anlehnung an “mid stance” in physiologischer Knieflexion und Tibiavorneigung ist somit erfolgreich.
Der Stand wird sodann statisch an der Patientin bzw. am Patienten kontrolliert (Abb. 5, Phase 2). Die aus dem Körperschwerpunkt des Patienten entstehende Lastlinie dient als Lot für die Überprüfung des Grundaufbaus und fällt durch das Hüftgelenk vor die mechanische Knieachse und durch den definierten Lotbereich der Unterstützungsfläche. Die Systemgelenke befinden sich dabei im Anschlag. Mittels austauschbarer Federn in den dynamischen Anschlägen wird die Federstärke bei nicht ausreichender mechanischer Hebelaktivierung angepasst. Der Grundaufbau wird ggf. über stufenlos einstellbare Systemknöchel- und Systemkniegelenke nachjustiert. Die statische Anprobe ist dann erfolgreich, wenn der Patient in einem stabilen Gleichgewicht steht. Die für das spätere Gehen notwendige Gewichtsverlagerung von einem Bein auf das andere wird unter Einhaltung der maximalen Hebellängen der Orthesenschalen überprüft. Ist eine sichere Gewichtsverlagerung möglich, so ist auch die Belastbarkeit der Orthese gegeben.
In der dynamischen Kontrolle der Beinorthese wird das sichere Gehen mit möglichst physiologischen Gelenkwinkeln angestrebt (Abb. 5, Phase 3). Bestimmte Hilfsmittel der Wahl, z. B. ein Gehstock, unterstützen die Patienten bei Unsicherheiten mit der neuen Orthese. Um dem Anspruch der Annäherung an ein physiologisches Gehen gerecht zu werden, wird die Schrittabwicklung der Patienten mit der gebräuchlichen Einteilung der Gangphasen nach Perry überprüft. Für eine genaue Analyse werden mehrere Schritte betrachtet. Eine zu langsame oder zu schnelle Gehgeschwindigkeit erschwert die Differenzierung der Gangphasen und deutet auf Unsicherheiten hin. Findet eine der nach Perry definierten Gangphasen nicht statt oder wird sie übersprungen, gilt es herauszufinden, ob sie aus pathologischen Gründen der Patienten oder aus funktionellen Gründen der Orthese nicht umgesetzt werden kann.
Versorgungsbeispiel
Unter Anwendung des zuvor vorgestellten Konzeptes wurde eine seit mehr als 20 Jahren an Multipler Sklerose erkrankte Patientin versorgt. Die Patientin leidet an spastischen Lähmungserscheinungen, kombiniert mit einer gestörten Körperwahrnehmung der linken Körperhälfte. Die muskulären Defizite wurden im ausgeruhten Zustand mit dem Muskelfunktionstest nach Janda beidseitig analysiert (Tab. 1). Im Rahmen eines 6‑Minuten-Gehtests konnte die Patientin 480 Meter zurücklegen. Die Fatigue wurde durch einen unmittelbar im Anschluss durchgeführten zweiten Muskelfunktionstest berücksichtigt.
Die visuelle Ganganalyse zeigt in “mid stance” eine starke Oberkörpervorneigung bei gleichzeitiger Hyperextension des linken Knies (Abb. 6a). Mit diesen Kompensationsmechanismen versucht die Patientin ihre verlorengegangene muskuläre Sicherheit zu kompensieren und das Einbrechen des Knies zu verhindern. Dadurch werden Fatique und Energieverbrauch zusätzlich erhöht. Zur Verhinderung eines Sturzes muss sie jedoch zusätzlich von ihrem Orthopädietechniker gestützt werden, um so ihre Unterstützungsfläche zum Boden zu vergrößern. Die für sie nahezu unkontrollierbare Spastik in beiden Beinen verschlechtert ihr Gangbild zusätzlich.
Biomechanische Betrachtung der Gelenkauswahl
Die Patientendaten erlauben unter Anwendung der Faserverbundtechnik unilateral verbaute Systemgelenke. Durch die leichte Bauweise bei dennoch hoher Belastbarkeit wird die Fatigue der Patientin nicht zusätzlich begünstigt. Aufgrund der spastischen Lähmung war es wichtig, weiche, dynamische Gelenkanschläge zu verbauen, um die Spastik der Patientin nicht zusätzlich zu triggern. Daher wurden die beidseitig gelähmten Plantarflexoren und Dorsalextensoren durch den Einsatz hochfunktionaler Knöchelgelenksysteme mit dynamischen Dorsal- und Plantaranschlägen ausgeglichen.
Die integrierten Kappen in den ventralen Verschlusssystemen der Unterschenkelschalen ermöglichen der Patientin die Krafteinleitung in die Orthese. Die im Grundaufbau berücksichtigte Tibiavorneigung erlaubt ihr das sichere Anlehnen an die ventralen Anlageflächen der Unterschenkelschalen. Die auf den Muskelstatus abgestimmten hohen Federkräfte der dynamischen Dorsalanschläge aktivieren extern die Vorfußhebel. Dadurch kann die Patientin ihren Körperschwerpunkt wieder über der Unterstützungsfläche ausrichten und nutzen. Kombiniert mit der zurückverlagerten mechanischen Knieachse des frei beweglichen Systemkniegelenkes auf der stärker betroffenen linken Beinseite erlangt die Patientin wieder ein sicheres Stehen und Gehen ohne Kompensationsmechanismen (Abb. 6b u. c).
Die dynamischen Plantaranschläge der Systemgelenke verleihen der Patientin durch die Fußanhebung ein freies Durchschwingen in der Schwungphase und einen sicheren Fersenauftritt. Die anhand des Muskelstatus der Dorsalextensoren ausgewählten Federeinheiten kontrollieren über die Fersenkipphebelfunktion der Systemknöchelgelenke die passive Plantarflexion. Zusammen mit der muskulären Restaktivität der Knieextensoren werden so die Knie während der Belastungsübernahme gesichert. Über die hochfunktionalen Systemknöchelgelenke wurde die Kniesicherheit beider Beine dynamisch erhöht. Dadurch war es möglich, auf ein Systemkniegelenk für das weniger betroffene rechte Bein zu verzichten.
Ergebnis
Die Wiederherstellung der biomechanischen Funktion bei korrekter Ansteuerung der Muskulatur und unter geringer Einschränkung der Beweglichkeit erhält die Steh- und Gehfähigkeit der Patientin und beugt Kontrakturen vor. Die bedarfsgerechten Beinorthesen ermöglichen ihr ein aktives Training in physiotherapeutischen Übungen und unterstützen sie dabei, die vom interdisziplinären Team gemeinsam mit der Patientin definierten Therapieziele zu erreichen.
Fazit und Ausblick
Unter Anwendung des hier vorgestellten systematischen Versorgungskonzeptes gelingt eine erfolgreiche orthetische Versorgung von Patienten mit neurologisch bedingten Gehstörungen. Die gründliche Planung des Grundaufbaus der Orthese unter Berücksichtigung biomechanischer Aufbaurichtlinien ermöglicht eine Beinorthese mit bedarfsgerechten Gelenksystemen und reduziert Anprobezeiten. Die kniesichernde Wirkung korrekt eingestellter, hochfunktionaler Systemknöchelgelenke gilt es bei der Auswahl möglicher Systemkniegelenke zu berücksichtigen.
Ein strategisches Arbeiten wird zukünftig aufgrund des Fachkräftemangels in der Branche immer wichtiger werden, um Arbeitszeiten effizient zu nutzen. Herstellungsprozesse werden durch neue Arbeitstechniken weiter vereinfacht. Innovative Gelenksysteme werden immer weniger die Physiologie des Patienten einschränken. Doch die sich maßgeblich auf die Funktionalität der Beinorthese auswirkende Planung des Orthesenaufbaus und die sorgfältige Auswahl geeigneter Gelenksysteme werden auch weiterhin eine wichtige Expertise des Orthopädietechnikers bleiben.
Interessenkonflikt:
Die Autoren sind Mitarbeiter des Unternehmens Fior & Gentz Gesellschaft für Entwicklung u. Vertrieb von orthopädietechnischen Systemen mbH.
Der Autor:
David Böhle B. Eng., Orthopädietechniker Technischer Support
Fior & Gentz Gesellschaft für Entwicklung u. Vertrieb von orthopädietechnischen Systemen mbH
Dorette-von-Stern-Straße 5
21337 Lüneburg
david.boehle@fior-gentz.de
Begutachteter Artikel/reviewed paper
Böhle D, Fior J, Gentz R. Systematisches Versorgungskonzept zur Mobilisierung von Patientinnen und Patienten mit neurologisch bedingten Gehstörungen mit Hilfe orthetischer Gelenke. Orthopädie Technik, 2020; 71 (9): 50–54
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