Gefördert wurde die von März bis Juni 2022 durchgeführte Studie „Qualität von Hilfsmitteln und Hilfsmittelversorgung“ von der Rehavital Gesundheitsservice GmbH, dem Medizintechnik-Industrieverband Spectaris sowie dem Pflegebettenhersteller Burmeier. Ausgangspunkt war eine Delphi-Befragung, die 2021 im Rahmen des Forschungsschwerpunktes Individualisierung in Gesundheit und Technik (InGeTec) erfolgte und Faktoren ermittelte, die Einfluss auf die Hilfsmittelqualität nehmen. Aufbauend darauf war es nun das Ziel, die Vielzahl dieser Faktoren hinsichtlich ihrer Relevanz und Priorisierung zu überprüfen und zu gewichten. Bislang sei zwar Marktforschung zum Thema betrieben, aber keine wissenschaftliche Studie durchgeführt worden, so Frank Keller, Business-Development-Manager Medizin- und Rehatechnik der Rehavital. Zeit das zu ändern: Denn so könne die bislang nur auf individuellen Erfahrungen und Einschätzungen beruhende Auffassung darüber, was Qualität ausmacht, anhand neutral ermittelter Zahlen letztlich auch bestätigt bzw. widerlegt werden. Und: „Wir können aus der Studie nicht nur ablesen, was die Qualität am Produkt, sondern auch was die Qualität in der Versorgung bedeutet. Das fällt bislang häufig hinten rüber.“
Individuelle Anpassung und Beratung
Zum Studiendesign: Ausgangspunkt waren die insgesamt rund 250 Kategorien der Delphi-Studie, die aus praktikablen Gründen und in Abstimmung mit den Kooperationspartnern auf um die 50 beschränkt wurden. Unter anderem über Kontakte von FH, Spectaris, Rehavital und Burmeier wurde ein Online-Fragebogen bundesweit an Leistungserbringer (darunter Hilfsmittelhersteller sowie Personen aus Medizin und Therapie), Kostenträger und Nutzer:innen verschickt – mit einer Rücklaufquote von knapp 20 Prozent (399 Bögen). Im Vergleich zur Gesamtgröße der Zielgruppen sei das nicht allzu viel, für einen ersten wissenschaftlichen Schritt dennoch ein gutes Ergebnis, so Alexander Stirner, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FH Bielefeld.
So überraschte es die Projektverantwortlichen auch nicht, dass die meisten Ergebnisse sie eben nicht überraschten. „Viele Kriterien sprechen dafür, dass eine Versorgung nach Schema F keiner guten Qualität entspricht. Es bedarf immer einer individuellen Anpassung, einer Beratung und Kontrolle“, beschreibt Stirner die Quintessenz. Mit überwiegender Mehrheit bewerteten die Teilnehmenden die Passgenauigkeit zwischen Individuum und Hilfsmittel als besonders relevant. Mit Blick auf das Produkt ebenfalls weit oben angesiedelt: eine hohe Verarbeitungsqualität sowie die Haltbarkeit des Hilfsmittels. Im Hinblick auf den Versorgungsprozess stachen die Kriterien Kommunikation und Kooperation hervor.
Betrachtet man die Akteure nicht in der Gesamtheit, sondern einzeln, zeigen sich teils deutliche Unterschiede in der Bewertung. „Da wir mit den Leistungserbringern und Nutzer:innen auf der einen Seite und den Kostenträgern auf der anderen Seite zwei Lager haben, ist es nicht verwunderlich, dass es z. B. immer dann eine Diskrepanz gab, wenn es um die Themen Finanzierung und Kostenerstattung ging“, so Stirner. Leistungserbringer und Nutzer:innen stuften diese Kriterien im Gegensatz zu den Kostenträgern als wesentlich bedeutsamer ein. „Compliance ist aus Sicht der Leistungserbringer sehr relevant, aus Sicht der Nutzer:innen weniger“, nennt Stirner ein weiteres Beispiel. Nuancen waren also meist eine Frage der Perspektive.
Nachhaltigkeit irrelevant?
Aufschlussreich ist nicht nur der Blick auf die besonders relevanten Kriterien, sondern auch auf jene, die für die Akteure wenig entscheidend für die Qualität der Versorgung sind. Nicht damit gerecht hat Stirner, dass Nachhaltigkeit dazu gehört, erklärt sich das Ergebnis aber so: Zykluswirtschaft, also der Austausch und die Revidierung von einzelnen Hilfsmittelteilen, findet in der Branche seiner Meinung nach statt. Dass solche Prozesse Nachhaltigkeit bedeuten, sei vielen Akteuren aber vielleicht gar nicht bewusst. Ihnen würden beispielsweise eher recyclebare Materialien vorschweben. „Ich bin überzeugt, dass Nachhaltigkeit je nach Altersklasse, die man betrachtet, eine andere Gewichtung hat“, betont Keller. Generationen, die darauf Wert legen, würden zum jetzigen Zeitpunkt noch keinen großen Teil der Hilfsmittelbedürftigen ausmachen. In einigen Jahren würde die Studie vermutlich anders ausfallen.
Obwohl das Thema derzeit „über allem“ schwebe – insbesondere im Bereich der Gesundheitsversorgung –, zählt auch der Datenschutz zum Schlusslicht. „Meine persönliche Erklärung: Es wird als Standard betrachtet, aber nicht als Kriterium dafür, was eine hohe oder niedrige Qualität ausmacht. Es entscheidet nicht darüber, ob sich die Nutzer:innen gut versorgt fühlen oder nicht“, so Stirner. Die Tatsache, dass der Datenschutz als Qualitätsmerkmal u. a. von Leistungserbringern weiter unten einsortiert wurde, könnte laut Keller auch darin begründet liegen, dass dieser im Arbeitsalltag der Mitarbeiter:innen Hürden aufbaut, wenn er von weiteren am Versorgungsprozess Beteiligten übererfüllt wird und Auflagen entstehen, die nicht erforderlich wären. Als Fallbeispiel aus der Praxis nennt Keller die Ablehnung eines beantragten Hilfsmittels durch den Kostenträger, der die Begründung der Ablehnung mit Hinweis auf den Datenschutz nicht an das Sanitätshaus herausgibt, sondern auf den Patienten verweist, der die Begründung anfordern könne.
Welche Schritte können nun aus den Ergebnissen abgeleitet werden? „Sie können hilfreich sein, wenn es darum geht, Versorgungswege mit Kostenträgern zu verhandeln“, ist Keller überzeugt. Die Studie zeige: Qualität bedeutet – sowohl aus Sicht der Patient:innen als auch aus Sicht der Versorger – keine Versorgung von der Stange. Sie müsse individuell auf die Patient:innen zugeschnitten werden können. Für Keller auch ein Appell an Bundesgesundheitsministerium und ‑regierung.
Stirner sieht in den Ergebnissen auch eine Grundlage für Folgestudien. Denkbar sei, in einem nächsten Schritt Produktgruppen oder einzelne Produkte aus dem Hilfsmittelverzeichnis in den Fokus zu nehmen, die spezifische Kriterien und Anforderungen mit sich bringen. Ein Produkt kommt Keller direkt in den Sinn: Einlagen. Der in der Vergangenheit heiß diskutierte Prozess der Online-Einlagenversorgung erscheine mit Blick auf die Studienergebnisse noch fragwürdiger, zeigen diese doch, dass für Qualität keine „pauschale 08/15-Online-Abfertigung“ ausreiche, sondern eine Kombination aus guter Versorgung, einfacher Zugänglichkeit und Handwerk vor Ort erforderlich sei.
Wie lässt sich Qualität in der Hilfsmittelversorgung abschließend definieren? Eine Formulierung in wenigen Sätzen fällt nicht leicht: „Sie ist ein komplexes Konstrukt, das von verschiedenen Perspektiven und Anforderungen geprägt ist“, versucht Stirner den Begriff zu umfassen. „Drei Schlagwörter scheinen in jedem Fall zum Qualitätsverständnis zu gehören: Individualität, Kommunikation/Kooperation und Finanzierung.“ Dem schließt sich Keller an und betont abschließend: „Die Erkenntnis darf und muss sein: Qualität muss im Mittelpunkt stehen, und zwar auf allen Seiten der am Prozess beteiligten Akteure.“
Die Studie „Qualität von Hilfsmitteln und Hilfsmittelversorgung” ist auf der Website der FH Bielefeld zu finden. Auch eine Zusammenfassung steht als Download zur Verfügung.
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