Einleitung
Mikroprozessorgesteuerte Kniegelenke wurden unter anderem entwickelt, um oberschenkelamputierten Menschen eine verbesserte Sicherheit gegenüber mechanischen Kniegelenken sowohl in der Stand- als auch in der Schwungphase zu gewährleisten. Um die Mobilität zu verbessern, sollen sich diese Gelenke an unterschiedliche Gehgeschwindigkeiten des Anwenders anpassen und das Gehen auf Schrägen und Treppen 1 2 3 ermöglichen. Weiterhin unterstützen sie den Amputierten beim Gehen auf unebenem Untergrund 1 2 3 4 und verringern den erhöhten Energieverbrauch 5. Um den unterschiedlichen Profilen und Ansprüchen von Oberschenkelamputierten gerecht zu werden, versuchen die verschiedenen Passteilhersteller die Kniegelenke so zu konstruieren, dass diese individuell an die Bedürfnisse der amputierten Menschen anpassbar sind.
Kahle et al. (2008) 1 sowie Hafner et al. (2007) 2 beschäftigten sich mit der Funktionsweise mikroprozessorgesteuerter Kniegelenke gegenüber mechanischen Kniegelenken. Sie betrachten vorrangig deren funktionellen Einfluss auf Oberschenkelamputierte und versuchen das Sicherheitspotenzial zu identifizieren. Dabei konnte eine objektive Verbesserung der Leistung wie zum Beispiel in der Schrittgeschwindigkeit, beim Treppabgehen oder in der Verringerung von Stürzen gemessen werden.
Die vorliegende Beobachtungsstudie soll zeigen, wie die Funktionsweise der Kniegelenke vom Anwender erlebt wird. Im Folgenden soll geklärt werden, inwieweit ein mikroprozessorgesteuertes Kniegelenk (Rheo Knee II) das Sicherheitsempfinden von Oberschenkelamputierten beeinflusst und in welchen Bereichen des Gehens eine Verbesserung empfunden wird. Diese Informationen können zukünftig zur Beantwortung der Frage beitragen, inwieweit die eingebauten Mechanismen jeweils eine Relevanz für die Verbesserung des Sicherheitsempfindens der Probanden aufweisen.
Studienbeschreibung
Für diese Untersuchung wurden über einen Zeitraum von 2 Jahren 100 Oberschenkelamputierte in Deutschland befragt, die von Orthopädie-Techniker-Meistern aus unterschiedlichen Sanitätshäusern im Rahmen einer Multi-Center-Studie ausgewählt wurden.
Voraussetzung für die Eignung der Probanden waren die Einteilung in die Mobilitätsklassen 2 bis 4 und ein Körpergewicht von nicht mehr als 125 kg. Ein weiteres Kriterium sollte sein, dass der durch die Vorversorgung ermöglichte Aktivitätsumfang des Probanden ebenso die Ausschöpfung des Funktionsumfangs des Rheo Knee II erwarten ließ. Dieser Funktionsumfang beinhaltet das alternierende Treppensteigen sowie das Gehen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und auf unebenem Untergrund. Auch kognitive Fähigkeiten wie die richtige Handhabung des Kniegelenks, das Laden des Akkus sowie die Einhaltung der Kontrolltermine und Service-Intervalle waren wesentliche Bestandteile der Eignungsanforderung.
Der Mobilitätsgrad sowie die Eignung wurden vom versorgenden Orthopädie-Techniker-Meister festgelegt. Voraussetzung war, dass dieser für den Einbau und die Überwachung der Versorgung mit dem Rheo Knee II der Firma Össur zertifiziert ist.
Sämtliche Probanden waren bereits zu Beginn der Untersuchung mit einer voll funktionsfähigen Definitivprothese versorgt. Für die Testversorgung wurde lediglich das Kniegelenk aus dieser Prothese mit einem Rheo Knee II getauscht und der Prothesenaufbau soweit möglich ohne die weitere Verwendung zusätzlicher Adapter angepasst. Die Schaft- und Fußsysteme wurden zur besseren Vergleichbarkeit beibehalten, Letztere bestanden in unterschiedlichen Komponenten aus dem Sortiment aller gängigen Hersteller.
Vor Beginn der Untersuchung wurden die Bestandteile der Prothese auf Funktion und Passform überprüft. Die Einhaltung der Aufbaurichtlinien des Herstellers wurde per Einbau und Einstellung des Rheo Knee II durch einen zertifizierten Meister sichergestellt und nach der Testwoche wiederholt überprüft. Im Rahmen der üblichen Praxis erfolgte eine anwenderspezifische Einweisung in die Funktionalität und Handhabung des Gelenks durch den versorgenden Orthopädie-Techniker-Meister. Sämtliche Probanden wurden über Risiken, Ziele und den Ablauf der Studie aufgeklärt und gaben ihr schriftliches Einverständnis.
Für den Zeitraum einer Woche testeten die Probanden die Probeversorgung mit dem Rheo Knee II. Innerhalb dieser Testwoche war ein normaler, alltäglicher Gebrauch der Probeversorgung ohne spezifische Leistungsanforderungen oder Vorgaben vorgesehen. Im Anschluss beantworteten die Probanden einen Fragebogen, der aus einem Anwenderdatenteil und einem Beurteilungsteil bestand. Die Anwenderdaten bezogen sich zum einen auf soziodemografische Daten wie Name, Alter, Wohnort und Geschlecht. Zum anderen wurden Daten über den körperlichen Zustand des Probanden wie Größe, Gewicht, Begleiterkrankungen, Mobilitätsgrad oder Amputationshöhe erhoben. Im Beurteilungsteil wurden die definitive Prothese und die Probeversorgung mit Hilfe eines Fragenkatalogs verglichen, wobei die Probanden das Laufen auf ebenem und unebenem Untergrund, in unterschiedlichen Geschwindigkeiten sowie auf Schrägen und Treppen bewerteten (Abb. 1). Als Antwortmöglichkeit stand ihnen dafür eine 5er-Antwortskala zur Verfügung (Abb. 2).
Mit Hilfe des Fragebogens sollen Beziehungen zwischen dem Anwenderprofil und einer möglichen Verbesserung des Laufempfindens ermittelt werden. Die Leithypothese „Mikroprozessorgesteuerte Kniegelenke verbessern das Sicherheitsempfinden des Anwenders“ wird im Rahmen der Auswertung überprüft.
Ergebnisse
Bevor die Fragestellung über das Sicherheitsempfinden der Anwender beantwortet wird, werden die wesentlichen Ergebnisse des Anwenderdatenteils vorgestellt. Von 259 möglichen Probanden füllten 100 sowohl den Anwenderdatenteil als auch den Beurteilungsteil aus. Die übrigen 159 möglichen Probanden mussten aufgrund unvollständig ausgefüllter Fragebögen von der Untersuchung ausgeschlossen werden. Somit konnten die Antworten von 100 Probanden für die Studie verwendet und ausgewertet werden. Von diesen klagten 44 über Schmerzen im Stumpf, 39 speziell über Phantomschmerzen; 36 Probanden gaben an, dass sie zu diesem Zeitpunkt keine Schmerzen hatten.
Bei einer Gegenüberstellung der verschiedenen Altersgruppen und des jeweiligen Mobilitätsgrads zeigte sich, dass die meisten Probanden einen Mobilitätsgrad von 3 oder höher hatten und sich entweder in der Altersgruppe von 30 bis 60 oder über 60 Jahre befanden (Tab. 1).
Als primäre Ursache der notwendig gewordenen Amputation gaben 45 Probanden ein erlittenes Trauma, 19 eine arterielle Verschlusskrankheit und 10 eine Tumorerkrankung an. Bei 3 Amputierten waren die Auswirkungen des Krankheitsbildes Diabetes mellitus der Grund des Beinverlustes, 14 Probanden gaben eine andere Ursache an.
Das Körpergewicht wurde in drei Kategorien eingeteilt: Von 100 Probanden befanden sich 30 Probanden in der Kategorie 50 bis 70 kg, 63 Probanden in der Kategorie 71 bis 100 kg, 6 Probanden in der Kategorie über 100 kg sowie ein Proband, der aufgrund fehlender Gewichtsangaben ohne Zuordnung zu einer Gewichtskategorie an der Studie teilnahm.
Beim Wechsel auf die Probeversorgung stiegen 41 Probanden von einem mechanischen und 26 Probanden von einem mikroprozessorgesteuerten Kniegelenk auf das Rheo Knee II um. Diese Angabe unbeantwortet ließen 33 Probanden (Abb. 3). Es waren 56 Probanden mit einem Vollkontaktschaft versorgt. Unabhängig von der Schaftform waren 42 Probanden mit einem Silikonliner versorgt.
Neben den objektiven Ergebnissen wurde das subjektive Empfinden der Probanden mit der Testversorgung eingeschätzt. Hierzu wurden konkrete Fragen zum Sicherheitsempfinden beantwortet (s. Abb. 1.). Auf die Frage „Wie sicher fühlen Sie sich mit der Testversorgung im Vergleich zu Ihrer vorhandenen Prothese?“ antworteten 63 Probanden in den Gewichtskategorien 50 bis 70 kg und 71 bis 100 kg, dass sie sich mit der Testversorgung sicherer fühlen (Tab. 2). Ein höheres Sicherheitsempfinden zeigte sich auch beim Gehen auf ebenem und unebenem Untergrund, auf Schrägen sowie beim Treppabgehen (Abb. 4).
In einem weiteren Schritt wurde die Beziehung zwischen dem Ergebnis der Frage 9 („Wie sicher fühlen Sie sich mit der Testversorgung?“) und den Ergebnissen der Fragen 1 bis 8 (s. Abb. 1) untersucht, die sich auf die unterschiedlichen Situationen des Gehens beziehen. Es konnte festgestellt werden, dass eine Beziehung zwischen den Ergebnissen dieser Fragen besteht: Das Sicherheitsempfinden wird positiv beeinflusst, wenn eine Verbesserung beim Treppabgehen, beim Gehen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und auf verschiedenen Untergründen erreicht werden kann.
Diskussion
Es ist festzustellen, dass die Amputationsursachen der Studienprobanden nicht die in Deutschland übliche Verteilung widerspiegeln. Des Weiteren weisen Studienteilnehmer höheren Alters nicht zwangsläufig einen niedrigeren Aktivitätsgrad auf.
In der Gewichtskategorie über 100 kg gab es nur wenige Probanden. Somit ist die Aussagekraft der Ergebnisse dieser Gewichtskategorie als gering zu bewerten. Die überwiegende Zahl der Amputierten hat sowohl eine uneinheitliche medizinische Indikation als auch einen voneinander abweichenden Lebensalltag. Die persönliche Einschätzung und das Verständnis für die Bewältigung von Schrägen, unebenem Untergrund und Treppengehen ist ebenfalls uneinheitlich.
Aus diesen Gründen ist die Vergleichbarkeit der Voraussetzungen der Probanden als eher gering zu bewerten. In dieser Studie steht jedoch das subjektive Empfinden von Sicherheit der jeweiligen Anwender im Vordergrund. Somit haben diese Faktoren nur einen geringfügigen Einfluss auf die Fragestellung.
Eine Herausforderung der Bewertung stellt das Fehlen der Angaben in Form unbeantworteter Fragen oder nicht ausgefüllter Fragebögen dar. Von ursprünglich 259 dieser Bögen konnten schließlich 100 zur Auswertung herangezogen werden. Die Rückmeldung zum Mobilitätsgrad blieb mit 30 fehlenden Antworten die am häufigsten unbeantwortete Frage. Daraus resultierend können mögliche Zusammenhänge in der Regressionsanalyse übersehen oder fehlinterpretiert werden.
Schlussfolgerung
Trotz dieser beeinflussenden Faktoren geben die Ergebnisse einen Hinweis darauf, dass eine Verbesserung des Laufens in verschiedenen Situationen wie zum Beispiel auf Schrägen, unebenem Untergrund und auf Treppen das Sicherheitsempfinden des Anwenders positiv beeinflusst.
Wenn diese Verbesserung von einem mikroprozessorgesteuerten Kniegelenk ausgeht, bestätigt sich die Ausgangshypothese, dass der Gebrauch dieser Kniegelenke das subjektive Sicherheitsempfinden von Oberschenkelamputierten verbessert.
Hinweis: Dieser Artikel gibt das Ergebnis einer Studie der Firma Össur wieder und wurde vom Autor im Rahmen eines Fachpraktikums erstellt.
Für die Autoren:
Thomas Habermann
Hubertusstraße 50, 10365 Berlin
thomashabermann@gmx.net
Habermann Th, Lechler K. Sicherheitsempfinden von Amputierten mit einem mikroprozessorgesteuertem Kniegelenk. Orthopädie Technik, 2015; 66 (11): 46–49
Altersgruppen | Gesamt | ||||
---|---|---|---|---|---|
unter 30 | 30 bis 60 | über 60 | Gesamt | ||
Mobilitätsgrad | 1 | 0 | 0 | 1 | 1 |
2 | 1 | 9 | 10 | 20 | |
3 | 1 | 15 | 12 | 28 | |
4 | 3 | 10 | 2 | 15 | |
Gesamt | 5 | 34 | 25 | 64 | |
Fehlende Daten | 36 |
Gewichtskategorie | Gesamt | ||||
---|---|---|---|---|---|
50–70 kg | 71–100 kg | über 100 kg | |||
9. Wie sicher fühlen Sie sich mit der Testversorgung | deutlich sicherer | 15 | 26 | 4 | 45 |
sicherer | 4 | 18 | 0 | 22 | |
kein Unterschied | 5 | 1 | 2 | 8 | |
unsicherer | 3 | 4 | 0 | 7 | |
deutlich unsicherer | 1 | 2 | 0 | 3 | |
Gesamt | 28 | 51 | 6 | 85 |
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- Hafner BJ, Willingham LL, Buell NC, Allyn KJ, Smith DG. Evaluation of function, performance, and preference as transfemoral amputees transition from mechanical to microprocessor control of the prosthetic knee. Arch Phys Med Rehabil, 2007; 88 (2): 207–217
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